Eine vertiefte Analyse zu den Lauterbach-Plänen

Große Gefahren und einige Ideen für künftige Debatten

Stuttgart - 06.11.2023, 07:00 Uhr

Nach den Lauterbach-Plänen soll die Bündelung des Notdienstes in Hauptapotheken weitere Vorteile bringen, was allerdings nicht einleuchtet, weil die Belastung nur verschoben würde. Foto: Adobe Stock/Dan Race

Nach den Lauterbach-Plänen soll die Bündelung des Notdienstes in Hauptapotheken weitere Vorteile bringen, was allerdings nicht einleuchtet, weil die Belastung nur verschoben würde. Foto: Adobe Stock/Dan Race


Wo liegen die Gefahren in den Plänen des Bundesgesundheitsministers für die Apotheken? Welche ökonomischen Hintergründe müssen dabei beachtet werden? Gibt es trotz der zerstörerischen Effekte Ansätze für hilfreiche Maßnahmen? Die aus Apothekersicht naheliegenden Probleme in den Plänen wurden bereits dargelegt. Hier folgt eine vertiefte Analyse, die weitere Schwierigkeiten zeigt, aber auch Ideen für positive Wendungen bietet.

In einer ersten Betrachtung hat der Verfasser das zentrale Problem in den Plänen des Bundesgesundheitsministers beschrieben (DAZ 2023, Nr. 40, S. 58 ff.): Sie zielen auf die Gründung zusätzlicher Filialen mit eingeschränkten Anforderungen, aber die entscheidende Aufgabe ist die Sicherung der bestehenden Apotheken.

Schließungen als zentrale Herausforderung

Denn die Apothekenzahl sank bis 2021 jährlich „mehr oder weniger“ um 300, aber seit 2022 nimmt sie mit zunehmender Geschwindigkeit ab. Sie sank 2022 um 393 und im ersten Halbjahr 2023 bereits um 238. Die ABDA erwartet für 2024 insgesamt etwa 600 „Schließungen“, wobei die Abgrenzung zum Rückgang der Apothekenzahl nicht immer deutlich ist. Wesentlich ist, dass Apotheken langsam sterben. Auch wenn eine Apotheke nicht mehr rentabel ist, muss das Ende des Mietvertrags abgewartet werden, um einen noch größeren Verlust zu vermeiden. Wegen der persönlichen Haftung kann keine Insolvenz forciert werden. Darum wird die Inflation langfristig zu noch viel mehr Schließungen führen, und darum steigt die Zahl der Schließungen nun mit zunehmender Geschwindigkeit. Eine solche Entwicklung lässt sich nicht aus früheren Rückgängen hochrechnen, sondern nur anhand der Wirtschaftsdaten abschätzen. Offenbar sind die bisherigen Schließungen die sprichwörtliche Spitze eines Eisberges unbekannter Größe – mit unkalkulierbaren Folgen für die Versorgung. Doch die Pläne Lauterbachs gehen daran vorbei. Wer die falsche Frage stellt, kann keine richtige Antwort erhalten. Die Pläne könnten also allein schon verworfen werden, weil sie das falsche Ziel adressieren. Doch auch Nebenaspekte verdienen Beachtung. Dabei zeigt sich, dass mehrere Aspekte der Pläne viel schaden und wenig nutzen würden. Doch es sind auch Wege zu Kompromissen zu finden, die zu einer Agenda für die anstehende politische Debatte werden könnten.

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Systemverträglichkeit als Voraussetzung

Alle Maßnahmen müssen auf ihre Systemverträglichkeit geprüft werden. Da Lauterbach ausdrücklich am Fremdbesitzverbot festhalten möchte und das bewährte System lobt, darf unterstellt werden, dass er dieses System erhalten möchte. Dennoch laufen seine Vorschläge auf eine Zerstörung des Systems hinaus, wie bereits vielfach dargestellt wurde. Zugleich stellt er seine Vorschläge als Flexibilisierung im Interesse der Apotheken dar und große Teile der Öffentlichkeit verstehen dies auch so. Die Probleme liegen in den komplexen Wechselwirkungen innerhalb des Systems. Dieses stützt sich insbesondere auf die gemeinsamen gleichen Pflichten aller Apotheken. Das Apothekenrecht zielt großenteils darauf, dieses System zu sichern, das letztlich den Patienten dient. Einzelne Abweichungen können das Ganze gefährden. Doch das System kann an neue Anforderungen angepasst werden, wenn dabei stets geprüft wird, ob die geplante Änderung die Versorgung belastet und ob sie zu Fehlanreizen führt, die das System untergraben.

