DAZ aktuell

Außenansicht: Der "Fall" Lipobay – verantwortungsvoll gehandelt, gegenüb

Am 8. August 2001 wurde der Lipidsenker Cerivastatin (Lipobay, Baycol) wegen Todesfällen, die mit der Einnahme dieses Präparats in Zusammenhang gebracht wurden, von Bayer freiwillig vom Markt genommen. Ansehensverlust, Aktiensturz, Klagen, Entschädigungszahlungen und Mitarbeiter-Entlassungen folgten. Die Gesamtzahl der vorwiegend in den USA anhängigen Klagen beträgt derzeit rund 8400 (in den USA können Klagen bereits gegen eine geringe Gebühr erhoben werden, ohne dass hierin klägerspezifische Angaben gemacht werden müssen).

Nun wurde in zwei Verhandlungen zu Gunsten von Bayer entschieden, was für die noch folgenden Prozesse richtungsweisend sein könnte. Der Aktienkurs steigt wieder, das Image ist aufpoliert. In beiden Verhandlungen bestätigten die Gerichte dem Hersteller, bei der Entwicklung und Vermarktung sowie der freiwilligen Rücknahme des Medikaments verantwortungsvoll gehandelt zu haben (unverantwortliches Verhalten bei Entwicklung und Vermarktung konnte auch schwerlich behauptet werden, nachdem Lipobay von nationalen Kontrollbehörden weltweit als wirksames und unbedenkliches Arzneimittel zugelassen und von keiner Behörde, auch nicht der strengen amerikanischen FDA, zurückgerufen wurde).

In Bezug auf die freiwillige Rücknahme von Lipobay betonte auf der Bilanzpressekonferenz vom 13. März d. J. Werner Wenning, Vorstandsvorsitzender der Bayer AG, dass das Unternehmen mit der Rücknahme verantwortungsvoll und angemessen gehandelt habe. Verantwortungsvoll gegenüber wem? Den Anwälten, den Gerichten, den Aktionären, den Verantwortlichen im Unternehmen und in den Kontrollbehörden? Wenning selbst gibt die Antwort: Gegenüber den Patienten, deren Wohl an allererster Stelle stehen muss. Richtig. Aber welche Patienten meint er? Offensichtlich nicht die etwa 6 Millionen, die das Arzneimittel problemlos verwendet haben und nicht zu Opfern wurden. Und die das Mittel zur Senkung ihrer erhöhten Cholesterinwerte und ihrer koronaren Morbidität und Mortalität mit Nutzen nahmen und denen es nun nicht mehr zur Verfügung steht.

Die betroffenen Patienten, wurden sie wirklich Opfer des Medikaments? Oder des eigenen und ärztlichen Fehlverhaltens? Wir wissen, dass Arzneimittel unter verschiedenen Bedingungen nicht bestimmungsgemäß verordnet und verwendet werden und auf diese Weise Schäden setzen. Vom Arzt kann das Mittel dem falschen Patienten oder das richtige Mittel in falscher Dosierung verschrieben, vom Patienten ein Medikament über zu lange Zeit oder bewusst in zu hoher Dosis eingesetzt werden. Solche Falschanwendungen sind unvermeidbar.

Arzneimittel können aber auch unbewusst falsch angewandt werden und dann Schäden auslösen, wenn Anwendungsbeschränkungen oder Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten bestehen, aber nicht beachtet werden. Die Nichtbeachtung ist um so folgenschwerer, je länger gegen die Gegenanzeigen verstoßen wird. Man kann davon ausgehen, dass nur in rund zehn Prozent aller Medikamenten zugeschriebenen Todesfälle diese als direkte und ausschließliche Folge einer Nebenwirkung identifiziert werden. Bei den meisten so genannten "Arzneimittel-Skandalen" der Vergangenheit hat sich der Nebenwirkungsverdacht bei genauen Nachprüfungen später als unberechtigt oder der Schaden als äußerst gering erwiesen. Den beschuldigten Arzneimitteln hat der Freispruch freilich nichts mehr genützt, keines ist in den Markt zurückgekehrt.

Im Fall von Lipobay war das allen Lipidsenkern eigene Risiko (die Entzündung der Skelettmuskulatur, im Extremfall ihr Zerfall, insbesondere bei der Kombination von Statinen) allgemein bekannt und wurde ausreichend kommuniziert. Auch bei Lipobay wissen wir, dass in den meisten Fällen gegen die Anwendungsvorschriften des Herstellers verstoßen wurde: Das Arzneimittel wurde vielfach nicht in richtiger Dosierung und nicht unter Beachtung der im Beipackzettel angegebenen Wechselwirkung mit dem Wirkstoff Gemfibrozil angewandt. (Und leider auch von Ärzten falsch verordnet und von Apothekern nicht beanstandet!) Die eingetretenen Probleme sind in diesen Fällen also nicht dem Medikament, sondern falscher Anwendung anzulasten. Es handelt sich somit nicht um medikamentenbedingte Nebenwirkungen im Sinne der WHO-Definition.

Bei der Beurteilung von Arzneimittelschäden sollten wir uns endlich angewöhnen, zwischen dem Schaden, den das Arzneimittel dem Patienten, und dem Schaden, den der Arzt oder der Patient dem Arzneimittel zufügt, zu unterscheiden. Das Ausmaß eines Arzneimittelzwischenfalls kann als Verlust einer absoluten Anzahl von Menschenleben oder als ein Todesfall pro Gesamtzahl der dieses Medikament verwendenden Personen ausgedrückt werden. Die absolute Häufigkeit erregt die Medien, das relative Auftreten beschäftigt die Statistiker: Bei Entscheidungen über Risiken sollte vermehrt auf Inzidenzziffern, also auf relative Verhältniszahlen abgestellt werden. Unterstellten wir, dass die diskutierten 100 Todesfälle durch Lipobay ursächlich hervorgerufen wurden (was nicht der Fall ist!), so betrüge das Sterberisiko bei diesem Präparat etwa 1:60 000. Ein Todesrisiko in der Größenordnung von 1:10 000 bei langjähriger kontinuierlicher Anwendung wird von Arzneimittel-Experten als akzeptables Risiko angesehen.

Jeder Arzneimittelzwischenfall führt in der Krise zu einem enormen Bedarf an unmittelbarer Handlung und Information. Der notwendige Mut für eine angemessene Entscheidung wird dadurch verhindert, dass jedermann in einer Kontrollbehörde oder Firma weiß, dass er am Schluss für die falsche Entscheidung zur Rechenschaft gezogen werden kann. Deswegen begegnen wir im Krisenmanagement von Staat und Industrie dem Phänomen, bei der Beurteilung der Lage erst einmal von der schlechtesten Alternative auszugehen und ohne Kosten und Mühen zu scheuen die weitreichendsten Entscheidungen zu treffen.

Was sei mit alledem gesagt? Dass man nicht glauben darf, dass jede unter öffentlichem Druck herbeigeführte Entscheidung auch gerechtfertigt war. Meist beseitigt sie nur ein Scheinrisiko, nicht eine wirkliche Gefahr und kostet zudem sehr viel Geld. Bei einem Arzneimittel kommt hinzu, dass sein angeordneter Rückruf beziehungsweise seine freiwillige Rücknahme nicht eine Reduzierung, sondern nur eine Verschiebung von Risiken bedeutet. Und eine Einschränkung unserer Behandlungsmöglichkeiten.

Nein, die Rücknahme von Lipobay war keine seinem Risiko angemessene und aus Sicht der Patienten verantwortungsvolle Reaktion.

Klaus Heilmann

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