Neue Risiken bei MS-Arzneimittel Lemtrada

PRAC prüft Alemtuzumab – und beschränkt die Anwendung

Amsterdam / Stuttgart - 15.04.2019, 16:15 Uhr

Alemtuzumab in Lemtrada soll vorerst nur bei hochaktiven RRMS-Patienten eingesetzt werden, die auf mindestens zwei krankheitsmodifizierende Therapien nicht angesprochen haben oder bei denen Kontraindikationen für alternative „disease-modifying drugs“ bestehen. (b/Foto: Genzyme)

Alemtuzumab in Lemtrada soll vorerst nur bei hochaktiven RRMS-Patienten eingesetzt werden, die auf mindestens zwei krankheitsmodifizierende Therapien nicht angesprochen haben oder bei denen Kontraindikationen für alternative „disease-modifying drugs“ bestehen. (b/Foto: Genzyme)


Lemtrada wird neu bewertet: Der Pharmakovigilanzausschuss PRAC der EMA hat ein Risikobewertungsverfahren für Alemtuzumab bei remittierend schubförmiger Multipler Sklerose eingeleitet. Hintergrund sind neue Berichte über schwerwiegende Nebenwirkungen, die im Zusammenhang mit der Gabe von Alemtuzumab stehen: schwere Schlaganfälle, immunvermittelte Erkrankungen wie Autoimmunhepatitiden, schwere Neutropenien und Arteriendissektionen. Lemtrada soll vorerst restriktiv eingesetzt werden – an welche MS-Patienten denkt die EMA hier?

Der PRAC prüft Alemtuzumab. Der für die Risikobewertung von Arzneimitteln zuständige Pharmakovigilanzausschuss der EMA hat am 12. April ein Verfahren zur Neubewertung von Alemtuzuzmab eingeleitet. Berichte über schwere unerwünschte Wirkungen, die den PRAC im Zusammenhang mit der Gabe von Alemtuzumab erreichten, machen diesen Schritt erforderlich: immunvermittelte Erkrankungen und kardiovaskuläre Komplikationen, die teilweise tödlich endeten. Unter anderem kam es unter Alemtuzumab offenbar zu schweren Schlaganfällen und Rissen in der inneren Gefäßwand von Kopf- und Halsarterien. Lemtrada® ist hinsichtlich der Nebenwirkungen nicht ganz unbescholten, allerdings muss man dies auch vor dem Hintergrund der Indikation – schubförmig-remittierender Multipler Sklerose mit aktiver Erkrankung – und der Schwere der zu behandelnden Erkrankung sehen. 2017 informierte beispielsweise die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) über den zweiten Todesfall aufgrund einer therapierefraktären Idiopathischen thrombozytopenische Purpura (IPA) unter Alemtuzumab. Im gleichen Jahr hatte es bereits zwei Fallberichte gegeben, bei denen Alemtuzumab-Patienten im MRT neue, sich ringförmig ausbreitende Entzündungsherde zeigten und die Diskussion auslösten, ob die neuen Läsionen als eine verschlimmerte MS zu werten sind oder als weitere, von der Multiplen Sklerose unabhängige Autoimmunprozesse.

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Verschlechtert Alemtuzumab MS?

Lemtrada® ist laut Fachinformation zugelassen „zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit schubförmig-remittierender Multipler Sklerose (RRMS, relapse remitting multiple sclerosis) mit aktiver Erkrankung, definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung.“

Zeitweise Restriktionen bei Lemtrada

Der PRAC empfiehlt während der nun andauernden Risikobewertung, Lemtrada® restriktiv einzusetzen. Neutherapien mit Lemtrada® sollten nur MS-Patienten erhalten, deren Multiple Sklerose – trotz Behandlung mit mindestens zwei therapiemodifizierenden Arzneimitteln (DMD, disease modifying drugs) – hochaktiv verläuft. Lemtrada® kann nach Einschätzung des PRAC auch dann eine Behandlungsoption zur Neueinstellung von hochaktiven RRMS-Patienten sein, wenn alternative DMD kontraindiziert sind. Wichtig: Patienten, die aktuell Alemtuzumab erhalten und von Lemtrada® profitieren, müssen diese Behandlung nicht beenden. In Absprache mit ihrem behandelnden Arzt kann die Alemtuzumab-Gabe fortgeführt werden.

