Der Frust kommt auf die Straße

„Lauterbach soll sich gern mal zehn Stunden in eine Apotheke stellen“

Erfurt - 15.12.2022, 16:45 Uhr

In Erfurt gingen auch die Apothekenteams auf die Straße. (s / Foto: Anja Köhler)

In Erfurt gingen auch die Apothekenteams auf die Straße. (s / Foto: Anja Köhler)


Der Druck auf die Politik wächst: In Thüringen haben knapp 700 Apotheker:innen, Ärzt:innen, Zahnärzt:innen, und Psychotherapeut:innen vor dem Landtag protestiert. Für die anwesenden Landespolitiker:innen gab es Buhrufe.  

„Mich ärgert die gesamte Liefersituation“, sagt Pharmazieingenieurin Heike Hötzel aus Gotha im Gespräch mit der DAZ am Mittwoch. Sie ist eine von zahlreichen Apothekenmitarbeitenden, die in Erfurt ihren Frust lautstark kundtun. Man vergeude in den Apotheken momentan viel Zeit, mit Patienten zu diskutieren „was es gibt und was es nicht gibt“ und damit, Ärzten hinterherzutelefonieren und Faxe zu senden. „Das ist Frust auf der ganzen Linie.“ 

Hötzel sei froh, wenn sie ohne blaues Auge nach Hause komme. Zuletzt habe es solche Umstände zu DDR-Zeiten gegeben. Ihr Wunsch an Bundesgesundheitsminister Lauterbach? „Er soll sich gern mal zehn Stunden in eine Apotheke stellen.“ Stefan Fink, Vorsitzender des Thüringer Landesapothekerverbands und seit 30 Jahren Apotheker in Weimar, zeigt sich indes „entsetzt“ über die Entwicklungen in der Gesundheitspolitik. Sparzwänge, zunehmende Belastungen und Bürokratieauflagen machten die Versorgung der Patient:innen immer schwieriger. Fink spricht von einer „Bürokratieorgie, die kein Ende nimmt“. Das könne so nicht weitergehen.

Bereits vergangene Woche waren knapp 300 Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen und Medizinische Fachangestellte in Potsdam auf der Straße, diese Woche wiederholte sich das Szenario in Erfurt. Hier protestierten am Mittwochnachmittag laut Polizei knapp 700 Teilnehmende gegen die aktuelle Gesundheitspolitik. Beide Veranstaltungen hatten die Berufsverbände organisiert, beide Male waren die Landtage Ort des Geschehens. 

Apotheken protestieren gegen erhöhten Kassenabschlag

In Thüringen schlossen sich Zahnärzt:innen und Apotheker:innen den Protesten an. Auch sie treibt der Sparkurs der Bundesregierung um. Auf einem Flyer beklagen die Apotheker:innen, keine Kostentreiber zu sein. Ihr Anteil an den Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sinke seit Jahren, seit 2013 habe es keinen Inflationsausgleich gegeben. Stattdessen habe sich der Kassenabschlag, den die Apotheken an die GKV abgeben müssen, von 1,77 Euro auf 2 Euro pro Packung verschreibungspflichtiger Medikamente erhöht. „Dadurch haben alle Apotheken drastische Gewinnrückgänge, kleinere Betriebe werden existenziell bedroht“, heißt es.

Die niedergelassenen Ärzt:innen und Zahnärzt:innen kritisieren – wie bereits in Potsdam – die Fokussierung der Bundespolitik auf den stationären Bereich. Dieser werde mit Milliarden unterstützt, während der ambulante Bereich leer ausgehe. Praxen müssten durch die Streichung der Neupatientenregelung Einsparungen hinnehmen und Nullrunden beim Honorar schlucken, gleichzeitig stiegen die Kosten allein für Energie massiv an. Sabine Köhler, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in Jena, beklagte zudem die fehlende Wertschätzung der Politik für die Arbeit der Niedergelassenen. Dies mache Sparrunden, „die die Krankenkassen den Ärzten anbieten, salonfähig“. Dabei seien es vor allem Vertragsärzte, Psychotherapeuten, Zahnärzte und Apotheker gewesen, die mit ihrem Personal die Corona-Pandemie gestemmt hätten. In den Corona-Wellen seien sie „das Bollwerk, das den Kollaps der Kliniken und Spezialversorger verhindert hat und noch immer verhindert“.

