Arzneimittel und Therapie

Neue Richtlinien für die HIV-Therapie: "Hit hard and early"

Neue Ergebnisse aus der klinischen und der Grundlagenforschung stellen die häufige Praxis, HIV-Infizierte erst bei Auftreten klinischer AIDS-Symptome zu therapieren, in Frage. Die starke Proliferation des Virus wird als wichtigster pathogenetischer Faktor angesehen. Daher empfehlen viele Experten, so früh wie möglich mit einer aggressiven Therapie zu beginnen. Erstes Mittel der Wahl ist derzeit die kombinierte Gabe von zwei Nukleosidanaloga und einem Proteaseinhibitor mit guter Bioverfügbarkeit.

Die International AIDS Society (IAS) veröffentlichte im Sommer 1996 ihre ersten Richtlinien zur Therapie einer HIV-Infektion. Seitdem liegen neue Informationen über die Pathogenese des HI-Virus vor. Die Methoden zur Bestimmung des HIV-RNA-Spiegels (Viruslast) im Blutplasma wurden optimiert. Wirksamere antiretrovirale Behandlungsregime stehen zur Verfügung. Die IAS beauftragte ein Gremium von Wissenschaftlern aus den USA, die Therapieempfehlungen zu überarbeiten. Kürzlich wurde die neue Strategie bekanntgegeben.

≥Hit hard and early" Entscheidender pathogenetischer Faktor bei einer HIV-Infektion ist die hohe Proliferationsrate des Virus. Die Bestimmung der Plasmaviruslast dient daher als Surrogatmarker für das Progredienzrisiko zum Vollbild AIDS. Doch auch bei geringer Konzentration im Blutplasma kann die HIV-RNA in anderen Geweben aktiv repliziert werden. Die lokale HIV-RNA-Replikation im Liquor und im genitalen Trakt wird durch lokale Vorgänge beeinflußt, beispielsweise durch eine zusätzliche sexuell übertragene Krankheit beim Genitaltrakt. Auch in lymphoidem Gewebe ist trotz geringer Kopienzahl im Plasma eine intensive Proliferation des Virus beobachtet worden. Die Vermehrung des Erregers in CD4+-T-Lymphozyten führt zu einer Zerstörung dieser Zellen. Ist die Anzahl der naiven CD4+-Zellen schon stark abgesunken und das Gesamtrepertoire an T-Zellen eingeschränkt, so sind diese Defekte nicht sofort durch eine antiretrovirale Therapie korrigierbar. Daher sollte mit einer antiretroviralen Behandlung begonnen werden, bevor irreversible Immunschäden entstanden sind. Durch eine Kontrolle der Virusreplikation verringert sich auch die Gefahr, daß resistente Stämme entstehen. Es wird geschätzt, daß aufgrund der hohen Fehlerrate der Reversen Transkriptase jedes Basenpaar des Virusgenoms täglich einmal mutiert wird. Die Befunde sprechen dafür, die Virusreplikation so früh und so gut wie möglich zu supprimieren und den Surrogatmarker Plasma-Viruslast unterhalb der Nachweisgrenze (etwa 500 Kopien pro ml) zu halten.

Dreifach-Kombinationstherapie empfohlen Das wirksamste Behandlungsregime, das heute zur Verfügung steht, ist eine Kombinationstherapie aus zwei Nukleosidanaloga und einem Proteaseinhibitor mit hoher In-vivo-Potenz. In einer klinischen Studie konnte durch die kombinierte Gabe von Zidovudin (AZT), Lamivudin (3TC) und Indinavir die HIV-RNA-Konzentration im Plasma bei 85% der Probanden für mindestens 68 Wochen auf unter 500 Kopien pro ml und bei 75% der Probanden unter 50 Kopien pro ml gesenkt werden. Die Studienteilnehmer waren mit Zidovudin vorbehandelt und wiesen CD4+-Zahlen zwischen 50 und 400 Zellen pro µl auf. Das Behandlungsregime ist vermutlich bei Zidovudin-naiven Patienten noch effektiver.

Compliance ist entscheidend Vor Beginn einer solchen Therapie sollte die Patientencompliance abgeklärt werden. Bei mangelhafter Compliance ist das Risiko groß, daß sich resistente Stämme durchsetzen und die Lymphknoten neu besiedeln. Da zwischen allen derzeit verfügbaren Proteasehemmern Kreuzresistenzen bestehen, gibt es dann keine weiteren hochwirksamen Therapieoptionen mehr. Alternativ zur Therapie mit einem Proteaseinhibitor ist die Kombination aus zwei Nukleosidanaloga und einem nichtnukleosidischen Inhibitor der Reversen Transkriptase (NNRTI) möglich. NNRTIs sind besonders wirksam, wenn sie mit Medikamenten kombiniert werden, mit denen der Patient nicht vorbehandelt wurde. Bei Monotherapien oder Kombinationstherapien, die die Replikation nur partiell supprimieren, können sich resistente Varianten leichter durchsetzen, wodurch spätere Therapieoptionen ausgeschlossen werden.