Neues in Fach- und Gebrauchsinformation zu Alemtuzumab

Zusätzlich zu einem – zumindest zeitweise – restriktiveren Einsatz von Alemtuzumab bei RRMS  empfiehlt der PRAC dem Hersteller Sanofi, die informierenden Texte zu Lemtrada® zu aktualisieren und auf Fälle schwerer Nebenwirkungen unter Alemtuzumab hinzuweisen:

  • immunvermittelte Erkrankungen, einschließlich Autoimmunhepatitis (mit Leberschäden) und hämophagozytäre Lymphohistiozytose (Überaktivierung des Immunsystems mit einer unkontrollierten Aktivierung von Lymphozyten und Makrophagen; es kommt zu einem Zytokinsturm, der tödlich enden kann.)
  • Herz-/ Kreislauf-Probleme, die innerhalb von ein bis drei Tagen nach Alemtuzumab-Infusion auftraten, einschließlich Blutungen in der Lunge, Herzinfarkt, Schlaganfall, zervikozephale Arteriendissektion (Risse in der inneren Gefäßwand von Kopf- und Halsarterien)
  • schwere Neutropenie (geringe Anzahl von Neutrophilen, die Infektionen bekämpfen)

Patienten, die Anzeichen dieser Nebenwirkungen einer Alemtuzumab-Therapie beobachten, sollen unverzüglich medizinische Hilfe suchen. Ärzte sollten in solchen Fällen einen Therapieabbruch erwägen.

Wie geht es weiter mit Lemtrada?

Um die Sicherheit von Alemtuzumab bei Multipler Sklerose neu bewerten zu können, muss Sanofi bis Ende Mai Daten zu Alemtuzumab liefern. Der PRAC hat hierfür einen Fragekatalog erstellt. Unter anderem soll der Hersteller eine zusammenfassende Bewertung (klinische Studien, nicht-interventionelle Studien, Literatur und Spontanberichte) aller kardiovaskulären Nebenwirkungen erstellen, die innerhalb von 30 Tagen nach einer Lemtrada-Infusion beschrieben wurden, inklusive Häufigkeit und Schwere und Zeit des unerwünschten Ereignisses – wie Herzischämie und Myokardinfarkt, ischämischer und hämorrhagischer Schlaganfall, arterielle Dissektion, Lungenblutung und Embolie, Gefäßdissektion, Vaskulitis und Thrombozytopenie.

Wirkmechanismus nicht vollständig geklärt

Alemtuzumab ist ein humanisierter monoklonaler IgG-Antikörper mit der Zielstruktur CD52. Der exakte Wirkmechanismus des humanisierten CD52-Antikörpers bei MS ist nicht vollständig geklärt. Vor allem CD3-T-Lymphozyten und CD19-B-Lymphozyten exprimieren das Glykoprotein. Durch Bindung von Alemtuzumab an die CD52-positiven Lymphozyten lösen sie eine komplementvermittelte Zytolyse aus. Die Forschung weist „in Richtung immunmodulatorischer Wirkung“, schreibt die Fachinformation zu Lemtrada®. Hierdurch kommt es wohl zu einer Senkung der zirkulierenden B- und T-Zellen und einer sich anschließenden Repopulation, was die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Schubs bei Multipler Sklerose verringert.

Die initiale Behandlung mit Alemtuzuamb umfasst zwei Behandlungsphasen: In der ersten erhalten die MS-Patienten je 12mg Alemtuzumab an fünf aufeinanderfolgenden Tagen. Die zweite Behandlungsphase mit je 12mg Alemtuzumab, nun nur noch an drei aufeinanderfolgenden Tagen, schließt sich ein Jahr später an. Laut Fachinformation können weitere Behandlungsphasen, drei und vier, jeweils weitere zwölf Monate später erfolgen. Auch im dritten und vierten Zyklus erhält der Patient Alemtuzumab je nur an drei Tagen.