KV und Apothekerkammer unterstützen Proteste

Die Landesapothekerkammer Thüringen und die Kassenärztliche Vereinigung Thüringen unterstützen die Proteste. Die ambulante Gesundheitsversorgung sei zunehmend gefährdet, die geplanten Einsparungen hätten weitreichende Folgen. „Entzieht man Ärzten, Psychotherapeuten und Apotheken die Mittel, kann die ambulante Gesundheitsversorgung nicht aufrechterhalten werden“, heißt es in einer Mitteilung. Apotheken und Arztpraxen müssten weiter lebensfähig bleiben, „denn sie sind Arbeitgeber für viele Menschen in Thüringen, die ihre Existenz auch bei steigenden Energiepreisen und Lebenshaltungskosten sichern wollen“. Es sei nicht nachvollziehbar, dass Kliniken und große Industriebetriebe durch Milliardensummen unterstützt werden, in der basalen Gesundheitsversorgung jedoch gespart werde.

Buhrufe für Gesundheitsministerin Werner

Politiker fast aller im Thüringer Landtag vertretenen Parteien äußerten sich am Mittwoch vor Ort, allen voran Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke). Sie zeigte Verständnis für die Protestierenden, wurde aber dennoch ausgebuht. Ihrer Meinung nach würden die Leistungen der Niedergelassenen zu oft übersehen, gleichzeitig sei es der Landesebene nicht gelungen, sich bei Entscheidungen des Bundes durchzusetzen. 

Mario Voigt, Fraktionschef der Landes-CDU, sagte, „wir haben Alarmstufe rot im Gesundheitswesen“. Voigt kritisierte Bundesgesundheitsminister Lauterbach, „sich lieber um die Legalisierung von Cannabis als um die ambulante Versorgung zu kümmern“. Robert-Martin Montag, Generalsekretär der Landes-FDP, monierte, die Politik habe „seit mindestens eineinhalb Jahrzehnten die Debatte über die Strukturen im Gesundheitswesen verschlafen“. 

Auch Protestierende in Potsdam ließen sich nicht besänftigen

Einen schweren Stand hatte bei den Protesten in Potsdam in der vergangenen Woche auch Brandenburgs Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne). Auch sie wurde während ihres Statements ausgebuht. Sie sei sich der Probleme bewusst und sehe, dass die bisherigen Hilfen nicht alle Kosten abdeckten, sagte sie. „Es ist an der Zeit, dass innerhalb der Selbstverwaltung Gespräche über höhere Honorare für die ambulante Medizin geführt werden. Ich werde mich da gern moderierend einbringen.“ Nonnemacher appellierte zugleich, die Bereiche des Gesundheitswesens nicht gegeneinander auszuspielen.


Anja Köhler, Freie Journalistin
redaktion@daz.online


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3 Kommentare

RÜCKTRITT! Jetzt und sofort Herr Minister Lauterbach!

von Uwe Hansmann am 15.12.2022 um 17:07 Uhr

Dieser Minister hat die Suppe in 2004 gemeinsam mit Ulla Schmidt angerührt!
Sich jetzt hinzustellen und zu sagen, man habe die Ökonomisierung zu weit getrieben ist ein Armutszeugnis!

Schon damals haben viele insider die Ministerin und den Abgeordneten und Mitglied des Gesundheitsausschusses, Karl Lauterbach, auf die zu erwartenden Auswirkungen einer solch rigiden Rabattschlacht bei Leistungen und Medikamenten hingewiesen.

Es wäre an der Zeit, jetzt zu sagen, daß man versagt hat und das man für dieses Desaster in der Versorgung der Bevölkerung die politische Verantwortung übernimmt.

RÜCKTRITT! JETZT SOFORT, HERR MINISTER LAUTERBACH!!

» Auf diesen Kommentar antworten | 2 Antworten

AW: RÜCKTRITT! Jetzt und sofort Herr

von Karl Friedrich Müller am 15.12.2022 um 17:21 Uhr

ist ja richtig, nur: was Herr Lauterbach von sich denkt: Er ist EXPERTE! Für ALLES!
Also macht Er keine Fehler, sondern andere. Die lügen alle, nur ER, gottgleich, hat den Durchblick. Er akzeptiert keine andere Meinung, geschweige denn WISSEN.
Er wir NIE freiwillig zurücktreten.

AW: RÜCKTRITT! Jetzt und sofort Herr

von Dr. Radman am 15.12.2022 um 17:30 Uhr

Volle Zustimmung!!!. Dennoch müssen wir zunächst vor unserer Haustür kehren. Ein Sprichwort besagt: wenn du dich bückst, wird auf dich geritten. Wie lange bücken sich schon die ABDA und DAV? Ein Viertel Jahrhundert?

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