Berichte

Neue Arzneimittel: Eine kritische Bewertung neu zugelassener Arzneistoffe

Einer jahrelangen Tradition folgend hat Prof. Dr. Hartmut Morck, Eschborn, auch in diesem Sommersemester im Rahmen des Pharmazeutischen Kolloquiums in Greifswald eine kritische Bewertung der in den letzten zwölf Monaten neu zugelassenen Arzneimittel an ausgewählten Beispielen vorgenommen.

Analgetika/Antirheumatika

Das rechtsdrehende S-Enantiomer des Ibuprofens, die pharmakologisch aktive Komponente, wurde unter dem Namen Dexibuprofen (Reminyl®) zur Behandlung von Schmerzen im Bewegungsapparat, bei aktivierter Arthrose und Dysmenorrhö zugelassen Der bewährte Arzneistoff Ibuprofen wurde bisher lediglich als Racemat eingesetzt, der Körper ist jedoch in der Lage, das pharmakologisch inaktive R-Enantiomer durch eine Isomerase nahezu vollständig in das wirksame S-Enantiomer zu überführen, was seit den 70er-Jahren bekannt ist.

Der Wirkungsmechanismus wie die Dosierung von Dexibuprofen entsprechen dem Ibuprofen, ebenso sind keine Vorteile bezüglich Verträglichkeit und Wirksamkeit festgestellt worden.

Antibiotika/Chemotherapeutika

Telithromycin (Ketek®) wurde Mitte Oktober 2001 als erster Vertreter der Klasse der Ketolide auf den Markt gebracht. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Substanz aber als ein halbsynthetisches Erythromycin-A-Derivat und damit als ein Makrolid, bei dem durch Einführung einer Ketogruppe in Position 3 des Lactonrings eine erhöhte Säurestabilität erreicht wird.

Zugelassen ist es zur Behandlung der leichten bis mittelschweren ambulant erworbenen Pneumonie, bei akuten Exazerbationen einer chronischen Bronchitis, bei akuter Sinusitis sowie Tonsillitis und Pharyngitis bei Erwachsenen, bei Pharyngitis auch für Kinder ab 12 Jahren. Empfindlich sind grampositive Keime.

Der Wirkungsmechanismus entspricht dem der Erythromycine: Telithromycin hemmt die Proteinbiosynthese durch Angriff am Ribosom. Es blockiert die ribosomale Translation durch Bindung an die Domänen V und II der 23S-Untereinheit der ribosomalen RNA. Außerdem kann es die Bildung der ribosomalen 50S- und der 30S-Untereinheiten blockieren. Aufgrund der zusätzlichen Bindungsstelle kann Telithromycin auch bei Penicillin- oder Erythromycin-A-resistenten Stämmen von Streptococcus pneumoniae eingesetzt werden.

Linezolid (Zyvoxid®) ist der erste Vertreter der Oxazolidinone. Der Wirkstoff wird angewandt bei Infektionen mit grampositiven Erregern, gramnegative Keime werden nicht erfasst. Er weist einen neuen Wirkungsmechanismus auf, da er die Proteinsynthese schon vor der Elongationsphase blockiert, in der zum Beispiel Makrolide, Tetracycline, Chloramphenicol oder Aminoglykoside angreifen.

Der Eingriff in die Proteinbiosynthese erfolgt also zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Besonders hervorzuheben ist die hundertprozentige Bioverfügbarkeit, die in der Praxis keine Umrechnung von intravenöser auf perorale Applikation erforderlich macht. Es handelt sich jedoch nicht um ein Antibiotikum der ersten Wahl, es sollte nur im Krankenhaus und bei Kenntnis der aktuellen Resistenzlage eingesetzt werden.

HIV-Therapeutika

Eine weitere Innovation ist Tenofovir (Viread®), ein Nucleotid-Analogon, das im Gegensatz zu den Nucleosid-Analoga bereits eine Phosphatgruppe im Molekül enthält, wodurch die bei Nucleosiden notwendige Umwandlung in ein Monophosphat entfällt. Nach Umwandlung in ein Triphosphat wirkt Tenofovir als Hemmstoff der reversen Transkriptase aufgrund seiner strukturellen Ähnlichkeit mit dem physiologischen Substrat Deoxyadenosin-triphosphat; nach Einbau in die DNA verursacht es einen Kettenabbruch.