Antworten auf die Fragen erwartet der PRAC bis zum 23. Mai dieses Jahres. Das Verfahren soll sodann Mitte Juni wiederaufgenommen werden, am 21. Juni sollen Bewertungsberichte des Berichterstatters und Mitberichterstatters an den PRAC und das CHMP gehen. Der Humanarzneimittelausschuss der Europäischen Arzneimittel-Agentur wird aufgrund der PRAC-Empfehlungen einschätzen, ob die Zulassung von Lemtrada® bestehen bleibt, geändert, ausgesetzt oder widerrufen wird. Aufgrund der Schwere der Nebenwirkungen wünscht sich die Europäische Kommission so schnell als möglich eine Einschätzung und nennt hier den 31. Oktober 2019.

FDA warnt vor Schlaganfällen bereits seit 2018

In den USA warnt die FDA bereits seit dem vergangen Jahr vor neuen, zwar seltenen, aber schweren Nebenwirkungen unter Lemtrada® – es sind die gleichen unerwünschten Wirkungen, die nun auch der PRAC beschreibt. Die FDA veröffentlichte schon am 29. November 2018 einen Sicherheitshinweis zum MS-Arzneimittel. In diesem informiert die amerikanische Arzneimittelbehörde, dass in seltenen Fällen Patienten unter Alemtuzumab schwere Schlaganfälle erlitten hätten. Außerdem seien Risse in der inneren Gefäßwand von Arterien im Kopf- und Halsbereich aufgetreten. „Diese Probleme können zu einer dauerhaften Invalidität und sogar zum Tod führen“, erklärte die FDA im November.

13 Fälle von Schlaganfällen und Arteriendissektion

In Europa ist Alemtuzumab in Lemtrada® bereits seit 2013 zugelassen, in den USA erteilte die FDA  Alemtuzumab in der Indikation der RRMS 2014 die Zulassung. Seither sind nach Angaben der amerikanischen Arzneimittelbehörde weltweit 13 Fälle (zehn in den USA, drei in Europa) von ischämischen und hämorrhagischen Schlaganfällen und Aortendissektionen an Kopf- und Halsarterien aufgetreten. Darunter waren auch kombinierte Ereignisse (Schlaganfall und Arteriendissektion), ein Patient verstarb. In den meisten Fällen (zwölf) trat die unerwünschte Arzneimittelwirkung innerhalb eines Tages nach Alemtuzumab-Gabe auf.

Details, die eine vollständige Bewertung der einzelnen Risikofaktoren ermöglichten, fehlten bislang, erklärt die FDA. Obwohl die Ätiologie unbekannt sei, traten die Nebenwirkungen innerhalb desselben Zeitraums wie das Zytokin-Freisetzungssyndrom auf. Dieses systemisch-entzündliche Reaktionssyndrom ist als Nebenwirkung unter Lemtrada® bekannt und kann laut FDA zu den beschriebenen unerwünschten Wirkungen unter Alemtuzumab beitragen. „In vielen Fällen wurden jedoch unzureichende Informationen gemeldet, um festzustellen, ob das Zytokin-Freisetzungssyndrom zusammen mit Schlaganfall oder arterieller Dissektion auftrat“, erklärt die FDA auf ihrer Homepage.

Alemtuzumab in Campath bei Leukämie

Auch die amerikanische Arzneimittelbehörde hatte damals bereits Maßnahmen ergriffen – gleich denen der EMA aktuell. So musste Sanofi die fachinformierenden Texte (prescribing information) zu Lemtrada® und den Patientenleitfaden (Medication Guide) um die neu bekannt gewordenen Risiken erweitern. Auch das bereits bestehende Box-Warning zu Lemtrada® wurde ergänzt: „Schwerwiegende und lebensbedrohliche Schlaganfälle (einschließlich ischämischer und hämorrhagischer Schlaganfälle) wurden innerhalb von drei Tagen nach Lemtrada®-Verabreichung gemeldet. Weisen Sie die Patienten an, bei Anzeichen eines Schlaganfalls sofort einen Arzt aufzusuchen“, warnt die Box.

Was ist ein fairer Preis für einen bekannten Wirkstoff in neuer Indikation?

