Kommentar

Das Rezepturprivileg – ein Fall für den Gesetzgeber

Süsel - 27.06.2023, 12:15 Uhr

Die Rechtsstreitigkeiten um Opiumtinkturen zeigen: Der Gesetzgeber ist aufgefordert, Klarstellungen bei den Rezepturregeln zu schaffen. (Foto: chamillew / AdobeStock) 

Die Rechtsstreitigkeiten um Opiumtinkturen zeigen: Der Gesetzgeber ist aufgefordert, Klarstellungen bei den Rezepturregeln zu schaffen. (Foto: chamillew / AdobeStock) 


Die jüngste Entscheidung in Sachen Opiumtinktur bringt juristisch keine wesentlichen Neuigkeiten. Doch gerade deshalb wird immer deutlicher, dass der Gesetzgeber gefordert ist, den Rahmen für Rezepturen endlich klarzustellen. Denn der hier umstrittene Fall kann bei einem Versorgungsengpass zum Problem werden. Diese Auffassung erläutert DAZ-Redakteur Dr. Thomas Müller-Bohn in einem Kommentar.

Die Berufungsentscheidung des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 15. Juni zur Opiumtinktur ist noch nicht rechtskräftig und betrifft wieder einmal nur die beklagte Apotheke. Doch sie offenbart erneut ein grundsätzliches Problem in der Auslegung des Arzneimittelrechts, das in einer anderen Konstellation zu einer Gefahr für die Versorgung werden kann. Damit macht das Urteil mehr denn je deutlich, dass hier eine Klarstellung des Gesetzgebers im Interesse der Versorgungs- und Rechtssicherheit nötig ist. Warum ist das so?

Vermischung von Rezepturen und Fertigarzneimitteln

Der Verfasser dieses Kommentars hat die jahrzehntelange Geschichte pharmazeutisch problematischer Auslegungen zum Rezeptur- und Defekturprivileg in zwei Beiträgen in „Arzneimittel & Recht“ (Jahrgang 2021, Nr. 3 und 4) ausführlich dargestellt. Als eine der wesentlichen Fragen erweist sich dabei, wie die Abfüllung von Bulkware rechtlich einzuordnen ist. 

Das individuell bemessene Abfüllen von Bulkware für einzelne Patienten ist eine seit Jahrhunderten etablierte Form der Arzneimittelversorgung, aber ein solches Produkt wurde vom Bundesverwaltungsgericht 1999 als zulassungspflichtiges Fertigarzneimittel eingestuft. Daraufhin driften die Begriffe von Rezeptur- und Fertigarzneimitteln zwischen pharmazeutischer Praxis und abstrakten gerichtlichen Betrachtungen hin und her. Maßstäbe, die pharmazeutisch für Fertigarzneimittel entwickelt wurden, werden auf Rezepturarzneimittel angewendet. Insbesondere wird das ohnehin bereits problembehaftete Kriterium der „wesentlichen Herstellungsschritte“ gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AMG für Defekturarzneimittel damit sogar auf Rezepturarzneimittel übertragen. Dass diese Trennung durchbrochen wird, ist pharmazeutisch höchst unbefriedigend. Auch die jüngste Entscheidung zur Opiumtinktur stützt sich auf das Urteil von 1999.

Prüfung und Verantwortung der Apotheker ignoriert

Außerdem zitiert das Hanseatische Oberlandesgericht eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom September 2012 und erklärt: „Würde durch die Verlagerung einfachster Herstellungstätigkeiten in die Apotheke der für die industrielle Herstellung vorgesehene Schutzmechanismus obsolet, entstünde eine erhebliche Schutzlücke. Es wäre möglich, nicht zugelassene oder sogar solche, deren Zulassung aufgrund schädlicher Wirkungen widerrufen wurde, durch bloßes Umfüllen oder Abpacken zur zulassungsfreien Apothekenrezeptur umzudeklarieren“ (Hanseatisches OLG 3 U 43/21 vom 15. Juni 2023 mit Verweis auf BGH, PharmR 2013, 41 Rn. 33). 

Doch hier ignorieren die Gerichte die anderen zuverlässigen Schutzmechanismen. Denn selbstverständlich gilt das Verbot bedenklicher Arzneimittel gemäß § 5 AMG auch für Rezepturen. Dass dies vor der Herstellung zu prüfen ist, ergibt sich auch aus der Leitlinie der Bundesapothekerkammer zur „Herstellung und Prüfung der nicht zur parenteralen Anwendung bestimmten Rezeptur- und Defekturarzneimittel“. Diese schreibt ausdrücklich die Ablehnung der Herstellung vor, wenn das Rezepturarzneimittel bedenklich oder in seiner Qualität erheblich gemindert ist. 

