DAZ aktuell

Fraglich: Zusammenhang zwischen Anwendung und Nebenwirkung (DAZ-Interview)

Nach der Rücknahme des COX-2-Hemmers Rofecoxib (Vioxx) vom Markt stellt sich erneut die Frage: Wie gefährlich sind neue Arzneimittel tatsächlich? Wie sieht die Nutzen-Risiko-Abwägung aus? Ist es ein Widerspruch, wenn der Hersteller von Vioxx sein Präparat vom Markt nimmt, aber Zusammenhänge mit Todesfällen bestreitet? Wir unterhielten uns über diese Fragen mit dem Risikoforscher Professor Heilmann.

DAZ

Nach Lipobay nun Vioxx, wieder ein Arzneimittelzwischenfall. Von Toten berichtet die Publikumspresse. Herr Professor Heilmann, wie sicher sind unsere Arzneimittel überhaupt noch?

Heilmann:

So sicher, wie Arzneimittel überhaupt sein können. Arzneimittel sind Gifte, nützliche Gifte. Wären sie das nicht, könnte man sie nicht gegen Krankheiten nutzen. Wer das nicht akzeptieren will, muss auf ihre Anwendung verzichten. Bei ernsteren Erkrankungen und chronischen Krankheiten ist das Nichtstun aber sicher die schlechteste Alternative.

DAZ

Fragen wir anders. Wie gefährlich sind Medikamente im allgemeinen?

Heilmann:

Über den Nutzen und Schaden medikamentöser Behandlung gibt es - im Gegensatz zu chirurgischen Behandlungsverfahren - wenig verlässliche Daten. Deshalb sind wir bei Risikoaussagen sehr wesentlich auf epidemiologische Untersuchungen, klinische Studien sowie die Schätzungen von Experten angewiesen. Das tödliche Risiko der meisten für schwere beziehungsweise chronische Krankheiten zugelassenen Medikamente - also auch für die nichtsteroidalen Rheuma- und Schmerzmittel - bewegt sich bei mehrjähriger Behandlungsdauer etwa zwischen 1 : 10.000 und 1 : 100.000 pro Jahr.

DAZ

Was ist nach Ihrer Meinung an den Medienberichten über Vioxx dran?

Heilmann:

Das ist schwer zu sagen. Denn wo publizistischer Alarm ein Arzneimittel in die Schlagzeilen bringt, noch dazu von einem staatlichen Institut, das zu einem besonders sorgfältigen Umgang mit Daten und Informationen verpflichtet sein sollte, da ist eine nüchterne Nutzen-Risiko-Abwägung meist nicht möglich. Einerseits üben Medien, Politik, Patientenorganisationen und vor allem die so genannten alternativen Kritiker auf Hersteller und Kontrollbehörde einen enormen Druck aus, der eine rasche Entscheidung erforderlich macht, andererseits ist die Situation unübersichtlich und die Datenlage meist unvollständig. Zudem unterschiedlich interpretierbar, je nach den Zielen, die von den einzelnen Beteiligten verfolgt werden.

DAZ

Merck & Co. Inc., in Deutschland MSD, der Hersteller von Vioxx, hat das Präparat freiwillig zurückgezogen. Lässt dies nicht doch darauf schließen, dass an den in den Medien erhobenen Vorwürfen etwas dran ist?

Heilmann:

Auf Vioxx trifft diese Vermutung eher nicht zu, denn die Medienberichte sind eine Reaktion auf die freiwillige Rücknahme, nicht aber wurde diese von den Medien erzwungen. Das Schlimme ist, dass ein solcher Schritt von der Öffentlichkeit niemals honoriert, sondern immer als Schuldbekenntnis des Herstellers gewertet wird.

DAZ

MSD bestreitet den Vorwurf fahrlässigen Handelns und die publizierten Toten energisch, bleibt aber dennoch bei der Rücknahme. Ein Widerspruch?

Heilmann:

Ein scheinbarer. Die Rücknahme eines Medikaments durch seinen Hersteller ist heutzutage weniger das Ergebnis von Daten aus Studien und der Meinungen medizinischer Experten, sondern beruht in erster Linie auf wirtschaftlichen Überlegungen und juristischen Empfehlungen. Auch die Börse und der Aktienkurs spielt mittlerweile eine Rolle. Dem Image des Unternehmens kommt dies alles natürlich nicht zugute.

DAZ

Sie beschäftigen sich seit über 20 Jahren mit Konflikten und Krisen und haben darüber viel publiziert. Was ist das Besondere an Arzneimittelzwischenfällen?

