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Der "Fall" Lipobay – wer ist der nächste auf der Anklagebank? (Kommentar)

Vieles von dem, was von Politikern, Journalisten und Kontrollbeamten zum "Fall" Lipobay zu hören oder lesen ist, besitzt den Charme von Unkenntnis und Realitätsferne. Deshalb dies: Es ist eine nicht zu ändernde Tatsache, dass sich in klinischen Studien die Arzneimittelwirksamkeit relativ gut, das Arzneimittelrisiko hingegen nur unzureichend einschätzen lässt, dass also die Zulassung eines Medikaments notgedrungen auf unvollständigen Daten und Erkenntnisse erfolgen muss.

Nur Experten wissen dies, während die Öffentlichkeit verständlicherweise annehmen muss, dass ein Arzneimittel, das einem langen und kostspieligem Prüfprozess unterworfen wurde und schließlich von der Kontrollbehörde für unbedenklich befunden und zugelassen wird, auch unbedenklich ist. In diesem Unterschied zwischen Realität und Erwartung ist die Ursache für die meisten Kontroversen über die Arzneimittel und ihre Sicherheit zu sehen.

Natürlich kann man – wie auch jetzt wieder lautstark gefordert wird – vor der Markteinführung die klinischen Prüfzeiten verlängern und die Probandenzahlen erhöhen, muss sich dann aber auch fragen, wer es bezahlen soll. Wir erhöhen durch immer mehr Auflagen zwar die Sicherheit, vergessen aber dabei die Opfer, die inzwischen sterben. Das ist das, was heute unter Arzneimittelsicherheit verstanden wird.

Kennzeichen der meisten Arzneimittelzwischenfälle ist es, dass zwischen der Einnahme einer Substanz und dem Auftreten einer unerwünschten Wirkung nur selten eine in jedem Einzelfall nachweisbare ursächliche Beziehung besteht. Somit gilt es, zwischen dem Medikament als mögliche Risikoquelle und dem Auftreten der Nebenwirkung eine statistische Beziehung herzustellen, was nur dann möglich ist, wenn das Ereignis mehrmals auftritt. Vor allem, wenn Konsequenzen aus Nebenwirkungen – genauer gesagt aus Ereignissen, die in Zusammenhang mit einer Medikamenteneinnahme auftreten – gezogen werden sollen, setzt dies voraus, dass die Zusammenhangsfrage befriedigend gelöst worden ist. Das heißt insbesondere, dass mit ausreichender Sicherheit die dem Medikament angelastete Nebenwirkung gegenüber anderen Ursachen oder Teilursachen – insbesondere der Krankheit selbst sowie gleichzeitig verwendeten weiteren Medikamenten – abgegrenzt wurden. Solche Beurteilungen erfordern sehr viel klinische und epidemiologische Erfahrung und noch viel mehr Zeit.

Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation ist eine Nebenwirkung "jede schädliche und unbeabsichtigte Reaktion, die durch die übliche Dosierung eines Medikamentes ... ausgelöst wird." Die "Sicherheit" eines Arzneimittels hängt also ganz wesentlich davon ab, dass es bestimmungsgemäß und nach den Vorschriften des Herstellers angewandt und verordnet wird. Da wir wissen, dass die Falschanwendung die weitaus häufigste Ursache für Arzneimittelzwischenfälle ist, müssen sich Patienten wie (noch mehr) Ärzte fragen lassen, wie zuverlässig sie im Falle Lipobay die Warnhinweise des Herstellers im Beipackzettel eigentlich befolgt haben. Was damit gesagt sein soll: ein wirksames Arzneimittel ist kein belangloser Konsumartikel. Bei entsprechender Sorgfalt sowohl bei der Verordnung als auch bei der Anwendung können die meisten Zwischenfälle vermieden werden, die zwar immer dem Medikament angelastet werden, ihm aber eigentlich nicht anzulasten sind. Auch der Hersteller hat ein Recht auf den Schutz seines Produktes, das nicht zuletzt ein wertvolles Allgemeingut ist.

Bei der Frage, ob ein Medikament (meist unter öffentlichem Druck) vom Hersteller "freiwillig" zurückgezogen oder von der Kontrollbehörde vom Markt genommen werden soll oder nicht, sind Alles-oder-Nichts-Entscheidungen für den Patienten fast immer schlechte Lösungen. Der differenzierte und eingeschränkte Einsatz ist dem Totalverzicht wenn immer möglich vorzuziehen, denn schließlich besitzt auch dieses Medikament einen Nutzen, sonst wäre es überhaupt nie zugelassen worden. Entscheidend muss die Antwort auf die Frage sein: Wie wichtig ist uns dieses Arzneimittel heute? Oder anders ausgedrückt: Ist das beobachtete Risiko sowohl hinsichtlich seiner Schwere als auch der Häufigkeit seines Auftretens tragbar? Es ist einleuchtend, dass die Diskussion hierüber immer kontrovers geführt werden wird.

Eine verantwortungsvolle Chancen-Risiko-Analyse muss daher sämtliche für den jeweiligen Indikationsbereich verfügbaren Präparate berücksichtigen, denn die Rücknahme eines Medikamentes vom Markt hat die Umstellung meist sehr vieler Patienten auf andere Präparate zur Folge. Es müssen also auch die Chancen und Risiken derjenigen Mittel bewertet werden, auf die Ärzte und Patienten ggf. ausweichen würden. Hierbei muss man sich aber im Klaren darüber sein, dass dieser Schritt für die Patienten nicht in jedem Fall eine Minimierung bzw. Eliminierung des Medikamentenrisikos bedeutet, sondern meist nur zu einer Verschiebung von Risiko führt.

Niemand, vor allem nicht die Konkurrenz, sollte über den "Fall" Lipobay Schadenfreude empfinden, denn jeder kann der Nächste sein, der unversehens auf die Anklagebank gerät. Die Öffentlichkeit aber muss wissen, dass Pharmaunternehmen, die in zunehmendem Maße zu befürchten haben, dass ihre Produkte beim Auftreten von unvorhersehbaren Problemen auch ohne Kausalitätsnachweis Gefahr laufen, vom Markt genommen zu werden, in Zukunft vermutlich genauer prüfen werden, ob sich das unternehmerische Risiko, neue Arzneimittel zu entwickeln, überhaupt noch lohnt.

Kastentext: Literaturtipp

Professor Heilmann ist Autor des Buchs "Medikament und Risiko – wie bitter sind die Pillen wirklich?", Edition medpharm, Stuttgart, zu beziehen über die Buchhandlung des Deutschen Apotheker Verlags Stuttgart.

Der Risikoforscher Prof. Dr. Klaus Heilmann nimmt in einem Kommentar Stellung zum "Fall" Lipobay. Zu seinen Kernaussagen gehört die Feststellung, dass die Sicherheit eines Arzneimittels ganz wesentlich davon abhängt, dass es bestimmungsgemäß und nach den Vorschriften des Herstellers angewandt und verordnet wird. Außerdem: Es müssen auch die Chancen und Risiken derjenigen Mittel berücksichtigt werden, auf die Ärzte und Patienten ausweichen.

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