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Gefährliche Konzentration

Benjamin Wessinger

Als 2009 die Berliner S-Bahn wegen eines Radbruchs im Chaos versank und wochenlang keinen regelmäßigen Verkehr mehr zustande brachte, war die Ursache schnell gefunden: Der Abbau aller Reserven, vom Personal über die Werkstattkapazität bis zu Ersatzzügen, habe dazu geführt, dass beim ersten Problem, nämlich der Überprüfung der Räder in kurzem Abstand, das gesamte System kollabierte. In den Jahren davor allerdings war die DB AG, Betreiber der Berliner S-Bahn, ständig aufgefordert worden, effizienter zu wirtschaften und Kosten zu sparen.

Diese permanenten Aufforderungen, "Effizienzreserven zu heben", sind auch im Gesundheitssystem hinlänglich bekannt. Die letzten Tage und Wochen haben aber auch gezeigt, wo die Gefahren dieser Bestrebungen liegen – auch wenn das deutsche Gesundheitssystem und vor allem das Apothekenwesen meilenweit von Zuständen wie bei der Berliner S-Bahn entfernt sind!

Diese Gefahren zeigen sich beispielsweise, wenn durch Konzentrationsprozesse in der pharmazeutischen Industrie bestimmte Wirkstoffe nur noch von einem einzigen Hersteller – und dann womöglich nur noch in einem einzigen Werk – hergestellt werden. Kommt es in diesem Werk dann zu Zwischenfällen oder gar Produktionsausfällen, hat das weltweite Auswirkungen. So geschehen, als Ende letzten Jahres bei Inspektionen in einem amerikanischen Werk der Ben Venue Laboratories Probleme mit der Guten Herstellungspraxis (GMP) festgestellt wurden. In der Folge kam es zu Rückrufen und Lieferausfällen. Beim liposomalen Doxorubicin-Präparat Caelyx® wurde damals auf einen Rückruf verzichtet, weil keine Alternative zur Verfügung stand.

Aber nicht nur die Industrie ist bestrebt, ihre Kosten durch Konzentrierung zu senken, auch die Krankenkassen spielen dieses Spiel mit und konzentrieren die Versorgung ihrer Versicherten, beispielsweise bei den Grippeimpfstoffen. Nur darf dann bei der Herstellung und Freigabe des Impfstoffs nichts schieflaufen, vor allem nicht, wenn wie in diesem Jahr die WHO erst relativ spät festlegt, gegen welche Influenza-Stämme die Vakzine immunisieren soll. Denn selbst wenn Impfstoffe anderer Hersteller verfügbar sein sollten: In den Ausschreibungsregionen dürfen gesetzlich Versicherte nicht mit ihnen geimpft werden. Hoffentlich lässt sich die Grippewelle dieses Jahr noch etwas Zeit.

Auch aufseiten der Apotheker finden Konzentrierungsprozesse statt, größere Strukturen werden aufgebaut, beispielsweise in der Klinikversorgung. Die Möglichkeiten, dadurch Kosten zu sparen beginnen beim Einkauf und hören bei effizient organisierten Abläufen noch lange nicht auf.

Aber wenn nun der eine Impfstoff, mit dem die gesetzlich Versicherten geimpft werden dürfen, aus welchem Grund auch immer nicht verfügbar ist, sind die Versicherten darauf angewiesen, dass andere Hersteller liefern können (und dass ihre Krankenkasse diesen Impfstoff dann auch bezahlt). Wenn die eine Apotheke, die dutzende Kliniken, hunderte Pflegeheime und zahlreiche Arztpraxen beliefert, Pleite geht – wie aktuell im Fall Sanicare – dann zeigt sich der Wert der viel gescholtenen "Effizienzreserven". Denn dann ist es notwendig, dass andere klinik- und heimversorgende Apotheken oder Krankenhausapotheken in die Bresche springen können. Nur müssen in all diesen Fällen diese Alternativen auch zur Verfügung stehen und nicht vorher aus dem Markt gedrängt worden sein.

Die Konzentrationsprozesse dürfen also nicht zu weit getrieben werden, die Strukturen nicht zu groß werden – bei den Banken hat man gesehen, wozu es führt, wenn einzelne Akteure "too big to fail" werden, so groß, dass ihr Untergang das ganze System stürzen würde. Und die "Effizienzreserven", die heute abgebaut werden, könnten vielleicht morgen Leben retten, wenn Strukturen vorhanden sind, die einen Ausfall auffangen können.

Im Flugzeugbau gibt es das Prinzip der redundanten Systeme: Alle "lebenswichtigen" Funktionen werden doppelt eingebaut, damit beim Ausfall des einen Systems das andere übernehmen kann. Auch das Gesundheitssystem ist lebensnotwendig – es wäre mehr als fahrlässig, bestehende Reservesysteme aus Kostengründen abzuschaffen.

Ein erster Schritt, im Apothekenbereich solche Apotheken zu schützen, die für eine Notfallversorgung wichtig sind, ist mit der neuen Notdienstpauschale gemacht – wenn sie denn kommt. Zum ersten Mal wird eine Art "Strukturkomponente" in die Honorierung der Apotheker eingebaut. Apotheken, die in weniger gut versorgten Gebieten liegen, müssen naturgemäß mehr Notdienste "schieben" als solche mit vielen anderen Apotheken in der Nachbarschaft. Solche für die Versorgung besonders wichtige Apotheken profitieren also auch besonders von der geplanten Pauschale.


Benjamin Wessinger



DAZ 2012, Nr. 40, S. 3

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