Wann sollte mit einer Therapie begonnen werden? Grundsätzlich sollte jedem HIV-Infizierten eine Therapie angeboten werden. Eine Therapie wird für alle HIV-Patienten empfohlen, deren HIV-RNA-Konzentration über 5000 bis 10000 Kopien pro ml Plasma liegt. Bisher lag die Grenze bei 30000 bis 50000 Kopien pro ml. Der Bestimmung der Viruslast sollten mindestens zwei Messungen mit dem gleichen Testverfahren im gleichen Labor zugrunde liegen, da die Ergebnisse in Abhängigkeit vom verwendeten Assay variieren. Auch Therapieverläufe sollten immer mit demselben Assay überprüft werden. Bei Patienten, deren Progressionsrisiko niedrig eingestuft wird, kann eine Therapie aufgeschoben werden. Dazu zählen Patienten mit niedriger HIV-RNA-Konzentration im Plasma und hohen CD4+-Zellzahlen. Diese Parameter sollten alle 3 bis 6 Monate überprüft werden. Patienten mit klinischen Symptomen oder mit CD4+-Zahlen unter 350 bis 500 Zellen pro µl sollten in jedem Fall therapiert werden.

Therapieversagen Da es das Ziel ist, die Virusreplikation strikt unter Kontrolle zu halten, ist eine Umstellung der Therapie indiziert, wenn die Viruslast nach bereits erfolgreicher Behandlung erneut ansteigt. Dies deutet darauf hin, daß sich resistente Stämme durchsetzen. Eine Umstellung der Behandlung sollte geschehen, solange die HIV-RNS-Kopienzahl noch niedrig ist. Als Schwellenkonzentration gilt der Anstieg über 2000 bis 5000 Kopien pro ml Plasma bei Patienten, deren Viruslast zuvor unterhalb der Nachweisgrenze lag, und auf 5000 bis 10000 Kopien bei Patienten, deren Viruslast bereits stark reduziert war. Auch wenn die Viruslast sich nach Therapiebeginn nur unbefriedigend verringert, sollte das Regime gewechselt werden. Es muß jedoch beachtet werden, daß es bei Patienten, deren Viruslast bei Therapiebeginn schon recht hoch war, bis zu 24 Wochen dauern kann, bis die Therapie den maximalen Erfolg zeigt. Bei einem Abfall der CD4+-Zahl oder einer Progression der klinischen Symptome ist eine Umstellung des Behandlungsregimes ebenfalls geboten.

Vor einer Umstellung sollte überprüft werden, ob tatsächlich ein Therapieversagen aufgrund von Resistenzentwicklung vorliegt oder ob andere Gründe wie mangelhafte Compliance oder eine kürzlich erfolgte Impfung zum Anstieg der Viruslast führten. Eine Klärung der Ursachen hilft, die richtige Alternativbehandlung auszuwählen. Da nur wenige Therapieoptionen zur Verfügung stehen, ist dies von entscheidender Bedeutung.

Umstellung einer Therapie Bei Therapieversagen aufgrund von Resistenzen sollten wenigstens zwei Arzneistoffe ausgetauscht werden. Besser ist die Umstellung des gesamten Behandlungsregimes. Von der additiven Gabe eines Wirkstoffes wird unbedingt abgeraten.

Bei mangelhafter Compliance aus psychosozialen Gründen genügt es oft, ein einfacheres Behandlungsregime auszuwählen. Auf Dauer werden damit bessere Erfolge erzielt als mit einem hochwirksamen, in der Praxis aber zu komplizierten Regime. Ist die leichte Toxizität eines Medikamentes die Ursache für eine Noncompliance, so kann dieses eine Medikament ausgetauscht werden.

Treten schwerwiegende toxische Nebenwirkungen auf, so darf auf keinen Fall die Dosis des Proteaseinhibitors reduziert werden. Ist die Toxizität eines sonst erfolgreichen Therapieregimes eindeutig auf eines der Nukleosidanaloga zurückzuführen, so kann dieser eine Arzneistoff abgesetzt und nach Abklingen der Symptome durch eine entsprechende Substanz mit anderem Toxizitätsprofil ersetzt werden.

Therapie einer Akutinfektion Wird eine akute Infektion sofort therapiert, so kann man möglicherweise die Eradikation des Virus erreichen. Allerdings liegen hierzu nur wenige klinische Daten vor. Empfohlen wird eine Dreifachkombination mit einem Proteaseinhibitor. Die Medikation sollte auch dann weiter eingenommen werden, wenn die Viruslast unter die Nachweisgrenze gesunken ist. Wie lange die Therapie fortgesetzt werden muß, kann noch nicht gesagt werden.

Therapie in der Schwangerschaft Wenn eine Therapie für die Gesundheit der Mutter indiziert ist, sollte damit auch während einer Schwangerschaft begonnen werden. Eine bereits vor der Schwangerschaft begonnene Therapie wird fortgesetzt. Bisher liegen nur wenige Daten über Sicherheit und Wirksamkeit einer Therapie während der Schwangerschaft vor. Es ist jedoch bekannt, daß Zidovudin die Übertragung des Erregers auf das Kind verhindert. Da eine Zidovudin-Prophylaxe nach heutigem Wissen keine negativen Konsequenzen für die Entwicklung des Kindes innerhalb der ersten beiden Lebensjahre hat, kann der Wirkstoff in jedes Behandlungsregime während einer Schwangerschaft aufgenommen werden.

Literatur Carpenter, C., et al.: Antiretroviral therapy for HIV infection in 1997. Updated recommendations of the International AIDS Society-USA Panel. J. Am. Med. Assoc. 277, 1962–1969 (1997).

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.