Unter den Nucleosiden besteht eine partielle Kreuzresistenz, diese schließt bei den meisten Isolaten Tenofovir zwar nicht ein, es wurden jedoch auch Viren nachgewiesen, die gegen diese Substanz resistent waren.

Zytostatika

Bei Capecitabin (Xeloda®) handelt es sich um ein peroral applizierbares Zytostatikum zur Firstline-Therapie von metastasierten Dickdarmtumoren sowie von metastasierenden Mammakarzinomen (in Kombination mit Taxotere®). Capecitabin ist ein Prodrug, das nach der Resorption in drei Schritten zum zytotoxischen 5-Fluorouracil (5-FU) aktiviert wird. Den letzten Schritt katalysiert die Thymidinphosphorylase, die insbesondere in Tumorzellen in erhöhter Konzentration auftritt. Negativ ist ein gehäuftes Auftreten des Hand-Fuß-Syndroms zu werten, bei dem es zu starken Schmerzen, Geschwür- und Blasenbildung an Händen oder Füßen kommt.

Der zweite Vertreter peroral applizierbarer Prodrugs ist Tegafur (UFT®). Es ist mit Uracil im molaren Verhältnis von eins zu vier kombiniert. Zusätzlich ist die Gabe von Calciumfolinat erforderlich. Es handelt sich ebenfalls um ein Prodrug, aus dem in der Leber das aktive 5-FU gebildet wird. In den Tumorzellen entstehen weitere wirksame Metaboliten. Sie alle hemmen die DNA-Synthese und stören die RNA-Funktion. Das mitverabreichte Uracil wird enzymatisch schneller abgebaut als 5-FU, wodurch 5-FU länger wirken kann. Calciumfolinat verstärkt die Zytotoxizität von 5-FU. Die Indikation entspricht der des Capecitabin.

Seit August 2001 wird der humanisierte monoklonale Antikörper Alemtuzumab (MabCampath®) zur Therapie von Patienten mit chronischer lymphatischer Leukämie eingesetzt. Mit Alemtuzumab dürfen Patienten behandelt werden, die auf Alkylanzien und Fludarabin nicht mehr ansprechen.

Der rekombinant hergestellte Antikörper Alemtuzumab bindet spezifisch an CD52, ein Antigen, das auf der Oberfläche von leukämischen und gesunden Leukozyten lokalisiert ist. Der Antigen-Antikörper-Komplex löst sich auf und die entartete Blutzelle stirbt ab.

Die Behandlung geht jedoch teilweise mit drastischen Nebenwirkungen einher, da der Antikörper nicht nur entartete, sondern auch gesunde Leukozyten eliminiert. Alemtuzumab wirkt somit hochgradig immunsupprimierend. Trotz dieser Nebenwirkungen eröffnet die Therapie neue Möglichkeiten, insbesondere, wenn die andere Pharmaka nicht erfolgreich waren.

Bei Patienten mit altersbedingter Makuladegeneration hat sich die photodynamische Therapie bewährt. Eine neue Substanz für dieses Behandlungsverfahren ist Temoporfin (Foscan®), die auch für die palliative Behandlung von Patienten mit vorangeschrittenem Plattenepithelkarzinom im Kopf- und Halsbereich zur Verfügung steht, wenn andere Therapien ungeeignet sind.

Es handelt sich um einen Wirkstoff mit Porphyringrundgerüst. 96 Stunden nach Applikation wird mit Licht der Wellenlänge 652 nm bestrahlt; dadurch entstehen im Tumor reaktive Sauerstoff-Moleküle (Singulett-Sauerstoff), die den Untergang des Tumorgewebes herbeiführen. Eine direkte Lichteinwirkung führt bei den betroffenen Patienten zu Irritationen der Haut und Augen.

Mit dem synthetischen Retinoid Bexaroten (Targretin®) können Hautmanifestationen bei Patienten mit kutanem T-Zell-Lymphom behandelt werden. Der Wirkungsmechanismus ist noch nicht vollständig aufgeklärt, man vermutet jedoch eine Hemmung intrazellulärer Transkriptionsfaktoren.