Als Orientierung dazu veröffentlicht die Arzneimittelkommission Deutscher Apotheker (AMK) regelmäßig eine (nicht abschließende) Liste bedenklicher Arzneimittel. Als Kriterien für die Einstufung als bedenkliches Arzneimittel nennt die AMK insbesondere die Fälle „Eine maßgebliche Zulassungsbehörde hat den Stoff oder die Zubereitung als bedenklich eingestuft“ oder „Die Zulassungen entsprechender Fertigarzneimittel wurden widerrufen oder ruhen“ (vgl. Information der AMK, Bedenkliche Rezepturarzneimittel Stand Mai 2018). Das von den Gerichten angeführte Horrorszenario ist damit ausgeschlossen. 

Zudem ignorieren die Gerichte, dass Apotheker die betreffenden Arzneimittel verantwortlich prüfen, ihren Einsatz hinterfragen und für diese haften und dass bei verschreibungspflichtigen Wirkstoffen der verordnende Arzt als weiterer Heilberufler Verantwortung übernimmt. Im Fall der Opiumtinktur ist zudem bisher unbeachtet geblieben, dass diese Zubereitung im Europäischen Arzneibuch monographiert ist. Wie sollte es wohl ein bedenkliches Arzneimittel in eine Pharmakopöe schaffen? Doch diese Frage wurde nie aufgegriffen.

Gesetzgeber am Zug – im Interesse der Versorgungssicherheit

So haben die Gerichte in vielen Entscheidungen eine eigene Sichtweise neben der pharmazeutischen Praxis entwickelt, die allerdings nur dann relevant wird, wenn jemand den Klageweg beschreitet. Doch das ist nicht nur pharmazeutisch unbefriedigend, sondern birgt eine latente Gefahr für die Versorgung. Bei Lieferengpässen oder bei einer (erneuten) Pandemie kann gerade das technisch recht einfache Umfüllen von Bulkware zur rettenden Option werden. Diese Versorgungsmöglichkeit wird durch die kaum noch überschaubaren praxisfremden Auslegungen des Arzneimittelrechts infrage gestellt. Im Ernstfall darf das aber nicht zum Hindernis werden. Da die Gerichte von jahrzehntealten höchstrichterlichen Entscheidungen nur äußerst selten abweichen, kann nur noch der Gesetzgeber für Klarheit sorgen. 

Spätestens wenn die jüngste Entscheidung zur Opiumtinktur rechtskräftig wird, ist von den Gerichten keine Wendung mehr zu erwarten. Spätestens dann wird das Thema zu einem Fall für den Gesetzgeber. Mit Blick auf die bewährte pharmazeutische Praxis, die Versorgungssicherheit und vor allem auf wichtige Handlungsmöglichkeiten bei Lieferengpässen oder einer Pandemie sollte der Gesetzgeber klarstellen, dass Apotheken auch Bulkware individuell zulassungsfrei abfüllen dürfen. Eine neue engere Formulierung im Sinne vieler Gerichtsentscheidungen wären hingegen kontraproduktiv.

Für den Schutz vor bedenklichen oder sonst problematischen Arzneimitteln gibt es andere wirksame Mechanismen. Die Möglichkeiten der Apotheken sollten hingegen gestärkt und nicht beschränkt werden. Denn das dezentrale Versorgungssystem mit kompetenten Arzneimittelexperten in jeder Apotheke hat sich bewährt und sollte auch genutzt werden. Die Bedeutung der Versorgung – insbesondere in Krisensituationen – und die Wertschätzung gegenüber Apothekerinnen und Apothekern gebietet, dass der Gesetzgeber dabei für Rechtssicherheit und einen klar definierten Rahmen sorgt, der keinen Raum für jahrelange Streitigkeiten um die Auslegung in einfach gelagerten Fällen lässt.


Dr. Thomas Müller-Bohn (tmb), Apotheker und Dipl.-Kaufmann
redaktion@daz.online


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2 Kommentare

Abfüllung von Glucose Briefchen für die Diabetes Diagnose?

von Apotheker Andreas Grünebaum am 27.06.2023 um 19:02 Uhr

Wäre dann nicht auch die Abfüllung von Glucose in Briefchen zur Auflösung in der Arztpraxis keine Rezeptur?
Gerne würden wir diese als nicht plausibel ablehnen, wo es doch Fertigarzneimittel dazu gäbe (#Vermeidungsrezepturen, #Engpässe).

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Rezepturprivileg

von Roland Mückschel am 27.06.2023 um 12:50 Uhr

Da die Justiz offenbar die Deutungshoheit über dieses
Privileg hat und darüber besser als wir Bescheid weiß sollten wir dieses Privileg an selbige abgeben. Die sollen sich selber darum kümmern.

Keine Tätigkeiten mehr aus längst vergangenen Jahrhunderten in deutschen Apotheken.
Gleich lange Spieße.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

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