Kosten in der Rezeptur …

Ein wesentlicher Aspekt in den Plänen sind die Kosteneinsparungen durch den Wegfall von Labor und Rezeptur in „Apotheken light“. Aus dem Blickwinkel einer entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre lassen sich vier Kostenblöcke für die Rezeptur unterscheiden:

1. Kosten für den Ausbau des Labor- und des Rezepturraumes und die Ausstattung mit Möbeln und Geräten sowie laufende Raumkosten für Miete, Energie und Reinigung,

2. Kosten für die Aufrechterhaltung der Betriebsbereitschaft von Labor und Rezeptur,

3. Kosten für die Prüfung der zu verarbeitenden Ausgangsstoffe und

4. Kosten für die eigentliche Herstellungstätigkeit.

… für die Ausstattung …

Die erste Position umfasst in den ersten Betriebsjahren einer neu eingerichteten Apotheke jeweils Abschreibungen in einer fünfstelligen Größenordnung. Bei lange bestehenden Apotheken stehen dort nur Kosten für den Ersatz von Geräten. Die laufenden Raumkosten können bei hohen Mieten ebenfalls sehr hoch sein, aber sie würden in bestehenden Apotheken nicht entfallen, wenn die Räume nicht mehr erforderlich wären. Eine andere Kalkulation ergäbe sich, wenn die Räume für einen neuen Zweck verwendet würden. Dies müsste in die Bewertung der neuen Verwendung einfließen und wäre ein anderes Thema. Für die hier relevante Frage stellt die erste Position in bestehenden Apotheken „sunk costs“ dar, das heißt sie können nicht mehr beeinflusst werden. Sofern die Ausstattung nicht bereits abgeschrieben ist, entstünde bei einer Einstellung der Rezepturtätigkeit sogar eine zusätzliche Belastung durch die außerplanmäßige Abschreibung für nicht mehr nutzbare Geräte. Denn der Secondhand-Markt würde zusammenbrechen, wenn gleichzeitig viele Apotheken ihre Herstellungstätigkeit aufgeben. Neu zu bauende „Apotheken light“ könnten hingegen die erheblichen Kosten des ersten Kostenblocks sparen. Dies passt zu einem Plan, der auf neue Abgabestellen zielt, und dies bekräftigt, dass der Plan an den Problemen bestehender Apotheken vorbeigeht.

… und den laufenden Betrieb

Die zweite Kostenposition würde in allen Apotheken, die auf die Herstellung verzichten, gleichermaßen eingespart. Dabei geht es allerdings nur um wenige Arbeitsstunden pro Woche, also um einen im Vergleich zur ersten Position sehr geringen Betrag.

Die Höhe der dritten und vierten Kostenposition hängt vom Umfang der Herstellungstätigkeit ab. Diese Kosten werden jedoch nur im Verbund verschoben. Hier sind allerdings Einsparungen möglich, wenn die Herstellungstätigkeit eines Verbundes in einer Apotheke gebündelt wird. Dann lohnt sich die Anschaffung aufwendiger Geräte, die schnelleres Arbeiten ermöglichen, und die Arbeit kann besser organisiert werden. Dies betrifft auch die Prüfung der Ausgangsstoffe. Der weitaus größte Teil dieses Einsparpotenzials lässt sich allerdings bereits jetzt ohne die neuen Pläne realisieren. Denn Verbünde dürfen die Herstellung in einer Apotheke bündeln (vgl. Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 21. Februar 2017, Az.: 13 LA 187/16). Davon unberührt bleibt die Pflicht zur unverzüglichen Belieferung. Bei einer hinreichend geringen Entfernung zur primär herstellenden Apotheke reicht es aus, wenn in der betrachteten Apotheke eine Rezeptur aufrechterhalten wird, die in besonders eiligen Einzelfällen, bei „Kleinigkeiten“ oder im Notdienst zum Einsatz kommt. Der größte Teil der potenziellen Einsparung ist damit realisierbar, ohne die dezentrale Infrastruktur aufzugeben. In Fällen, in denen die ausreichende Geschwindigkeit der Belieferung strittig ist, könnte eine gesetzliche Klarstellung für Rechtssicherheit sorgen, aber mehr ist hier nicht zu erreichen.

