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Die zweite Augustwoche 2001 wird in die Firmengeschichte der Bayer AG eingehen: das Unternehmen nahm freiwillig eines seiner hoffnungsvollsten umsatzstarken Arzneimittel, Lipobay bzw. Baycol mit dem Wirkstoff Cerivastatin weltweit (außer Japan) vom Markt – und kam damit wohl einer Entscheidung der Behörde zuvor. 31 Todesfälle werden in den USA mit der Einnahme des Präparats in Verbindung gebracht.

Vorbote des Desasters war ein Rote-Hand-Brief Anfang Juli, mit dem Bayer auf die Interaktion von Cerivastatin mit Gemfibrozil und die Gefahr der Rhabdomyolyse hinweist und die gleichzeitige Gabe als Kontraindikation ausweist. Auf die mögliche Interaktion mit dem Lipidsenker Gemfibrozil, die zu der zwar seltenen aber dennoch lebensbedrohlichen Nebenwirkung, dem erhöhten Risiko von Myopathien/Rhabdomyolysen führen kann, wird im übrigen in der Produktinformation aller Statine hingewiesen. Diese Nebenwirkungen sind bei Cerivastatin jedoch ausgeprägter als bei anderen auf dem Markt befindlichen Statinen. Doch der Rote-Hand-Brief konnte den Absturz des Präparats letztendlich nicht mehr verhindern.

Ein harter Schlag für Bayer, der Umsatz sollte in diesem Jahr bei 1 Milliarde Euro liegen. Weitere umsatzstarke Präparate des Konzerns wie Ciprobay und Adalat schwächeln, Umsatzeinbrüche wegen Produktionsproblemen gab es beim gentechnisch hergestellten Blutgerinnungsfaktor VIII-Präparat Kogenate. Analysten sehen in den nächsten Jahren bei diesem Unternehmen kein starkes Wachstum, große Neueinführungen wie ein neues Antibiotikum oder ein Asthmamittel sind erst für 2004 vorgesehen – lediglich die für das nächste Jahr vorgesehene Einführung des Potenzmittels Vardenafil könnte ein Hoffnungsschimmer sein.

Der Alptraum für das Pharmaunternehmen ist eingetreten und wird Folgen haben, zunächst für Bayer selbst. Umsatzverluste, umsatzschwache Präparate und möglicherweise Schadensersatzklagen in den USA werden zu einer Überprüfung der Konzernstrategie führen. Das Unternehmen wird darüber nachdenken, ob es auch weiterhin eine Aufspaltung in ein Pharma-, Chemie- und Agrarunternehmen ablehnt. Manche Analysten sehen Bayer nach einem Kurssturz der Aktie um rund 17% schon als preiswerten Übernahmekandidat. Bayer wird in den nächsten Jahren, wie angekündigt, verstärkt ein Sparprogramm fahren müssen mit Standortschließungen und Konzentrationen von Aktivitäten.

Neben den Schwierigkeiten, die dem Konzern daraus erwachsen, wird man erneut darüber diskutieren müssen, wie man die Beachtung von Nebenwirkungen und die Einhaltung von Anwendungsbeschränkungen sicherstellt und kontrollieren kann. Ein neues Arzneimittel durchläuft bekanntlich vor seinem Markteintritt ein umfangreiches mehrjähriges Prüfprogramm in mehreren Phasen. Pharmakritikern ist jedoch auch das noch zu gering. Eine vollkommene Sicherheit allerdings kann es nicht geben. Manche Nebenwirkungen zeigen sich erst nach Anwendung an tausenden von Patienten. Jede Markteinführung einer Innovation ist vor diesem Hintergrund auch eine Risiko-Nutzen-Abschätzung. Wird ein Präparat mit Auflagen zugelassen, steht die Einhaltung der Beschränkungen im Vordergrund. Da zeigt es sich, wie wichtig Interaktionschecks durch den Arzt und in der Apotheke sind – auch hier kann man über Verbesserungen diskutieren.

Zu den Folgen der Lipobay-Rücknahme gehört die Kritik an der Bayer-Informationspolitik. Die Fachkreise, Ärzte und Apotheker, die als erste über einen Rückruf informiert sein sollten, erfuhren die Marktrücknahme aus der Presse – oder von ihren Patienten. Das ist irritierend und enttäuschend für die Marktpartner. Bayer bedauert diese Informationspolitik, beruft sich aber auf Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes, das dem Unternehmen die unverzügliche Bekanntgabe kursrelevanter Tatsachen in einem vorgegebenen Verfahren vorschreibt. Bayer wollte durch seine Kommunikationsstrategie der Schaffung von "Insider-Tatbeständen" vorbeugen. Hier sitzt ein börsennotiertes Unternehmen tatsächlich in der Zwickmühle. Würden Insider, die zugleich Aktionäre sind, früher informiert als die übrigen Aktionäre, hätten sie bei der Ausrichtung ihrer Wertpapierstrategien einen Vorsprung. Vielleicht lässt sich das durch einen effizienteren Einsatz der neuen Kommunikationsmedien so verbessern, dass zumindest die Presse und die Fachkreise zur gleichen Zeit informiert werden.

Fahrlässig ist die Art und Weise, wie die AOK Schleswig-Holstein den Lipobay-Rückruf ausschlachtete. In einem Rundfunk-Interview hatte sie dazu aufgerufen, Lipobay nicht mehr einzunehmen und auch keine anderen Statine mehr. Die Patienten sollten sich nach Ansicht ihrer Gesundheitskasse statt dessen körperlich bewegen und eine fettarme Diät bevorzugen. Ich denke, die Kasse hat hier medizinische Lücken über die Indikation dieser Präparate. Sie versucht den Lipobay-Rückruf als willkommene Gelegenheit zu nutzen, Ausgaben für Statine einzusparen. Ein Mediziner kommentiert dies mit "übler Verharmlosung des Problems und einer Gesundheitskasse unwürdig". Wie wahr.

Peter Ditzel

Der Absturz - und die Folgen

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