Heilmann:

Öffentliche Auseinandersetzungen um Risiken für die Gesundheit - BSE, genmanipulierte Nahrungsmittel, Medikamente - besitzen Merkmale, die sie von anderen gesellschaftspolitischen Streitfragen unterscheiden. Auf der einen Seite beziehen sich die Konfliktparteien regelmäßig auf wissenschaftliche Daten, Theorien, Methoden und ethische Aspekte, so dass den Experten in den Auseinandersetzungen eine hohe Bedeutung zukommt. Auf der anderen Seite lassen die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die umstrittenen Risiken genug Raum für unterschiedliche Interpretationen.

Die richtige Einschätzung gesundheitsbedrohender Risiken wird noch dadurch erschwert, dass es nicht allein um die unterschiedliche Beurteilung von Nutzen und Schaden, sondern auch um die Verfolgung ökonomischer und politischer Interessen geht. Hinzu kommt, dass das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung erheblich gestiegen ist, ganz besonders für Nahrungsmittel und pharmazeutische Produkte. Dies alles führt dazu, dass Entscheidungen im Konfliktfall immer wieder zu teilweise erbitterten Kontroversen führen.

DAZ

Bei denen aber die Kritiker immer eine gute Figur machen.

Heilmann:

Klar, weil sie sich um die Folgen ihres Handelns wenig bis gar nicht zu kümmern brauchen. In der öffentlichen Diskussion sind sie immer im Vorteil, denn sie können sich darauf berufen, an höheren moralischen Kriterien orientiert zu sein, als es die meisten Wissenschaftler, Politiker und Industriebosse sind. Sollten sich ihre Schlussfolgerungen im Nachhinein als falsch erweisen oder ihre Voraussagen nicht eintreffen, dann kann die Fehlanalyse schon aus diesem Grund für sie nie zu einem persönlichen Problem werden.

DAZ

Es wird davon gesprochen, dass bestimmte Erkenntnisse, die jetzt zur Rücknahme führten, dem Hersteller schon früher vorlagen.

Heilmann:

Davon wird in solchen Situationen immer gesprochen, das ist nicht neu. Eine klinische Studie, die zur Klärung bestimmter Fragen unternommen wird, benötigt hierfür Zeit. Jede in einer Studie auftretende unerwünschte Wirkung ist zunächst nichts anderes als ein unerwünschtes Ereignis. Es kann mit dem Wirkstoff des Arzneimittels in Zusammenhang stehen, muß es aber nicht. Es kann vielerlei Ursachen haben, wie auch die gleiche Ursache verschiedene Ereignisse hervorrufen kann. Nur Beobachtung über lange Zeit kann zeigen, ob das Ereignis mehr als nur Ereignis ist, also ein wirkliches Problem darstellt, das zum Handeln - Abbruch einer Studie, Zurücknahme eines Medikaments - zwingt. Jedes dieser unerwünschten Ereignisse ist ein Mosaiksteinchen und erst viele solcher Steinchen ergeben ein Bild, das uns etwas signalisiert. Und auf ein solches Signal hat MSD umgehend reagiert und mit der Rücknahme seines Produkts, wie ich meine, einen verantwortungsbewussten Schritt getan.

DAZ

Ist es nicht auch ein Problem, dass solche Studien von den Experten meist kontrovers diskutiert werden?

Heilmann:

Ein großes. Denn nur selten sind sich die Experten über die Bedeutung des Gefundenen einig. Hier ist es wie in der Analytik. Das Messen beziehungsweise Finden - beispielsweise eines Schadstoffs im Wasser oder das Auftreten von Thrombosen bei den Studienprobanden - ist die eine Sache, die Bewertung des Gemessenen beziehungsweise Gefundenen des Schadstoffs für unsere Gesundheit und der Thrombosen für die Entstehung von Schlaganfällen aber eine ganz andere.

DAZ

Sie wollen also sagen, dass die Zusammenhangsfrage oft schwer zu beurteilen ist?

Heilmann:

Es kann nur sehr selten von einem gesicherten Zusammenhang zwischen Medikamentenanwendung und medikamentenbedingter Nebenwirkung ausgegangen werden. Es gibt aber noch eine andere Schwierigkeit, die wenig beachtet wird. Ich erkläre es an einem Beispiel: Frauen im Alter von 60 Jahren haben ein Todesrisiko von 1 : 100, das heißt, von hundert 60-jährigen Frauen stirbt eine innerhalb eines Jahres. Würden nun zehntausend 60 Jahre alte Frauen ein Arzneimittel gegen eine nicht lebensbedrohende Krankheit einnehmen, so muss statistisch damit gerechnet werden, dass während dieses Jahres durchschnittlich hundert Frauen sterben. Die Schwierigkeit liegt nun darin, zu entscheiden, ob die Todesfälle sowieso oder arzneimittelbedingt aufgetreten sind.

DAZ

Herr Professor Heilmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.