Rezeptur: Kaum Sparpotenzial für bestehende Apotheken

Ein Dispens von der Pflicht zur Vorhaltung der Rezeptur­ausstattung und von der grundsätzlichen Pflicht zur Herstellung ist dagegen aus ökonomischen Gründen nicht nötig und aus Versorgungsgründen auch nicht sinnvoll. Denn im Gegenzug für die verbleibenden Vorhaltekosten behält die Gesellschaft die dezentralen Herstellungsmöglichkeiten, die auch in der Pandemie Versorgungssicherheit geboten haben. So kann auch die Qualifikation des Personals erhalten bleiben, und es muss nicht befürchtet werden, dass künftig ein Zwei-Klassen-System von Apothekenpersonal mit und ohne Herstellungskompetenz entsteht.

Notdienst: Spezielle Sorgen einiger Verbünde

Weitere Vorteile soll angeblich die Bündelung des Notdienstes in Hauptapotheken bringen, was allerdings nicht einleuchtet, weil die Belastung nur verschoben würde. Allerdings hat Minister Lauterbach beim Deutschen Apothekertag erklärt, er habe mit einzelnen Apothekern gesprochen. Möglicherweise hat er die Belange der Verbundinhaber aufgegriffen, die ihren Notdienst nicht in einer Apotheke zentralisieren dürfen, obwohl die Apotheken nahe beieinander liegen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte dies bereits 2011 entschieden. Auch nach der Novelle der Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) folgten die Gerichte dieser Linie, insbesondere der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (vgl. Beschluss vom 17. Juli 2020, Az.: 22 ZB 20.1035). Demnach sind zwar Verlagerungen in Einzelfällen möglich, aber nicht generell. Auch die Nähe zur Bereitschaftspraxis wurde nicht als Argument anerkannt, weil es im Notdienst auch viele Kunden ohne Rezept gibt.

Wenn dies der Ausgangspunkt für die Überlegung von Lauterbach ist, erscheint sein Ansatz zwar plausibel, aber seine Pläne gehen viel zu weit. Plakativ gesagt, schüttet Lauterbach das Kind mit dem Bade aus. Die Argumente der Gerichte in den obigen Entscheidungen sind prinzipiell hilfreich, um die Struktur des Apothekensystems zu stützen, aber es ist zu fragen, wie hier die Versorgung beeinträchtigt werden soll, wenn die Notdienste nur in engen Grenzen verlagert werden. Denn ob ein Patient einen Kilometer nach rechts oder nach links gehen muss, ist egal. Wenn Patienten einer Bereitschaftspraxis vom Dienst einer nahegelegenen Apotheke profitieren, bedeutet das auch nicht, dass Selbstmedikationspatienten deshalb einen Nachteil hätten. Denn Bereitschaftspraxen liegen meist an gut erreichbaren Orten. Hier ließe sich auch ganz anders argumentieren, dass zwei Apotheken, die einander im Notdienst turnusmäßig abwechseln, austauschbar sind, weil es für einen einzelnen Patienten ohnehin vom Zufall abhängt, welche Apotheke Dienst hat. Diese Austauschbarkeit ist die Grundlage für das Notdienstsystem. Das berufspolitische Dogma, alle Apotheken gleichzubehandeln, ist hier für die Patienten irrelevant, und es sind auch keine Fehlanreize erkennbar, die das System gefährden könnten. Die Verlagerung würde den anderen Apotheken nicht schaden. Wenn seitens der Verbünde ein solches Interesse besteht, erscheint eine neue Regelung denkbar, die eine Notdienstverlagerung zulässt, wenn sich beide Apotheken sonst im Notdienst abwechseln. Bei Notdienstkreisen, in denen jeweils nur eine Apotheke Notdienst hat, wäre dies ein eindeutiges Kriterium. In Kammerbezirken ohne Notdienstkreise wäre außerhalb von Städten eine vergleichbare Entfernung anzusetzen. In Großstädten, in denen stets Apotheken in mehreren Stadtteilen Notdienst haben, kann es erforderlich sein, die Verlagerung auf einen Teil des Stadtgebietes zu begrenzen. Allerdings müsste die Verlagerung bereits bei der Verteilung der Notdienste berücksichtigt werden, um eine möglichst gleichmäßige Verteilung über die Fläche zu erreichen. Eine solche Regelung könnte die von Lauterbach angekündigte Flexibilität für die Apotheken bringen.

