Feuilleton

Neue chirale Arzneistoffe

Eine Bilanz der Jahre 2009 bis 2013

Chiralität (Hände und Gesicht) Farbradierung von H. J. Roth, 1996

2004 wurden die Arzneistoffe, die in den Jahren 1999 bis 2003 auf den Markt gelangt waren, hinsichtlich ihrer stereochemischen Eigenschaften kategorisiert: achirale versus chirale sowie racemische versus enantiomerenreine Verbindungen [1]. Fünf Jahre später geschah in knapper Form das Gleiche für die Jahre 2004 bis 2008 [2]. Nun sind fünf weitere Jahre vergangen, und es ist angebracht, die Weiterentwicklung in den Jahren 2009 bis 2013 aufzuzeigen [3, 4]. Zu diesem Zweck sind die insgesamt 40 neuen chiralen Arzneistoffe in zwei Tabellen zusammengestellt.

Bemerkungen zu einigen monochiralen Wirkstoffen

Drei der 14 neuen monochiralen Arzneistoffe sind als Racemate zugelassen und in den Markt eingeführt worden (Tab. 1). Dies hat jeweils gute Gründe:

Prasugrel. Bei diesem Thrombozytenaggregationshemmer scheint eine Auftrennung, um nur das wirksame Enantiomer (= Eutomer) zu verabreichen, nicht nötig zu sein, da der Wirkstoff wie Clopidogrel ein Prodrug ist und im Körper über CYP1A2 und CYP3A4 zu einem wirksamen R-Metaboliten biotransformiert wird.

Ranolazin gelangt zur Anwendung, wenn die bisherige Therapie mit Betablockern oder Calciumantagonisten nicht ausreicht oder nicht vertragen wird. Die beiden Enantiomere sollen gleichartig und gleich stark wirken, also erscheint eine aufwendige und kostenträchtige Racemattrennung nicht sinnvoll.

Thalidomid darf nur bei Patienten ab einem Alter von über 65 Jahren verordnet werden, wegen der bekannten Nebenwirkungen. Eine Racemattrennung ist hier ebenfalls sinnlos, da beide Enantiomere rasch invertiert werden.

Einige Wirkstoffe mit zwei und mehr Asymmetriezentren

Micafungin gehört zur Gruppe der Echinocandine. Seine Wirkung beruht auf der Hemmung der 1,3-β-D-Glucan-Synthese, einem essenziellen Baustein der Pilzzellwand.

Vinflumin ist ein partialsynthetisches, fluoriertes Vinca-Alkaloid, das wie die anderen Vinca-Alkaloide als Spindelgift (Mitosehemmer) wirkt, aber ein verbessertes Nebenwirkungsprofil aufweist.

Mifamurtid. Das aus chiralen Edukten synthetisierte, sehr lipophile Phospholipid reichert sich in der Lipiddoppelschicht von Liposomen an und wirkt in dieser Form als Analogon von Muramyl-Dipeptid immunstimulierend.

Ticagrelor, das die Verklebung der Thrombozyten hemmt, ist ein vollsynthetischer Wirkstoff. Seine Bindung an einen ADP-Rezeptor ist reversibel.

Carbazitaxel stellt ein partialsynthetisches Taxan-Derivat dar. Seine Wirkung beruht auf der Stabilisierung der Mikrotubuli während der Zellteilung (Mitose).Eribulin ist ein strukturell vereinfachtes synthetisches Analogon des nativen, im Meeresschwamm Halichondria okadai vorkommenden Halichondrin B, was die Vielzahl der Asymmetriezentren erklären kann.

Pasireotid. Im Vergleich mit Octreotid zeigt dieses Somatostatin-Analogon eine 40-fach höhere Bindungsaffinität zum Somatostatinrezeptor 5.

Fidaxomicin, das die bakterielle DNA-Synthese hemmt, gehört zur Gruppe der Makrolide. Die 14 Chiralitätszentren beruhen auf der komplexen Struktur, die zwei Saccharide enthält.

Linaclotid ist ein zyklisches, synthetisches Peptid aus 14 Aminosäuren und enthält demnach 14 Chiralitätszentren.

Die gleiche Anzahl asymmetrisch substituierter C-Atome in Micafungin, Fidaxomicin und Linaclotid beruht nicht auf einer analogen oder ähnlichen molekularen Struktur, sondern ist nur ein Zufallsphänomen.

Bilanz

Im Lustrum 2009 bis 2013 sind in Deutschland wesentlich weniger neue Arzneistoffe auf den Markt gelangt als in den beiden vorangegangenen 5-Jahres-Zeiträumen, nämlich 67 statt 100 bzw. 101. Die Frage, inwieweit das auf einer verfehlten Gesundheitspolitik beruht, ist nicht Gegenstand dieses Essays.

Bei den 14 neuen monochiralen Arzneistoffen ist das Verhältnis der Enantiomere zu den Racematen etwa so wie im Zeitraum 2004 bis 2008. Hier die absoluten Zahlen:

  • 1999 bis 2003:  15 : 9
  • 2004 bis 2008:  20 : 5
  • 2009 bis 2013:  11 : 3

Auch das Verhältnis der chiralen Arzneistoffe zu den achiralen Arzneistoffen hat sich kaum verändert:

  • 1999 bis 2003:  60 : 40
  • 2004 bis 2008:  61 : 40
  • 2009 bis 2013:  40 : 27

Bei den angestellten Betrachtungen sind monoklonale Antikörper, größere funktionelle Peptide und polymere Arzneistoffe nicht berücksichtigt.

Sollte der kritische Leser den einen oder anderen Arzneistoff, dessen Einführungsdatum fraglich ist, in den beiden Tabellen vermissen, so ändert das nichts an der Gesamtbilanz. 

Literatur

[1] Roth HJ. Dex-, Lev-, Es-, eine Bilanz der letzten fünf Jahre. Dtsch Apoth Ztg 2004;144: 2309–2316.

[2] Roth HJ. Dex-, Lev-, Ar-, Es-, Rac-, neue „reine“ Arzneistoffe. Dtsch Apoth Ztg 2009;149: 3182–3186.

[3] Mitteilungen der Herstellerfirmen.

[4] Neue Arzneimittel, Beilage der Dtsch Apoth Ztg 2009 bis 2013.

Autor

Prof. Dr. rer. nat. Dr. h.c. Hermann Roth,
Friedrich-Naumann-Str. 33,
76187 Karlsruhe

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