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Harald G. Schweim, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), äußert sich am 27. August 2001 zu dem im Zusammenhang mit dem Lipobay-Rückzug erhobenen Vorwurf, die Arzneimittel seien in Deutschland unsicher und nicht ausreichend getestet:

Wenn dieser Eindruck entstanden sein sollte, wäre er grundfalsch. Die Arzneimittelsicherheit in Deutschland, in Europa und darüber hinaus ist höher als je zuvor. Wenn man hochwirksame Medikamente haben will für bisher schwer oder nicht behandelbare Krankheiten, wird man leider mit Fällen wie Lipobay leben müssen. Arzneimittel, die hochwirksam sind und völlig ohne Nebenwirkungen, kann es nicht geben.

Verbessern kann man in diesem System sicher die Meldekultur und die Datenlage. Denn die beobachteten Nebenwirkungen können viele Gründe haben. So lässt eine gute Vermarktung des Mittels automatisch die Zahl der Nebenwirkungsfälle ansteigen, weil mehr Menschen dem Arzneimittel ausgesetzt sind. Man braucht also eigentlich immer Verordnungszahlen dazu. Deshalb wäre eine internationale Datenbank mit bewerteten Einzelfalldaten eine Verbesserung. Diskussionswürdig, aber vermutlich teuer, wäre die Einrichtung von Pharmakovigilanzzentren, in denen beispielsweise an einer Klinik alle Einweisungs- und Entlassungsdiagnosen überprüft werden auf Zusammenhänge mit Arzneimittelnebenwirkungen.

Die Welt, die am 27. August auch ein Interview mit ABDA-Präsident Friese zum Arzneimittelpass veröffentlicht hat, kommentiert die Diskussion um den Arzneimittelpass unter dem Titel "Gesunde Informationen":

Das ist eine durchaus sinnvolle Maßnahme. Mehr Transparenz ist der Tribut an die erhöhte Sicherheit beim Umgang mit Medikamenten. Doch die Vision vom gläsernen Patienten schürt noch immer Ängste und fördert bei Patienten das Gefühl, ihren Ärzten hilflos ausgeliefert zu sein.

Dabei hat der Arzneimittelpass mit dem Impfpass einen wenig spektakulären und bewährten Vorläufer. Möglichst jede Impfung wird in diesem Pass akribisch vermerkt, und es ist eine Selbstverständlichkeit, dieses Dokument bei verschiedenen Ärzten vorzulegen, um die Notwendigkeit einer Impfung abzuklären. Dabei könnte, wer wollte, natürlich aus den Daten im Impfpass Rückschlüsse auf Reiseziele und berufliche Risiken schließen. Ein akribisch geführter Arzneimittelpass kann dazu beitragen, die medikamentöse Therapie zu optimieren.

Als "Schnellschuss" bezeichnet die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. August die Überlegungen zur Einführung eines Arzneimittelpasses: Plötzlich macht sie (die Bundesgesundheitsministerin; Anm. d. Red.) den Vorschlag, einen Arzneimittelpass einzuführen. Auf einer Chipkarte soll gespeichert werden, welche Medikamente ein Patient verschrieben bekommt und einnimmt.

Ziel ist es, gefährliche Wechselwirkungen von Arzneimitteln zu vermeiden. Viel mehr erfährt man aber erst einmal nicht: Wie der Pass zum Beispiel mit dem heiklen Thema Datenschutz umgeht, ist völlig offen. Schmidt sagt unbekümmert, solche technischen Angelegenheiten bereiten ihr keine Bauchschmerzen. Dabei vernachlässigt sie, dass ähnliche Vorschläge gerade wegen der Datenschutzfragen zu heftigsten Auseinandersetzungen geführt haben. Man wird den Eindruck nicht los, dass hier übereilt die Öffentlichkeitswirkung des Themas Lipobay für einen unausgegorenen Vorstoß genutzt wurde. Es drängt sich die Frage auf, ob die Pläne für die Chipkarte in einigen Wochen, wenn der Fall Lipobay die Gemüter nicht mehr so erhitzt, nicht schnell wieder an Bedeutung verlieren könnten.

Die Frankfurter Rundschau vom 27. August schreibt zum Thema Lipobay: Lipobay zieht jetzt mediale Kreise und führt zu an Hysterie grenzenden Aufwallungen. Aber das Medikament taugt nun nicht gerade als schlagender Beleg für das Versagen des Systems.

Im Gegenteil. Die unerwünschten Wirkungen waren schon bei der Zulassung bekannt. Bayer hat aus den Risiken auch kein Hehl gemacht. Weil Lipobay der kostengünstigste dieser so genannten Statine war, griffen die Ärzte angesichts drohender Regresse und gedeckelter Budgets auch gerne zu. Doch erkennbar waren einige mit dem Medikament überfordert, verschrieben zu hohe Anfangsdosen und gleichzeitig andere Präparate, die mit Lipobay unverträglich sind. Im Fall Lipobay haben deshalb in erster Linie Ärzte und Apotheker versagt.

Lipobay ist auch ein für die sich wandelnde Pharmabranche immer typischer werdendes Produkt. Die Unternehmen setzten auf Lifestyle-, auf Wohlfühlmedikamente. Sie stärken den Irrglauben daran, dass es für jedes Bedürfnis eine Pillenlösung geben kann. Die Risiken werden dabei gern ignoriert.

Solange Patienten aber im schnellen Griff nach der Medikamentenschachtel eine Art Allheilmittel sehen und Arzneien quasi zu den Grundnahrungsmitteln gehören, statt das Heil in einem verantwortungsvollen Lebensstil zu suchen, wird sich wenig ändern. Denn bei tausenden Arzneien, von denen viele unnütz und überflüssig sind, kann niemand mehr unerwünschte und Wechselwirkungen überschauen. Das Resultat sind allein in Deutschland jährlich 18 000 durch Medikamente verursachte Todesfälle.

Im Zusammenhang mit der Potenzpille Viagra sind inzwischen rund 1000 Todesfälle gemeldet. Doch niemand hat ernsthaft die Rücknahme der Lifestyle-Pille verlangt. Offenkundig sind Menschen bereit, durch ihren Lebensstil bestimmte Risiken in Kauf zu nehmen. Arzneien haben Risiken; je potenter sie sind, desto gravierender sind diese. Viele Menschen sind existenziell auf Medikamente angewiesen. Sie haben einen Anspruch auf größtmögliche Sicherheit. Aber selbst dann werden Todesfälle nie völlig zu vermeiden sein. Denn erst die Markteinführung erweist die Sicherheit eines Präparats. Zu diesem Menschenversuch gibt es keine Alternative.

Eine Wahl gibt es für viele Konsumenten und Patienten aber dennoch: zwischen Medikamenten mit eingebautem – manchmal sogar tödlichem – Risiko und einer gesunden Lebensweise. Dafür ist nicht einmal ein Rezept nötig.

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