Amphoterin / HMGB1-Protein

Falsch geladene Proteine als Ursache seltener Erkrankungen identifiziert

Düsseldorf - 28.02.2023, 07:00 Uhr

Die Mutation des HMGB1-Proteins stört nicht nur die Translation, sondern ändert auch physikalischen Eigenschaften des Proteins. (Bild: Christoph Burgstedt / AdobeStock)

Die Mutation des HMGB1-Proteins stört nicht nur die Translation, sondern ändert auch physikalischen Eigenschaften des Proteins. (Bild: Christoph Burgstedt / AdobeStock)


Außer der namensgebenden Tatsache, dass nur wenige Patienten von ihnen betroffen sind, haben Forschende eine weitere mögliche Gemeinsamkeit einiger seltenen Erkrankungen entdeckt: Ursächlich könnten Genmutationen sein, die zu einer falschen Ladung des betroffenen Proteins und damit zu einer Anreicherung im falschen Zellbereich führen. 

Kurze Finger und überzählige Zehen, fehlende Schienbeine und ein verkleinertes Gehirn: Brachyphalangie-Polydaktylie und tibiale Aplasie/Hypoplasie oder kurz BPTA ist eine extrem seltene genetisch bedingte Erkrankung, die mit schweren Fehlbildungen an den Gliedmaßen, dem Gesicht, dem Nerven- und Knochensystem und anderen Organen einhergeht. Weltweit gibt es weniger als zehn dokumentierte Fälle dieser Krankheit. Und doch könnte sie für den Erkenntnisgewinn über die Entstehung dieser und anderer genetischer Erkrankungen von entscheidender Bedeutung sein.

Forschende der Charité haben jetzt gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik (MPIMG) und des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) einen Krankheitsmechanismus der BPTA aufgedeckt, der ebenfalls ursächlich für viele andere, ebenfalls seltene genetische Erkrankungen – und eventuell auch Krebs – sein könnte: Falsch geladene Proteine infolge von Genmutationen bringen die sogenannte Selbstorganisation der Zelle durcheinander und führen so zu den schwerwiegenden Entwicklungsstörungen. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forschenden jetzt im Fachjournal Nature“.

Leserastermutation in der intrinsischen Region

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten das Erbgut von fünf Betroffenen des BPTA-Syndroms und identifizierten für alle ein bestimmtes verändertes Protein – das HMGB1-Protein. HMGB1 steht dabei für High-Mobility-Group-Protein B1. Ein anderer Name ist Amphoterin. Die Funktion dieses Proteins wird weltweit noch intensiv erforscht – es steht unter anderem im Zusammenhang mit der Steuerung der Genexpression, dient aber auch als körpereigener Alarmstoff, der bei Zellnekrose ins Blut freigesetzt wird. Es wird aber auch im Zusammenhang mit der Entstehung von Tumoren diskutiert und hat einen Einfluss auf das Immunsystem. Bekannt ist, dass HMGB1 das Erbgut im Zellkern organisiert und die Interaktion von Molekülen mit der DNA vermittelt.

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Im Fall der Mutationen des Proteins bei den BPTA-Betroffenen fanden die Forschenden allerdings, dass diese vor allem Bereiche des Proteins betreffen, die gar nicht mit der eigentlichen Funktion in Zusammenhang stehen. Stattdessen erkannten die Forschenden anhand der Sequenzierungsdaten, dass hier das Leseraster für das letzte Drittel des HMGB1-Gens verschoben ist. 

Dieser hintere Bereich von Proteinen ist die sogenannte intrinsische Region, ein nicht definierter Abschnitt, der eher wie ein Gummiband aus dem Protein heraushängt und eine ungeordnete dreidimensionale Struktur aufweist. „Die Aufgaben solcher Proteinabschnitte sind schwer zu erforschen, weil sie häufig erst zusammen mit anderen Molekülen ihre Wirkung entfalten“, sagt Dr. Martin Mensah vom Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik der Charité und einer der Erstautoren der Studie.

Falsche Ladung schickt das Protein an die falsche Adresse

Im Fall der BPTA-Betroffenen führte die Rastermutation jeweils dazu, dass dieser Abschnitt nicht wie im Wildtyp durch die enthaltenen Aminosäuren negativ, sondern positiv geladen war. Diese Ladungsänderung hat aber offensichtlich gravierende Folgen. Das Protein findet sich so nun innerhalb der Zelle am falschen Ort wieder – im falschen sogenannten Kondensat. Als zelluläre Kondensate beschreibt man proteinreiche Tröpfchen innerhalb der Zelle, in denen sich immer bestimmte Proteinen aggregieren. 