Gefahr für das Notdienstsystem

Doch der von ihm dargestellte Plan geht weit darüber hinaus. Wenn die Notdienste eines Verbundes generell in der Hauptapotheke gebündelt würden, könnte auch eine Apotheke in einer Großstadt den Dienst für eine Filiale in einem Dorf in einer Entfernung von 40 Kilometern oder mehr versehen. Denn gemäß § 2 Abs. 4 Apothekengesetz (ApoG) kann die Filiale auch in einem Kreis liegen, der dem Kreis der Hauptapotheke benachbart ist (gemeint sind hier Gebietskörperschaften, nicht Notdienstkreise). Diese Regel orientiert sich nicht am Notdienst, weil eine Verlagerung der Dienste nicht vorgesehen war. Bei der obigen Konstellation könnte gerade in einem Gebiet mit geringer Apothekendichte eine Apotheke für den Notdienst fehlen. Es gäbe sogar einen Anreiz, die Notdienste aus strukturschwachen Räumen in eine Großstadtapotheke zu verlagern, die möglicherweise abends ohnehin lange geöffnet hat. Der ländliche Notdienst würde sich dann auf noch weniger Schultern verteilen. Das würde die anderen Apotheken und vor allem die Patienten belasten.

Entscheidende Zielgröße: Zahl der Notdienste

Falls die obige These zur Motivation des Ministers zutrifft, erscheint es erstaunlich, dass er so gezielt die Bedürfnisse einzelner Verbundinhaber aufgreift. Denn die skizzierte Neuregelung würde nur einigen Verbünden helfen, aber nicht das grundsätzliche Problem der Belastung durch Notdienste lösen. Denn dieses liegt in der Zahl der Dienste. Um die Apotheken zu stärken, müssen darum alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, diese Zahl durch eine geschicktere Verteilung zu verringern. Dafür hat sich die geodatenbasierte Verteilung bewährt. Dabei wird keine Notdienstkapazität vergeudet, indem nahe beieinander liegende Apotheken in verschiedenen Notdienstkreisen gleichzeitig Dienst haben, sondern die Dienste werden möglichst gleichmäßig über den ganzen Kammerbezirk verteilt. Die Grundidee ist, das knappe Gut Notdienstapotheke möglichst effektiv zu nutzen und so die Apotheken zu schonen, ohne die Patienten zu belasten. Der Effekt hängt von den vorgegebenen Parametern ab. Dabei kann die maximale Zahl der Notdienste pro Apotheke und die maximale Entfernung zur nächsten Notdienstapotheke begrenzt werden.

 

