Corticoide und SARS-CoV-2

Braucht die Welt jetzt mehr Dexamethason?

Stuttgart - 25.06.2020, 17:50 Uhr

Werden Dexamethason-Infusionen bei einer COVID-19-Infektion in schweren Fällen bald zur Regel? Dann müsste die Produktion offenbar gesteigert werden. (Foto: Vadim / stock.adobe.com)

Werden Dexamethason-Infusionen bei einer COVID-19-Infektion in schweren Fällen bald zur Regel? Dann müsste die Produktion offenbar gesteigert werden. (Foto: Vadim / stock.adobe.com)


Vergangene Woche war in den Medien zu lesen: „WHO feiert Studienergebnisse zu COVID-19-Medikament als ‚Durchbruch’“. Seit Dienstag dieser Woche heißt es, dass die WHO die Produktion von Dexamethason als COVID-19-Medikament nun beschleunigen möchte. Die Erfahrung der letzten Monate hat gezeigt, dass rund um hoffnungsvolle Arzneistoffe in der Corona-Pandemie Engpässe entstehen können – vor allem in der Versorgung der Patienten, die Arzneimittel in ihrer ursprünglichen Indikation erhalten sollen. Wie steht es um den Dexamethason-Vorrat der Welt? Brauchen wir jetzt wirklich mehr davon?

„Die Weltgesundheitsorganisation hat die vorläufigen Ergebnisse einer britischen Studie zu einem Medikament gegen die Lungenkrankheit COVID-19 als Durchbruch begrüßt“ –  das meldete am 17. Juni die Deutsche Presse-Agentur (dpa). Es geht um das Glucocorticoid Dexamethason. Seinen Anfang hatte die Berichterstattung, die in Medien große Wellen schlug, mit einer Pressemitteilung der „University of Oxford“ genommen. Konkret ging es darin um Ergebnisse der RECOVERY-Studie (Randomised Evaluation of COVid-19 thERapY), die unter anderem in der Vergangenheit bereits die WHO dazu veranlasst hatte, ihren Hyroxychloroquin-Arm der SOLIDARITY-Studie (aufgrund mangelnder Wirksamkeit) zu stoppen.

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Bei dem Entzündungshemmer Dexamethason handle es sich um das erste Mittel, das die Sterblichkeit von COVID-19-Patienten verringere, die auf Sauerstoff oder Beatmungsgeräte angewiesen seien, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus einer Mitteilung der WHO zufolge, die bereits am 16. Juni erschienen ist. „Das sind großartige Neuigkeiten“, sagte Tedros demnach weiter. „Ich gratuliere der Regierung des Vereinigten Königreichs, der Universität Oxford sowie den vielen Krankenhäusern und Patienten im Vereinigten Königreich, die zu diesem lebensrettenden wissenschaftlichen Durchbruch beigetragen haben.“ Das klingt euphorisch.

In der aktuellen Ausgabe der „Deutschen Apotheker Zeitung“ hat DAZ-Autorin Dr. Petra Jungmayr sich die Ergebnisse der RECOVERY-Studie zu Dexamethason genauer angeschaut. Einen wichtigen Punkt, der die Euphorie der WHO schmälert, benannte auch die dpa direkt: Die Ergebnisse der RECOVERY-Studie sind bisher nicht von anderen Experten begutachtet worden. Es handelt sich um vorläufige Ergebnisse der noch unveröffentlichten klinischen Studie, die darauf hinweisen, dass Dexamethason die Sterberate bei schweren COVID-19-Verläufen senken könnte.

Glucocorticoide: Sind die Risiken größer als der Nutzen?

Der Erfolgsmeldung zur WHO-Pressemitteilung folgte sodann noch am selben Tag eine weitere dpa-Meldung: Nach ersten erfolgversprechenden Ergebnissen zum Einsatz des Entzündungshemmers Dexamethason bei schweren COVID-19-Verläufen warnten deutsche Experten vor verfrühter Euphorie, hieß es dort. Eine abschließende Einschätzung zur Qualität sei erst möglich, wenn die Originaldaten ausführlich gesichtet seien, sagte Maria Vehreschild, Leiterin des Schwerpunkts Infektiologie am Universitätsklinikum der Goethe-Universität Frankfurt. Wichtig sei unter anderem, die Nebenwirkungen noch weiter aus den Daten herauszuarbeiten, so Vehreschild. Zu prüfen sei auch, ob die beiden Patientengruppen – Dexamethason-Gruppe und Vergleichsgruppe – wirklich vergleichbar waren, erklärte der Pneumologe Tobias Welte von der Medizinischen Hochschule Hannover. „Bevor man das vollständige, durch unabhängige Gutachter beurteilte Manuskript gesehen hat, kann man die Wertigkeit der Studie nicht beurteilen.“ 

Zu bedenken sei bei den Ergebnissen auch, dass Dexamethason die Immunantwort gegen das Virus bremst und so dazu führen könnte, dass das Virus langsamer eliminiert wird, ergänzte Bernd Salzberger, Bereichsleiter Infektiologie am Universitätsklinikum Regensburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie. 

