Einzelfallbericht zu COVID-19 und MS

Reaktiviert SARS-CoV-2 eine Multiple Sklerose?

Stuttgart - 19.02.2021, 07:00 Uhr

COVID-19 verursacht auch neurologische Symptome. Kann SARS-CoV-2 Multiple Sklerose verschlimmern? (Foto: Minerva Studio / stock.adobe.com)

COVID-19 verursacht auch neurologische Symptome. Kann SARS-CoV-2 Multiple Sklerose verschlimmern? (Foto: Minerva Studio / stock.adobe.com)


COVID-19 betrifft vornehmlich die Atemwege, verursacht aber auch neurologische Symptome. Erkranken Patient:innen mit neurologischen Krankheiten – wie Multiple Sklerose – folglich schwer an COVID-19? Triggert SARS-CoV-2 Schübe und gelangen die Viren über eine bei MS-Patient:innen durchlässigere Blut-Hirn-Schranke leichter ins ZNS? Ein Fallbericht einer an COVID-19 erkrankten MS-Patientin entwarnt.

SARS-CoV-2 zeichnet neben schweren Atemwegserkrankungen auch für neurologische Symptome bei COVID-19 verantwortlich: „COVID-19 ist mit einem hohen Prozentsatz an neurologischen Manifestationen verbunden, und deren Bandbreite ist groß“, erklärte Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), im August des letzten Jahres – da wurde eine spezielle S1-Leitlinie zu „Neurologischen Manifestationen bei COVID-19“ vorgestellt.

Gestörte Blut-Hirn-Schranke bei MS: Kommt SARS-CoV-2 leichter ins ZNS?

Was ist mit Patient:innen, die bereits an einer neurologischen Erkrankung leiden – wie MS? Multiple Sklerose ist die häufigste Autoimmunerkrankung des ZNS (Zentralnervensystem), entzündliche Demyelinisierung und Störungen der Blut-Hirn-Schranke (BHS) sind typische Merkmale der Erkrankung, die die Patient:innen zunehmend einschränken. Sind MS-Patient:innen anfälliger für neurologische Komplikationen oder verschlimmert eine SARS-CoV-2-Infektion die MS-bedingte Krankheitsaktivität? Und könnte die erhöhte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke bei MS-Patient:innen sogar begünstigen, dass SARS-CoV-2 leichter ins ZNS gelangt?

Fallbericht einer MS-Patientin mit COVID-19

Daten dazu sind rar, noch dazu widersprüchlich. Wissenschaftler:innen der Neurologischen Kliniken der Universitätsmedizin Mannheim und des Universitätsspitals Basel suchten Antworten auf diese Fragen und untersuchten dafür das Gehirn einer mit COVID-19 verstorbenen 67-jährigen MS-Patientin. Den Fallbericht veröffentlichten sie im Fachjournal „Neurology: Neuroimmunology & Neuroinflammation“ („Presence of SARS-CoV-2 Transcripts on the Choriod Plexus of MS and Non-MS Patients with COVID-19“). Was fanden sie?

Die Patientin

Bei der verstorbenen Patientin (67 Jahre) wurde 1990 eine schubförmige Multiple Sklerose diagnostiziert, sie erhielt seit 1996 eine immunmodulierende Behandlung mit Interferon-β, die sie vor drei Jahren absetzte. Ihre MS-Erkrankung verschlechterte sich klinisch, eine sekundär progrediente MS mit überlagerten Schüben wurde diagnostiziert. 2020 kam sie aufgrund eines Atemwegsinfekts mit Husten, Fieber und Atembeschwerden ins Krankenhaus, wo eine SARS-CoV-2-Infektion bestätigt werden konnte. Die Patientin erhielt versuchsweise Chloroquin und das Antibiotikum Cefepim gegen eine bakterielle Superinfektion. Eine mechanische Beatmung lehnte die Patientin ab, sodass sie 13 Tage nach dem Auftreten von COVID-19 an Atemversagen verstarb.

MS-Läsionen auch nach COVID-19 inaktiv: SARS-CoV-2 reaktivierte die MS nicht

Erwartungsgemäß fanden die Wissenschaftler:innen um Vidmante Fuchs im Gehirn der verstorbenen MS-Patientin die typischen Anzeichen einer fortgeschrittenen MS – ausgeprägter Gehirnschwund in den Frontal- und Schläfenlappen, Schädigungen an für MS typischen Stellen und eine Demyelinisierung der Nervenfasern des Zentralnervensystems in den Bereichen der Läsionen. Alle ausgemachten MS-Läsionen stuften die Wissenschaftler:innen als chronisch inaktiv ein: „Wir fanden weder Anzeichen einer aktiven Demyelinisierung, noch einer Infiltration von Immunzellen“, erklärt PD Dr. Lucas Schirmer von der Universitätsmedizin Mannheim, einer der Studienautoren. Und weiter: „Daraus können wir sicher schließen, dass die Infektion mit SARS-CoV-2 bei dieser Patientin nicht zu einer Reaktivierung der MS geführt hat“.

Blut-Hirn-Schranke blockiert SARS-CoV-2-Übertritt vom Blut ins Gehirn

Die Wissenschaftler:innen machten darüber hinaus eine weitere interessante Beobachtung: Obwohl die Blut-Hirn-Schranke der MS-Patientin innerhalb oder in der Nähe der MS-bedingten Schädigungen durchlässiger war, fanden sie keine SARS-CoV-2-Transkripte im Hirngewebe der Verstorbenen. Doch konnten sie SARS-CoV-2-Bestandteile an der Grenzfläche zwischen Liquor und Hirngewebe nachweisen – und zwar sowohl bei der MS-Patientin mit COVID-19 als auch bei einer an COVID-19 Verstorbenen ohne MS-Erkrankung. Die Forscher:innen schließen daraus, dass die BHS als wichtige Barriere fungiert, die verhindert, dass SARS-CoV-2 aus dem Blut ins Gehirn gelangt.

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Nun könnte es sein, dass aufgrund der fortgeschrittenen COVID-19-Erkrankung keine Viruspartikel nach dem Tod der Erkrankten nachweisbar gewesen sein könnten. Auch handelt es sich um einen Einzelfallbericht von einer langjährigen MS-Patientin mit COVID-19, der keine pauschale Prognose zulässt. Die Autor:innen bedenken zudem, dass sie über einen langjährigen, progredienten Krankheitsverlauf berichteten – künftig müssten Studien auch den Einfluss von SARS-CoV-2 auf MS-Patient:innen mit aktiver Erkrankung fokussieren.

Keine Hinweise, dass sich MS verschlimmert

Dennoch entwarnen die Ergebnisse, fanden die Wissenschaftler:innen doch keine Hinweise, dass sich unter COVID-19 die MS-Erkrankung verschlimmert (Exazerbation) oder Läsionsherde reaktiviert wurden. Ihre Ergebnisse stünden im Einklang mit anderen Untersuchungen. So gibt es aus anderen Studien Hinweise, dass Patient:innen mit Autoimmunerkrankungen nicht häufiger wegen COVID-19 im Krankenhaus behandelt werden müssen als die Allgemeinbevölkerung.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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