Innerhalb von nur drei Monaten hat die europäische Zulassungsbehörde EMEA den Antrag auf Zulassung des neuen Tyrosinkinaseinhibitors Imatinib (Glivec®) bearbeitet. Die Substanz ist in der EU zur Therapie von Patienten mit chronisch myeloischer Leukämie (CML) in der Blastenkrise oder in fortgeschrittenen Stadien der Krankheit zugelassen.

Der Arzneistoff darf Patienten nur verabreicht werden, wenn sie auf Interferon-alfa; nicht mehr ansprechen. Die meisten Patienten haben im Erbgut ein Philadelphia-Chromosom, das durch Austausch der Enden von Chromosom 22 und 9 entsteht. Folge des Austauschs ist eine Tyrosinkinaseaktivität deutlich erhöht, wodurch wiederum die Zellteilung angekurbelt und die Apoptose unterdrückt wird.

Imatinib blockiert neben der Tyrosinkinase auch den PDGF-Rezeptor (Platelet Derived Growth Factor Receptor) und ein weiteres Enzym. Die gezielte Unterbrechung der Informationsübermittlung in den Zellkern führt zur Apoptose.

Nach Absetzen der Therapie tritt die Erkrankung bei der Mehrzahl der Patienten wieder auf. Die Lebensverlängerung eines Patienten in der Blastenkrise beträgt nach bisherigen Erkenntnissen lediglich einen Monat; Ursache dafür sind die in dieser Phase der Erkrankung rasch auftretenden Resistenzen gegen den Wirkstoff.

Da nach derzeitigem Wissensstand die einzige Möglichkeit, eine CML zu heilen, die Transplantation von Blutstammzellen ist, erhöht jedoch auch ein kleiner Zeitgewinn die Chance, einen geeigneten Spender zu finden.

Immunmodulatoren

Deutschland hat sieben Jahre lang auf die Zulassung des Immunmodulators Glatirameracetat (Copaxone®) gewartet. Bislang musste die Substanz nach ärztlicher Verordnung aus dem Ausland (z. B. Schweiz, Kanada, Russland, Australien, USA) importiert werden. Seit November 2001 ist sie zur Reduktion der Schubfrequenz bei Patienten mit schubförmig remittierender Multipler Sklerose zugelassen.

Es handelt sich um ein Gemisch aus hydrophilen Polypeptiden, die aus den L-Aminosäuren Glutamin (14%), Lysin (34%), Alanin (43%) und Tyrosin (9%) synthetisiert werden (die Anfangsbuchstaben der Aminosäuren führten zur Namengebung Glat...). Da die Substanz nach dem Zufallsprinzip polymerisiert wird, muss die Wirksamkeit jeder Charge im Tierversuch überprüft werden.

Der Wirkungsmechanismus von Glatirameracetat konnte noch nicht aufgeklärt werden. Die Wirksamkeit wurde bisher in drei Studien untersucht. Es wurde hier eine signifikante Reduktion der Schubzahl festgestellt, allerdings konnte bisher kein günstiger Einfluss auf die Progression gezeigt werden. Weiterhin fehlen Studien, die Glatirameracetat mit den Interferonen vergleichen.

Urologika

Die Vorstellung einer alt bekannten Substanz, die in keiner Apotheke fehlen darf, das Emetikum Apomorphin, schloss den Vortrag ab. Es handelt sich um einen Dopamin-Agonisten, der nun als Potenzmittel (Ixense®) in Form von Sublingualtabletten bei erektiler Dysfunktion sein Comeback feiert.

Wichtig ist, im Patientengespräch zu klären, so Morck, dass die Sublingualtablette auf keinen Fall geschluckt werden darf, da es sonst zum Erbrechen kommen kann. Anders als bei Sildenafil besteht keine Wechselwirkung mit Nitraten. Männer sollten eine Tablette etwa 20 Minuten vor dem Geschlechtsverkehr unter die Zunge legen, denn die Erektion tritt im Durchschnitt nach 18 bis 19 Minuten ein.

Mit diesem vorprogrammierten "Kassenschlager" beendete Professor Morck seine Ausführungen, die, wie schon in den Jahren zuvor, das Publikum begeisterten.

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