Evidenzbasierte Pharmazie in der Apotheke

Ist das „neue“ Aspirin besser als ASS-Generika?

Berlin - 22.03.2019, 17:00 Uhr

Dr. André Wilmer und Dr. Oliver Schwalbe erklärten, wie Apotheker evidenzbasiert in der Apotheke beraten können. (s / Foto: DAZ)

Dr. André Wilmer und Dr. Oliver Schwalbe erklärten, wie Apotheker evidenzbasiert in der Apotheke beraten können. (s / Foto: DAZ)


„Vorsicht vor der Surrogatfalle“, warnt Dr. Oliver Schwalbe. Wirkt das mikronisierte „neue“ Aspirin® tatsächlich zweimal schneller als das alte oder ASS-Generika, wie Bayer wirbt? Wie kommen Apotheker – ungeachtet der Werbeaussagen pharmazeutischer Unternehmer – zu einer wissenschaftlich gut fundierten Einschätzung in der Selbstmedikation? Gemeinsam mit Dr. André Wilmer (IQWiG) hat Oliver Schwalbe bei einem Workshop im Rahmen des EbM-Kongresses 2019 in Berlin gezeigt, wie evidenzbasierte Patientenberatung in der Apotheke geht. 

Zugegeben: Ganz so neu ist das „neue“ Aspirin® nicht mehr. 2014 änderte Bayer die Formulierung seines Acetylsalicylsäure-Klassikers und wirbt seither mit „In Vergleich zur früheren wirkt die weiterentwickelte Aspirin® Tablette doppelt so schnell“. Diese Versprechung lesen und hören auch die Patienten und konfrontieren damit ihre Apotheker vor Ort. Was also sollen Apotheker diesen Patienten antworten und empfehlen? Ist es wirklich so, dass das „neue“ Aspirin® doppelt so schnell wirkt?
Wie kommen Apotheker – ungeachtet der Werbeaussagen pharmazeutischer Unternehmer – zu einer wissenschaftlich gut fundierten Einschätzung in der Selbstmedikation? Dr. Oliver Schwalbe (Apothekerkammer Westfalen-Lippe) und Dr. André Wilmer (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, Bereich Qualitätssicherung) zeigten dies am gestrigen Donnerstag beim „Workshop für Apotheker: evidenzbasierte Patientenberatung in der Apotheke“ im Rahmen des EbM-Kongresses 2019 (Evidenzbasierte Medizin) an der Berliner Charité.

Stimmt die Werbung?

Fünf Schritte führen laut Oliver Schwalbe, selbst Apotheker und Abteilungsleiter für den Bereich Aus- und Fortbildung der Apothekerkammer Westfalen-Lippe, zu einer evidenzbasierten Beratungspraxis: 

Die fünf Schritte der evidenzbasierten Beratungspraxis

  1. Die Frage – formulieren des Problems als konkrete Frage: „Wirkt das „neue“ Aspirin® doppelt so schnell?“

  2. Die Suche nach der bestverfügbaren Datenlage/Evidenz: „Suchen Sie geeignete wissenschaftliche Literatur, um die Werbeaussage zu bewerten, und fragen Sie auch den pharmazeutischen Unternehmer nach der Studie, auf die er seine Werbeaussage stützt!", sagt Schwalbe. 

  3. Die Überprüfung der Validität – kritische Bewertung der gefundenen Informationen: „Wie valide ist die Information, die ich gefunden habe?". Arzneimittelprogramme liefern hier laut Schwalbe gute Impulse. Sinnvoll sei eine Checkliste für randomisierte kontrollierte Studien, „hat das Hand und Fuß, was in der Studie gemacht wurde?"

  4. Die Überprüfung der Anwendbarkeit auf den Einzelfall: Kann man die gefundene Information auf einen Einzelfall übertragen? „Es geht immer um einen einzelnen Patienten mit einem konkreten Problem, Apotheker müssen darum stets individuell schauen, lassen sich die gefundenen Informationen überhaupt auf diesen Patienten anwenden?"

  5. Die Umsetzung und Evaluation des eigenen Handelns. Apotheker sollten jedoch an diesem Punkt nicht „stehen bleiben“, die Literatur werde laufend angepasst, mahnt Schwalbe. Er betont zudem, wie wichtig auch am Ende der Evidenzsuche die Kommunikation mit dem Patienten in der Apotheke sei – „wie verklickere ich es dem Patienten am besten?“, fragt Schwalbe.

Vorsicht vor der Surrogatfalle!

Stimmt also die Werbeaussage Bayers, dass die „die weiterentwickelte Aspirin® Tablette doppelt so schnell“ wirkt? Bayer liefert auf Nachfrage der Apotheker Schwalbe und Wilmer Informationsbroschüren: „Maximale ASS-Plasmaspiegel werden bereits nach 17,5 Minuten und damit 2,5 mal schneller erreicht als nach der klassischen Aspirin® Tablette", erklärt Bayer. Oder „hoher Plasmaspiegel in kurzer Zeit“.
Nur: „Hilft uns diese Information weiter?", fragt Schwalbe. „Bedingt“, ist das Fazit der Workshopteilnehmer in Berlin.

Dass Plasmaspiegel und das schnelle Erreichen dieser mit der Wirksamkeit von Arzneimitteln korrelieren, ist natürlich nicht völlig absurd. Doch interessieren sich Patienten für Plasmaspiegel? „Was sind patientenrelevante Zielgrößen?", fragt Schwalbe. „Entscheidend für den Patienten sind Mortalität, Morbidität und seine gesundheitsbeozogene Lebensqualität", mahnt der Apotheker. Und weiter: „Wir landen gerne einmal in der Surrogatfalle und analysieren Parameter, die zwar möglicherweise mit der Wirksamkeit in Verbindung stehen, jedoch die eigentlich interessierende Frage – hilft das ‚neue‘ Aspirin schneller bei Kopfschmerzen – nicht beantworten", so Schwalbe. „Wir wollen wissen: Hat der Patient eine raschere Schmerzlinderung?“ – und das zeigten Bayers Daten zunächst nicht.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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