Bei seltenen Erkrankungen

Zweitkarrieren für Budesonid, Coffein, Ibuprofen und andere

Stuttgart - 28.02.2018, 17:00 Uhr

Wegschauen hilft nicht. Am 28. Februar ist der Tag der Seltenen Erkrankungen. (Foto: Shutterstock/Dmitry Guzhanin/BPI/obs/ pictute alliance)

Wegschauen hilft nicht. Am 28. Februar ist der Tag der Seltenen Erkrankungen. (Foto: Shutterstock/Dmitry Guzhanin/BPI/obs/ pictute alliance)


Etwa 100 Arzneimittel mit Orphan-Status sind derzeit in der EU verfügbar. Dazu kommt eine ganze Reihe an Arzneimitteln, die zwar bei seltenen Erkrankungen eingesetzt werden, deren Orphan-Status aber abgelaufen ist. Viele wurden speziell für eine seltene Erkrankung entwickelt, andere hingegen wurden ursprünglich in ganz anderen, nicht seltenen Indikationen eingesetzt. Dass sie auch bei Orphan-diseases wirken, war in vielen Fällen ein Zufallsbefund.  

Hydrocortison, Budesonid und Coffein sind altbekannte Wirkstoffe, bei denen im ersten Moment die wenigsten an seltene Erkrankungen denken. Dabei werden diese, neben einer ganzen Reihe anderweitig bekannter Wirkstoffe, bei eben solchen Erkrankungen eingesetzt. Und zwar nicht off-label, sondern es sind für diese Indikationen zugelassene Arzneimittel verfügbar. Viele von ihnen haben noch den Status Orphan-Drug, der ihnen Marktexklusivität garantiert, bei anderen ist die 10-Jahres-Frist für dieses Privileg abgelaufen; verfügbar sind sie aber nach wie vor. Anlässlich des heutigen Tages der seltenen Erkrankungen im Folgenden ein paar Beispiele für Wirkstoffe mit Zweitkarrieren:

Budesonid

Budesonid ist ein synthetisches Glucocorticoid, das sein Haupteinsatzgebiet in der lokalen Behandlung von Asthma bronchiale, COPD, nichtinfektiöser Rhinitis, Nasenpolypen und entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa hat. Je nach Wirkort wird es dazu beispielsweise als Nasenspray, Inhalat, Klysma oder Rektalkapsel eingesetzt. Budesonid unterliegt einem hohen First-Pass-Effekt, systemische Nebenwirkungen halten sich daher auch, wenn es versehentlich verschluckt wird, in Grenzen. Diese Eigenschaft ermöglicht den Einsatz bei einer seltenen Erkrankung, nämlich der eosinophilen Ösophagitis, eine chronisch entzündliche, immunvermittelte Erkrankung der Speiseröhre. Seit Januar 2018 ist Budesonid für diese Indikation als orodispersible Tablette mit dem Handelsnamen Jorveza® zugelassen. Die Markteinführung steht noch bevor. 

Mehr zum Thema

Gegen eosinophile Ösophagitis  

Zulassungsempfehlung für Budesonid-Schmelztablette

Celecoxib

Celecoxib ist ein nicht-steroidales Antirheumatikum aus der  Gruppe der COX-2-Hemmer und neben Etoricoxib der letzte verbleibende Wirkstoff aus dieser Klasse. Es wird zur symptomatischen Behandlung degenerativer Gelenkerkrankungen eingesetzt. Die Zulassung als Orphan-Drug erhielt der Wirkstoff im Oktober 2003 bei familiärer adenomatöser Polyposis, eine vererbte starke Neigung zur Darmpolypenbildung. Die Wirksamkeit von Celecoxib in dieser Indikation beruht vermutlich darauf, dass der COX-Hemmer den Zelltod induziert und so das Wachstum der Polypen verzögern oder verhindern kann. Das Fertigarzneimittel mit dem Namen Onsenal® ist allerdings nicht mehr erhältlich. Die Zulassung wurde 2011 entzogen, da Hersteller Pfizer als Zulassungsauflage geforderte Daten nicht liefern konnte. 