Übrigens: Der Einsatz von Glucocorticoiden ist umstritten

„Während der SARS-Epidemie 2003 waren Corticosteroide das primäre Mittel zur Immunmodulation bei Zytokinstürmen. Sie werden auch bei COVID-19 eingesetzt. Sehr wichtig für das Ergebnis sind der Zeitpunkt der Verabreichung und die Dosierung, denn eine zu frühe Gabe hemmt die Einleitung des körpereigenen Immunabwehrmechanismus. Der Einsatz ist deshalb derzeit sehr umstritten [Jamilloux 2020]. Chinesische Wissenschaftler empfehlen, ihn auf kritisch kranke Patienten mit entzündlichem Zytokinsturm zu beschränken [Zhao 2020].“ 

Mehr zum „Gefürchteten Zytokinsturm“ bei COVID-19 lesen Sie im „Pandemie Spezial“ der DAZ 25/2020.

Sowohl Welte als auch Salzberger sind Autoren der neuen „Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19“ (S1-Leitlinie), die am 19. Juni erschienen ist. Darin sind die neuesten Entwicklungen rund um Dexamethason bereits eingeflossen. 

Glucocorticoide in der COVID-19-Leitlinie

In der aktuellen intensivmedizinischen COVID-19-Leitlinie heißt es: „In einer am 16.06.2020 veröffentlichten Pressemitteilung über eine vorläufige Datenauswertung der RECOVERY-Studie ergeben sich Hinweise auf einen möglichen Benefit einer Therapie mit Dexamethason bei schwerkranken Patienten. Eine mögliche Therapie-Empfehlung kann aber aus Sicht der Autoren erst nach weiterer Prüfung der Daten und Publikation der Studie erfolgen.“

In der Praxis sollte Dexamethason also nur nach sorgfältiger Abwägung gegen SARS-CoV-2 zum Einsatz kommen. Auch, weil in der Leitlinie zudem allgemein Stellung zum Nutzen von „Steroiden“ in der COVID-19-Behandlung genommen wird: Steroide sollten demnach bei ARDS (Acute Respiratory Distress Syndrome, akutem Lungenversagen) nicht regelhaft gegeben werden. Zur Begründung heißt es: 


Eine Gabe scheint die virale Clearance zu verzögern und begünstigt eine fungale Superinfektion.“

„Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19“ (S1-Leitlinie)


Zudem sollen Studien bei SARS und Influenza nachteilige Effekte zeigen. Ausnahme sei dabei die niedrig dosierte Hydrocortison-Therapie bei septischem Schock ohne Ansprechen auf Flüssigkeits- und Vasopressoren-Therapie über einen Zeitraum von mehr als einer Stunde. 

So der Stand jetzt – wie das Deutsche Ärzteblatt schreibt, könnte die Leitlinie schon in einigen Monaten erneut aktualisiert werden.

Dexamethason ist kostengünstig und verfügbar 

Woher stammt also die Euphorie der WHO? Die Begeisterung für Dexamethason lässt sich vielleicht auch – neben der Wirksamkeit laut der neuesten Studie – aus einem anderen Aspekt ableiten: „Dexamethason ist kostengünstig, verfügbar und kann sofort eingesetzt werden, um weltweit Leben zu retten“, erklärte Peter Horby, einer der Leiter der RECOVERY-Studie der dpa. Auch Vehreschild von der Goethe-Universität Frankfurt sagte, dass sie keine grundsätzlichen Hürden bei der Verabreichung und Verfügbarkeit sehe, da der Wirkstoff bereits zugelassen und die Applikation über die Vene oder als Tablette möglich sei.

WHO will Produktion von Dexamethason steigern – drohen Engpässe?

Diese Woche Dienstag hat die WHO nun ihr euphorisches Urteil zu Dexamethason erneut bekräftigt. In einer Meldung des Ärzteblatts heißt es unter Bezug auf die Nachrichtenagentur Agence France-Presse (afp): „WHO will Produktion von Dexamethason als COVID-19-Medikament beschleunigen“. Am Montag (22. Juni) sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus, dass die nächste Herausforderung darin bestehe, die Produktion zu steigern und Dexamethason rasch und gerecht weltweit zu verteilen und sich dabei auf die Bereiche zu konzentrieren, in denen es am meisten benötigt wird. „Obwohl die Daten noch vorläufig sind, gab uns die jüngste Erkenntnis – dass das Steroid Dexamethason ein lebensrettendes Potenzial für kritisch kranke COVID-19-Patienten hat – einen dringend benötigten Grund zum Feiern“, sagte Tedros. Die Nachfrage nach Dexamethason sei bereits gestiegen. 