Der Fall Alemtuzumab

Lemtrada® ist nicht das einzige Fertigarzneimittel mit dem Wirkstoff Alemtuzumab. Seit Mai 2001 darf Alemtuzumab unter dem Markennamen Campath® zur Behandlung der chronisch lymphatischen Leukämie vom B-Zell-Typ (B-CLL) eingesetzt werden. Die FDA veranlasste auch für Campath® die Ergänzung der Nebenwirkungen und dass diese als „Postmarketing Experience“ dokumentiert werden. 
In Europa ist das Risikobewertungsverfahren auf Alemtuzumab in Lemtrada® bei MS beschränkt. Zwar hatte Genzyme 2001 auch die Zulassung für Mabcampath® für B-CLL erhalten, jedoch hat der Hersteller die Zulassung von Mabcampath® bei Leukämie zugunsten der Zulassung des Antikörpers bei MS zurückgegeben, sodass in Europa nur noch Lemtrada® Alemtuzumab enthält.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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5 Kommentare

MS

von Roswitha Lüer am 08.01.2020 um 16:29 Uhr

Ich bitte um Veröffentlichung

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MS Anfang

von Roswitha Lüer am 08.01.2020 um 14:41 Uhr

Guten Tag.
Bei meinem Mann der mittlerweile 58 Jahre ist, wurde im Dezember MS festgestellt, was eigentlich untypisch ist. Aufgefallen ist es , weil er immer das Gefühl hatte, das er etwas im Auge hat. Nach mehreren besuchen beim Augenarzt musste er ins MRT, wo die Krankheit erkannt wurde. Jetzt möchte der Neurologe ihm ein Medikament geben, was auch das Immunsysten verschlechtert. Die Medikamente heißen unter anderem Tecfidera, Aubagie, Copaxone und Betafenon. Es sind bisher noch keine anderen Schübe aufgetreten. Gibt es keine anderen Alternativen , die den Körper nicht so angreifen? Ich habe auch gehört, das man sehr viel mit Vitamin B12 machen kann. Bitte um Rückmeldung.
Liebe Grüße
Roswitha Lüer

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: MS Anfang

von Lisa am 24.01.2020 um 12:24 Uhr

Liebe Roswitha,
ein Vitamin B12 Mangel kann die gleichen Symptome erzeugen wie eine MS. Einfach mal ein Blutbild machen lassen.

Lemtrada-Neueinstellung

von Maria am 07.05.2019 um 17:35 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich spritze seit Februar 2017 Copaxone. Dieses Medikament vertrage ich sehr gut und hatte im Februar diesen Jahres nun trotzdem Auffälligkeiten im MRT. Mir geht es aber gut und ich habe derzeit keinerlei körperliche Probleme. Nun soll ich auf Lemtrada (ab nächster Woche) umgestellt werden. Allerdings sträube ich mich dagegen und möchte es ungern. Wie gehe ich damit um, wenn die Ärzte es mir trotz der "Sicherheitshinweise" infundieren möchten? Meine ambulante Neurologin kann meine Entscheidung nicht nachvollziehen und hat nur gesagt, ich möchte trotzdem erstmal zur stationären Aufnahme gehen.
Ich bitte dringlichst um Rückantwort.

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Lemtrada-Neueinstellung

von Annemarie am 07.11.2019 um 10:02 Uhr

Ich würde mir von den Ärzten nichts aufzwingen lassen. Die stecken nicht in deinem Körper. Ich habe Avonex gespritzt, mußte aber später wechseln weil ich das nicht mehr vertragen habe und mehrere Schübe hatte. Ich würde auf meinen Körper hören und würde den Wechsel lassen, denn du hast ein Medikament was hilft. Die Frage ist auch immer, was für Medikamente kann man danach noch nehmen? Mir wollte man Mitox geben und als ich fragte, was ich danach noch für Möglichkeiten habe und man mir sagte keine, habe ich gesagt, daß meine MS noch nicht so weit ist. Oftmals halten sich Ärzte für allwissend und vergessen den Menschen. Ich kann dir nur den Tip geben immer nach Medikamenten fragen die man danach noch bekommen kann, denn nach Mitox gibt es nichts mehr und man braucht kein Starkes Medikament, wenn die Ms noch nicht so weit ist und man kaum bis keine Schübe hat.
Annemarie

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