Coffein, Hydrocortison und Glibenclamid

Coffeincitrat

Coffein ist ein Antagonist an Adenosin-Rezeptoren. Das Analeptikum stimuliert das Zentralnervensystem, steigert die Herzfrequenz und den Blutdruck. Zudem wirkt Coffein Ermüdungserscheinungen entgegen und fördert die psychische Leistungsbereitschaft und -fähigkeit. Daher ist es häufig Bestandteil von Energy-Drinks. In Form von Coffein-Tabletten wird es zur kurzfristigen Beseitigung von Ermüdungserscheinungen eingesetzt. Darüber hinaus aktiviert Coffein das Atemzentrum, indem es die CO2-Empfindlichkeit erhöht. Hierdurch wird das Atemzeitvolumen erhöht. Diesen Effekt macht man sich bei der Therapie der Apnoe bei Frühgeborenen zu Nutze. Ein lebensbedrohlicher Zustand, der durch Aussetzen der Atmung über mehr als 20 Sekunden definiert ist. Als Orphan-Drug ist das Citrat bei primärer Apnoe bei Frühgeborenen seit Juli 2009 zugelassen und wird unter dem Handelsnamen Peyona® (früher Nymusa®) vertrieben. 

Glibenclamid

Das Antidiabetikum liefert die jüngste Zweitkarriere eines altbekannten Wirkstoffs. Der Humanarzneimittelausschuss der EMA, CHMP, hat vergangene Woche Amglidia® zur Behandlung des neonatalen Diabetes mellitus zur Zulassung empfohlen, ein flüssiges Glibenclamid-Präparat. Eine häufige Ursache des neonatalen Diabetes ist eine Mutation in einem für Kalium-ATP-Kanäle codierenden Gen. So sind bei diesen Kindern die Beta-Zellen des Pankreas zwar in der Lage, Insulin zu bilden, doch durch den mutationsbedingt dysfunktionalen Kalium-ATP-Kanal können sie das Hormon nicht sezernieren. Glibenclamid ist ein Blocker dieses Kaliumkanals. Es unterbindet den Ausstrom von Kalium aus der Betazelle. In der Folge kommt es zu einer Depolarisation. Spannungsabhängige Calciumkanäle werden aktiviert, Calcium strömt verstärkt in die Zellen. Es kommt zur Insulinfreisetzung aus den Betazellen. Die Zulassung steht allerdings noch aus. 

Mehr zum Thema

Hydrocortison

Hydrocortison, wie die synthetische Form des endogenen Glucocorticoids Cortisol genannt wird, wirkt entzündungshemmend und immunsuppressiv. Lokal wird es bei Hauterkrankungen wie Ekzemen als Creme oder bei Gelenkentzündungen intraartikulär verabreicht. Systemisch kommt Hydrocortison beim adrenogenitalen Syndrom und primärer Nebennierenrinden-Insuffizienz zum Einsatz. Für Nebenniereninsuffizienz besteht seit 2011 eine Orphan-Zulassung, und zwar für Hydrocortison in retardierter Form. Plenadren® ist das entsprechende Fertigarzneimittel. Der Orphan-Staus wurde zugestanden, weil man davon ausgeht, dass sich mit Hilfe der modifizierten Freisetzung die natürlichen Cortisolspiegel besser nachbilden lassen. So soll vor allem morgendliche Müdigkeit reduziert und dank der nur einmal täglichen Gabe die Adhärenz gefördert werden. 

Ibuprofen, Ketoconazol und Sildenafil

Ibuprofen

Ibuprofen wird wegen seiner schmerz- und entzündungshemmenden, sowie seiner fiebersenkenden Wirkung eingesetzt. Es ist im letzten Drittel der Schwangerschaft kontraindiziert, weil es aufgrund der Hemmung der Prostaglandinsynthese zum vorzeitigen Verschluss des Ductus arteriosus Botalli beim Fetus führen kann. Aus dieser Eigenschaft ist ein Orphan-Drug hervorgegangen. Es hat die Indikation Ductus arteriosus bei Frühgeborenen, also einem angeborenen Herzfehler durch unvollständige Schließung des Ductus arteriosus. Der Orphan-Status von Pedea® ist abgelaufen. 