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Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten in Zellkulturen und mit isolierten Proteinen beobachten, dass das falsch geladene HMGB1 nun Proteinen ähneln, die sich besonders im sogenannten Nukleolus (Kernkörperchen) aufhalten. Dieser ist ein Bereich im Zellkern, der als Produktionsort der Ribosomen-Untereinheiten dient.

Hinzu kommt, dass die Mutation auch die physikalischen Eigenschaften des Proteins verändert – es wird zäher („öliger“ umschreiben es die Forscher) und verklumpt. „Im Mikroskop konnten wir nachvollziehen, dass das Kernkörperchen dadurch seine eigentlich flüssigkeitsähnlichen Eigenschaften verliert und zunehmend erstarrt“, erklärt Dr. Henri Niskanen, Wissenschaftler am MPIMG und ebenfalls Erstautor der Studie.

Mutation mit weitreichenden Folgen

Die Verfestigung des Kernkörperchens beeinträchtigt die Lebensfunktion der Zellen: Mit dem mutierten Protein starben mehr Zellen in der Kultur als ohne die Mutation. Professor Malte Spielmann, Direktor des Instituts für Humangenetik des UKSH, ebenfalls Erstautor der Studie, erklärt: „Wir haben also gezeigt, wie Mutationen in ungeordneten Proteinabschnitten eine Krankheit verursachen können: Durch eine Ladungsänderung sammelt sich das Protein fälschlicherweise im Kernkörperchen an und beeinträchtigt so dessen lebenswichtige Funktion. In der Folge ist die Entwicklung des Organismus gestört.“

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„Was wir bei dieser einen Krankheit entdeckt haben, scheint für viele weitere Krankheiten zu gelten. Es ist also nicht das seltene Einhorn, das es nur einmal gibt. Vielmehr konnten wir das Phänomen bislang nur nicht sehen, weil wir nicht wussten, wie wir danach suchen sollten“, sagt Professor Denise Horn, klinische Genetikerin vom Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik der Charité.

Türöffner für das Verständnis weiterer Erkrankungen

Tatsächlich fanden die Forschenden nach der Recherche in genetischen Datenbanken mehr als 600 Mutationen in 66 Proteinen, in denen das Leseraster durch eine Mutation im Proteinschwanz so verschoben war, dass dieser sowohl positiv geladen als auch zäher wurde. 101 davon hatte man bereits mit verschiedenen Krankheiten in Verbindung gebracht, unter anderem neuronale Entwicklungsstörungen und erhöhte Anfälligkeit für Krebs. 13 davon überprüfte das Forscherteam experimentell und fand ein ähnliches Verhalten wie bei den mutierten HMGB1-Proteinen. 

Damit sehen die Forschenden den nun entdeckten Mechanismus als eine mögliche Ursache für viele seltene genetisch bedingte Erkrankungen an. „Wir stoßen damit eine Tür auf, die zur Aufklärung zahlreicher weiterer Erkrankungen führen könnte. Die eigentliche Arbeit beginnt deshalb erst jetzt“, sagt Horn. Weitere Erbkrankheiten und die daran beteiligten mutierten Proteine wolle man entsprechend nun aufdecken, sagt sie.

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Generell bedürfe es besonders für die Erforschung der Adress- oder Steuersequenzen noch weiterer Forschung. „Wir gehen davon aus, dass es generelle ‚Steuersequenzen‘ gibt, die Proteine in der Zelle zusammenfinden lassen. Wie diese jedoch beschaffen sind, ist noch weitgehend ungeklärt. Unsere Studie zeigt, dass bestimmte Ausprägungen der ungeordneten Bereiche der Proteine eine solche Steuerfunktion haben können. Wir vermuten aber, dass es noch weitere Steuersequenzen gibt. Diese sind schwierig zu finden, weil die Zielangaben über das ganze Protein verstreut sind und die dreidimensionale Struktur des Proteins betreffen. Um die Steuersequenzen zu identifizieren, sind weitere Studien notwendig“, erklärt Horn.

Pathomechanismus eröffnet Ansätze für mögliche Therapien

Therapeutisch ließen sich aus den gewonnenen Erkenntnissen mögliche Forschungsansätze für genetische Erkrankungen und die Tumortherapie ableiten. „Man könnte versuchen, die gestörten Kondensate in Zellen zu beeinflussen oder sogar zu reduzieren. Zum Beispiel, indem man kleine Moleküle (small molecules) in den Nukleolus oder andere Kondensate einschleust, um die normale Funktion wiederherzustellen. Oder indem man die mutierten Proteine von den Kondensaten fernhält. Diese Ideen für Therapieansätze sind erst in der Entwicklung und müssen sich erst einmal in der Zellkultur als wirksam erweisen. Ob diese Therapieansätze in Zukunft bei Patienten angewendet werden können, ist noch vollkommen offen“, sagt die Professorin.


Volker Budinger, Diplom-Biologe, freier Journalist
redaktion@daz.online


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