Diese Steuerungsmöglichkeit wird beispielsweise in Schleswig-Holstein sehr bewusst und transparent eingesetzt. Fünf Jahre nach Einführung des Systems war dort die Apothekenzahl so stark gesunken, dass einige Apotheken mehr als 50 Notdienste pro Jahr leisten mussten. Daraufhin wurde die Zahl der Notdienste ab 2021 auf 39 pro Apotheke und Jahr begrenzt und zugelassen, dass in dünn besiedelten Gebieten die vorherige Maximalentfernung von 38 Kilometern zur nächsten Apotheke an einzelnen Tagen geringfügig überschritten werden darf. Dazu wurde erläutert, dass dies ohnehin nur wenige Gebiete, insbesondere im Kreis Nordfriesland betrifft. Auch in ländlich geprägten Regionen anderer Bundesländer gibt es solche Entfernungen zur Notdienstapotheke. Allerdings fallen dabei Unterschiede zwischen den Bundesländern auf. Gemäß einer Berechnung des Verfassers anhand der Notdienstinformationen von apotheken.de versahen im März 2022 etwa 12,9 Prozent der Apotheken in Bayern, aber nur etwa 4,5 Prozent der Apotheken in Schleswig-Holstein jeweils vier oder mehr Notdienste. Ein Hintergrund dafür kann in Gerichtsentscheidungen aus den 1980er-Jahren liegen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte 1989 auf der Grundlage einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes von 1985 entschieden, bei einer beträchtlichen Arbeitsbelastung für die Apotheke könne eine Entfernung vom Patienten zur nächsten dienstbereiten Apotheke von erheblich mehr als sieben Kilometern und ein Zeitaufwand von mehr als einer Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln noch im Bereich der zulässigen Ermessensausübung liegen. Im konkreten Fall wurde aber eine Entfernung von 15 Kilometern als unzumutbar betrachtet (vgl. Urteil vom 14. Dezember 1989, Az.: 3 C 30.87).

Doch in ländlichen Regionen sind die Apotheken vielfach zehn oder mehr Kilometer voneinander entfernt. Es erscheint lebensfremd, Notdienste in gleicher Dichte wie die normale Versorgung anzubieten. Das würde zu einer dauernden Dienstbereitschaft führen. Die Urteile wirken aus der Zeit gefallen, denn inzwischen wurde der ärztliche Notdienst zentralisiert und es muss als selbstverständlich betrachtet werden, dass Notdienste mit einem PKW angefahren werden, weil im ländlichen Raum abends und am Wochenende vielfach kein öffentlicher Nahverkehr existiert. Doch offenbar prägen die alten Entfernungsvorgaben mancherorts noch die Notdiensteinteilungen. Hier könnte eine gesetzliche Regelung neue Freiräume und Rechtssicherheit schaffen. Da die Entwicklung der Apothekenzahl nicht absehbar ist, sollte vorzugsweise der Regelungsspielraum der Kammern erweitert werden, damit diese sich nicht mehr durch unrealistische Vorgaben aus jahrzehntealten Urteilen gebunden sehen. Hier erscheint eine Flexibilisierung konzeptionell durchaus angebracht, um das System zukunftsfähig zu machen, ohne es durch Fehlanreize zu untergraben.

Rechtssicherheit für Notdienstverteilung hilfreich

Sollte die Belastung der Apotheken trotzdem zu hoch werden, bieten sich Teildienste bei einer weiter verminderten Zahl von Vollnotdiensten an. Denn alle bekannten Erfahrungen zeigen, dass die Notdienste abends weit mehr als mitten in der Nacht in Anspruch genommen werden. In vielen Arztpraxen werden abends Patienten behandelt, die nach dem theoretischen Ende der Sprechzeit im Wartezimmer sitzen. Diese reguläre Versorgung fällt gemäß den Öffnungszeiten vieler Apotheken dort in den Notdienst. Wenn solche Fälle in einem dichteren Netz von Teildiensten versorgt würden, könnten an die Verteilung der Nachtdienste andere Maßstäbe angelegt werden. Dazu würde auch ein spezielles Honorar für Teildienste aus dem Notdienstfonds gehören. Ob noch weitergehende Änderungen des Notdienstes nötig werden, wird insbesondere davon abhängen, wie sich die Apothekendichte langfristig entwickelt.

