IGES-Prognose

Viele Gentherapien kurz vor der Marktreife

Remagen - 24.09.2018, 09:00 Uhr

Über 40 neue, zugelassene Gentherapien prognostiziert das IGES Institut für die kommenden Jahre. (Foto: Gernot Krautberger / stock.adobe.com)

Über 40 neue, zugelassene Gentherapien prognostiziert das IGES Institut für die kommenden Jahre. (Foto: Gernot Krautberger / stock.adobe.com)


Die Zahl genetischer Therapien, viele davon langwirksame, wird in den kommenden Jahren stark zunehmen, und zwar von drei auf 45. Dies prognostiziert das IGES Institut auf der Basis einer Auswertung von Daten in internationalen Studienregistern und Datenbanken zu klinischen Studien. Die Frage, die sich dabei stellt: Werden die Kassen diese auch bezahlen können?

Derzeit sind in der EU drei langwirksame Gentherapien zugelassen. 42 weitere stehen kurz vor der Marktreife. Das haben IGES-Experten nach einer Analyse von Daten in internationale Studienregistern und Datenbanken zu klinischen Studien im Auftrag des Unternehmens Merck ermittelt. Sie identifizierten sämtliche langwirksamen Gentherapien, die bereits zugelassen sind oder sich in der fortgeschrittenen Entwicklung (Phase III) befinden, sowie die damit behandelbaren Erkrankungen. Anschließend schätzten sie die Anzahl der potenziell betroffenen GKV-Versicherten.

Laut IGES handelt es sich um die erste Untersuchung ihrer Art, die einen systematischen Überblick über langwirksame gentherapeutische Behandlungen auf dem Markt und in fortgeschrittener Phase der klinischen Entwicklung liefert. Laut IGES handelt es sich um die erste Untersuchung ihrer Art, die einen systematischen Überblick über langwirksame gentherapeutische Behandlungen auf dem Markt und in fortgeschrittener Phase der klinischen Entwicklung liefert. 

Langwirksame Gentherapeutika müssen nur einmalig oder mehrmals mit anschließenden therapiefreien Jahren verabreicht werden, während kurzwirksame kontinuierlich gegeben werden.

Die Hälfte gegen Krebs

Knapp die Hälfte der nach der Erhebung zu erwartenden Gentherapien adressieren onkologische Erkrankungen (19 Therapien). Am zweithäufigsten richten sie sich gegen angeborene genetische Störungen (7). Insgesamt werden sie das Behandlungsspektrum von 42 Krankheiten erweitern.

Auch große Volkskrankheiten dabei

Die hochinnovativen Präparate eröffnen schwerkranken Patienten neue Behandlungsoptionen, für die bisher oftmals keine heilenden oder langfristig krankheitskontrollierenden Ansätze existieren. Das ist die erfreuliche Seite der Medaille. Die andere Seite ist die bedeutende Herausforderung an das Erstattungs- und Finanzierungssystem der GKV, und zwar hinsichtlich der frühen Nutzenbewertung, der Finanzierung und Sicherstellung des Zugangs der Patienten zu den Therapien im stationären Sektor sowie die Bereitstellung der Mittel über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) und damit den Wettbewerb der Krankenkassen. Sechs der neuen Gentherapien richten sich gegen extrem seltene Leiden mit weniger als 100 Betroffenen. Ein großer Teil der identifizierten Erkrankungen betrifft zwischen 1.000 und 10.000 GKV-Versicherte. In Entwicklung sind aber auch drei Gentherapien gegen sogenannte Volkskrankheiten, etwa gegen Arthrose. Nach Expertenmeinungen muss das Erstattungs- und Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) frühzeitig und vorausschauend an diese Entwicklung angepasst werden. 

Mehr zum Thema

Chimäre Antigenrezeptoren machen T-Zellen zu Scharfschützen des Immunsystems

CAR-T-Zellen: Lizenz zum Töten

Übernahme von US-Spezialist Avexis für 8,7 Mrd. Dollar

Novartis setzt auf Gentherapie

Große Herausforderung an die GKV-Finanzen

„Auch wenn hinsichtlich der genauen Anzahl von Zulassungen langwirksamer Gentherapien, dem Ausmaß ihrer Anwendung sowie den genauen Behandlungskosten aktuell noch Unsicherheit bestehen, ist mit zahlreichen Markteinführungen in den nächsten Jahren sowie signifikanten ökonomischen Herausforderungen für das GKV-System zu rechnen,“ sagt Studienautor Fabian Berkemeier, Bereichsleiter Value & Access Strategy am IGES Institut. Derzeit sei die Finanzierung dieser Behandlungen über den Gesundheitsfonds nur unzureichend abgedeckt, glauben die IGES-Experten.

Die Kassen bekämen dabei für insgesamt 80 Erkrankungen über den (Morbi-RSA) gesonderte Zuweisungen für Versicherte, die an sehr kostenintensiven, chronischen oder schwerwiegenden Krankheiten leiden. Die in der Studie identifizierten Erkrankungen seien aktuell im Morbi-RSA allerdings nicht oder lediglich ungenau abgebildet. 


Bislang zugelassene Gentherapeutika

Bei Gentherapien wird einer Zelle entweder ein funktionales Gen hinzugefügt, ein fehlerhaftes Gen korrigiert oder ein natürliches Gen modifiziert, um eine bestimmte Funktion zu erfüllen. Gentherapeutika unterliegen auf europäischer Ebene einem spezifischen Zulassungsverfahren für neuartige Therapien (advanced therapy medicinal products – ATMP).

Nach mehr als 50 Jahren gentechnischer Grundlagenforschung erhielt das erste Gentherapeutikum im Jahr 2012 eine Zulassung für die Vermarktung in der EU. Glybera® (Alipogen tiparvovec) diente zur Behandlung einer angeborenen Fettstoffwechsel-Krankheit. Es ist derzeit nicht mehr auf dem Markt. 2015 und 2016 folgten zwei Therapien, eine kurzwirksame gegen schwarzen Hautkrebs (Melanom) und eine langwirksame gegen einen schweren, angeborenen Immundefekt. Im August 2018 wurden zwei weitere langwirksame Therapien zur Behandlung von bestimmten Patienten mit akuter Leukämie und malignen Lymphomen zugelassen.

Zugelassene Gentherapeutika (GTMP) mit Indikationsgebiet und Zulassungsdatum

  • Glybera® (Alipogen tiparvovec): Lipoproteinlipasedefizienz (LPLD) (10/2012 bis 10/2017)
  • Imlygic® (Talimogen laherparepvec): Melanom (inoperabel, metastasiert) (12/2015)
  • Strimvelis®: schwerer Immundefekt infolge eines Adenosin-Desaminase-Mangels (ADA-SCID) (05/2016)
  • Kymriah® (Tisagenlecleucel): B-Zell akute lymphatische Leukämie (ALL), diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom (DLBCL) (08/2018)
  • Yescarta® (Axicabtagen ciloleucel): DLBCL; primäres mediastinales großzelliges B-Zell-Lymphom (PMBCL) (08/2018)

Quelle: IGES Institut nach Paul-Ehrlich-Institut (2018) und Europäische Arzneimittel-Agentur (2018)



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.