Ketoconazol

Das Azolantimykotikum Ketoconazol wird lokal bei Pilzerkrankungen der Haut eingesetzt. Alle oralen Antimykotika mit diesem Wirkstoff sind aufgrund der lebertoxischen Wirkung in der EU nicht mehr auf dem Markt. Als Orphan-Drug ist der Wirkstoff seit November 2014 zugelassen. Das Fertigarzneimittel Ketoconazole HRA® ist indiziert bei, aufgrund eines Tumors der Hypophyse, stark überhöhten Cortisolspiegeln im Blut, dem sogenannten Cushing Syndrom. Etwa 43.000 Patienten leiden EU-weit darunter. Dabei macht man sich die Eigenschaft von Ketoconazol als Hemmer der Cytochrom-P450-Enzyme in der Nebenniere und die daraus resultierende starke Hemmung der Cortisolsynthese zunutze. 

Sildenafil

Die bekanntere Indikation von Sildenafil war ein Zufallsbefund: Im Rahmen der Entwicklung zur Behandlung von Bluthochdruck und Angina Pectoris wurde dessen Wirkung bei erektiler Dysfunktion entdeckt. 2005 folgte dann die Zulassung als Orphan-Drug zur Behandlung der idiopathischen pulmonal-arteriellen Hypertonie unter dem Handelsnamen Revatio®. Die Wirkung beruht auf einer Hemmung der cGMP-spezifischen Phosphodiesterase vom Typ 5 (PDE-5), die neben der glatten Muskulatur des Corpus cavernosum unter anderem in der glatten Muskulatur der Lungengefäße lokalisiert ist. In der Folge wird der Abbau von cGMP verhindert, es kommt zu einer Relaxation der glatten Muskelzellen der Lungengefäße und somit zu einer Erniedrigung des pulmonalen Drucks. Potenzielle Patienten gibt es EU-weit knapp über 50.000. Der Orphan-Status ist aber mittlerweile abgelaufen.

Thalidomid

Thalidomid erlangte traurige Berühmtheit als Veursacher des Contergan-Skandals, dem vermutlich größten Arzneimittel-Skandal der Bundesrepublik. Wegen seiner fruchtschädigenden Wirkung verschwand das als Schlaf- und Beruhigungsmittel verkaufte Arzneimittel 1961 vom Markt. Neben seiner schlaffördernden Wirkung hat Thalidomid jedoch antineoplastische, antiangiogene, antiinflammatorische und immunmodulierende Eigenschaften. Das verhalf ihm zu einem Comeback. 2008 erhielt Thalidomide® Celgene die Zulassung als Orphan-Drug zur Behandlung des Multiplen Myeloms, einer Krebserkrankung des blutbildenden Systems, bei der entartete Plasmazellen gebildet werden. Aufgrund seiner teratogenen Wirkung darf Thalidomid aber nur unter strengen Auflagen auf sogenannten T-Rezepten verordnet werden.

Mehr zum Thema

Bei Fehlern droht Apotheker Strafverfolgung

Drei Kreuze für ein T-Rezept

Teratogene Arzneimittel für Frauen

T-Rezepte: Wann sind Frauen gebärfähig?



Julia Borsch, Apothekerin, Chefredakteurin DAZ
jborsch@daz.online


Diesen Artikel teilen:


Das könnte Sie auch interessieren

Die wechselvolle regulatorische Geschichte von Ketoconazol

Antimykotikum wird zum Orphan Drug

Ein Einblick in die Entwicklung und Zulassung von Orphan Drugs

Hilfe bei seltenen Krankheiten

Abwartendes Verhalten ist gegenüber Ibuprofen nicht unterlegen

Wenn sich der Ductus arteriosus nicht schließt

Das Similarity Assessment bei Orphan Drugs

Ähnlich, gleich oder klinisch überlegen?

Anbieter rät zu Vorsichtsmaßnahmen

GMP-Mängel bei Ammonaps

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.