Keine Apotheke ohne Apotheker

Weitere Pläne des Gesundheitsministers sehen vor, dass „Apotheken light“ von einer PTA betrieben werden können, wenn ein Apotheker online aus einer Hauptapotheke zugeschaltet werden kann. Es wurde bereits herausgearbeitet, dass dies das System erschüttern und zu zerstörerischen Fehlanreizen führen würde. Die Online-Funktion kann theoretisch auf zweierlei Weise organisiert werden. Wenn in der Hauptapotheke mehrere Apotheker gleichzeitig tätig sind, würde einer die Filiale betreuen, könnte das aber auch dort persönlich tun. So wäre nichts zu gewinnen. Wenn in der Hauptapotheke jedoch nur ein Apotheker anwesend ist, könnte dieser sich nicht gleichzeitig in der gewohnten Weise um zwei oder sogar mehr Apotheken kümmern. Dann würde die „normale“ Arbeit komplett von PTA ohne Aufsicht erledigt, die sich nur melden, wenn sie Hilfe brauchen. Das ergäbe eine ganz andere Definition der Aufsicht, würde neue Fragen zur Haftung aufwerfen und wäre sicher eine Qualitätseinbuße. Alle unterschwelligen Formen der Aufsicht würden wegfallen, Blickkontakte, subtile Rückversicherungen durch ein Kopfnicken und das Fingerspitzengefühl, an einer bestimmten Stelle eingreifen zu müssen, gäbe es nicht mehr, und für PTA würde die Hemmschwelle für eine Rückfrage steigen, wenn dafür erst eine Online-Verbindung aufgebaut werden muss. Damit geht die Idee an der Apothekenrealität vorbei. Außerdem würden „Apotheken light“ als Ausbildungsstätten verloren gehen – und das beim größten Fachkräftemangel.

Im Ergebnis würden Apotheker durch PTA substituiert. Es ist zu fragen, wo hinreichend viele PTA herkommen sollen. Allerdings wäre es für den Staat billiger, zusätzliche PTA auszubilden, als weitere Studienplätze für Pharmazie zu schaffen. Sofern genügend PTA verfügbar sind, entstünde der Fehlanreiz für die Apothekeninhaber, vorhandene Apotheken in „Apotheken light“ umzuwandeln. Dies würde unmittelbar zu Einsparungen führen. Die Gründung neuer „Apotheken light“ würde hingegen zunächst Geld kosten. Der viel stärkere Anreiz führt also zur Umwandlung – und dies mit einem Trend zur Beschleunigung. Denn wenn einzelne Verbünde so handeln und dadurch beispielsweise OTC-Arzneimittel günstiger anbieten können, bliebe anderen kaum eine Alternative. Die geplante Ausweitung auf bis zu fünf oder sechs Apotheken im Verbund würde dies verschärfen. Dann würden sich voraussichtlich bisherige Einzelapotheken zu Verbünden in der Rechtsform einer OHG zusammenschließen, wobei nur einer dieser Betriebe als Vollapotheke bestehen bliebe. Es entstünde eine Abwärtsspirale. Das „race to the bottom“ würde wohl erst enden, wenn alle Apotheken in Verbünden mit der maxi­malen Zahl von Filialen organisiert wären. Die Leistungskürzung ist offensichtlich.

Es erscheint ohnehin nicht angebracht, die zulässige Verbundgröße auf mehr als vier Apotheken zu erhöhen. Denn sie wird nur in 348 Verbünden (Stand Ende Juni 2023) ausgeschöpft. Dies zeigt erneut, dass der Minister einen Plan für zusätzliche Apotheken im Visier hat, aber nicht die Stärkung bestehender Apotheken. Möglicherweise hat er auch hier auf die speziellen Interessen einzelner Verbundinhaber gehört, die vier Apotheken betreiben und ihre Verbünde erweitern möchten. Zusätzliche Folgeprobleme, aber vor allem alternative Ideen zur Stärkung der Apotheken werden demnächst in einem weiteren Beitrag vorgestellt.


Dr. Thomas Müller-Bohn (tmb), Apotheker und Dipl.-Kaufmann
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Interessant

von Karl Friedrich Müller am 06.11.2023 um 13:47 Uhr

Solche Studien finde ich sehr interessant. Auch zum 2hm Gutachten gab es, vom gleichen Autor glaube ich, eine Analyse.
Es wäre halt schön, wenn die Politik, ABDA und andere mit der Situation Befasste davon Kenntnis nehmen würden. Und entsprechend handeln würden.

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