Glücklicherweise sei Dexamethason ein kostengünstiges Medikament, es gebe weltweit viele Hersteller. Man sei zuversichtlich, dass die Hersteller die Produktion beschleunigen können. Tedros sagte aber auch: 


Die WHO betont, dass Dexamethason nur bei Patienten mit schwerer oder kritischer Erkrankung und unter enger klinischer Überwachung eingesetzt werden sollte. Es gibt keine Beweise dafür, dass dieses Medikament bei Patienten mit leichter Krankheit oder als Präventivmaßnahme wirkt, und es könnte Schaden verursachen.“ 

WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus


Dexamethason ist jedenfalls auch unabhängig von COVID-19 ein wichtiges und weit verbreitetes Arzneimittel. Das zeigt auch die Aufführung in der WHO-Liste der unverzichtbaren Arzneimittel. Auch deshalb ist es interessant, dass am 21. Juni das wissenschaftliche Nachrichtenportal „Science“ die Frage aufbrachte: Könnte der Dexamethason-Vorrat bald schon zur Neige gehen?  

Lieferengpässe in den USA, Ausfuhrbeschränkungen in UK

Seit die Ergebnisse der Studie bekannt wurden, habe es „ein gewisses Maß an irrationalem Überschwang“ in Bezug auf Dexamethason gegeben, sagte Stephen Schondelmeyer, Direktor des Instituts für pharmazeutische Forschung in Management und Wirtschaft an der University of Minnesota, „Science“ gegenüber: „Wir beobachten bereits jetzt ein Hortungsverhalten und eine mangelnde Verfügbarkeit des Produkts aufgrund dessen“, fügte er hinzu. Emer Cooke, Leiterin der Abteilung zur Regulierung von Medikamenten und anderen Gesundheitstechnologien bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und voraussichtlich künftige EMA-Chefin, bestätigte „Science“ diesen Eindruck, sagte aber, es sei „wahrscheinlich noch zu früh, um zu sagen, ob es eine globale Verknappung geben wird“.

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Was intravenöses Dexamethason angeht, könnte es „Science“ zufolge zumindest in den USA Probleme geben: Ein bedeutender indischer Hersteller, Cadila Healthcare, sei wiederholt wegen ernstzunehmender Probleme in seinem Produktionsprozess in Schwierigkeiten mit der US-Arzneimittelbehörde (FDA) geraten. Laut einem Schreiben der Behörde habe das Unternehmen im Oktober 2019 mitgeteilt, dass es die Produktion injizierbarer Medikamente für die Vereinigten Staaten einstellen werde. Es liegt auf der Hand, dass die intravenöse Darreichungsform von Glucocorticoiden auf Intensivstationen wohl deutlich häufiger eingesetzt wird als die orale. 

Hohes Risiko für Fälschungen, keine Bevorratung in Deutschland

Auch Cooke betont gegenüber „Science“, wie wichtig es sei, Dexamethason von qualitätsgesicherten Lieferanten zu kaufen. Es bestehe ein „hohes Risiko, dass unseriöse Hersteller minderwertige oder gefälschte Optionen anbieten“. Vertrauenswürdige Hersteller sollten laut Cooke in der Lage sein, die steigende Nachfrage zu befriedigen, aber wenn das Horten und die spekulative Beschaffung weitergehen, werde das zu einer chaotischen Situation führen und die Pläne zur Produktionssteigerung gefährden. Das gelte insbesondere für injizierbare Produkte, deren Produktion schwieriger zu steigern ist.

Laut „Science“ hat der britische Gesundheitsdienst (National Health Service) Dexamethason bereits in seine Standardbehandlung für COVID-19 aufgenommen und Beschränkungen für die Ausfuhr von Dexamethason erlassen. Das Bundes­gesundheitsministerium sah laut Ärzteblatt währenddessen in der vergangenen Woche keinen Grund, sich mit Dexamethason zu bevorraten: „Zunächst solle die Studie geprüft werden, sagte ein Ministeriums­sprecher in Berlin. Er verwies zudem darauf, dass die Studie derzeit 'noch nicht einmal ver­öffentlicht' sei.“



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1 Kommentar

Ne, n´?

von Bernd Jas am 25.06.2020 um 23:30 Uhr

Gibt es eigendlich auch ´ne Paranoia-Pandemie?

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