Spinraza bei spinaler Muskelatrophie

Mehr Erfolg mit Nusinersen durch Neugeborenen-Screening auf SMA?

Stuttgart - 10.08.2018, 09:15 Uhr

Je früher, desto besser? Eine Studie legt nahe, dass eine frühe Therapie der spinalen Muskelatrophie mit Nusinersen die motorischen Fähigkeiten stärker verbessert als eine spätere. ( r / Foto: Biogen)

Je früher, desto besser? Eine Studie legt nahe, dass eine frühe Therapie der spinalen Muskelatrophie mit Nusinersen die motorischen Fähigkeiten stärker verbessert als eine spätere. ( r / Foto: Biogen)


Sollte jedes Neugeborene auf spinale Muskelatrophie gescreened werden? Geht es nach Wissenschaftlern der Freiburger Universitätsklinik, ja. Je früher der Therapiebeginn mit Nusinersen (Spinraza), desto stärker scheinen Kindern mit spinaler Muskelatrophie hinsichtlich des Erhalts ihrer motorischen Fähigkeiten zu profitieren.

Bei der spinalen Muskelatrophie (SMA) degenerieren Motoneurone. Zugrunde liegt dieser Erkrankung ein Gendefekt. Die Folge: Ein bestimmtes Protein – das Survival Motoneuron (SMN) – wird bei diesen Patienten nicht oder in zu geringer Menge produziert. Das dafür codierende Gen SMN1 ist defekt. Eine direkte Korrelation besteht zwischen dem Output an SMN und der Schwere der Erkrankung: Je weniger SMN, desto früher erkranken die Kinder und desto fulminanter verläuft die spinale Muskelatrophie. Allerdings gibt es einen zweiten Gen-Locus, SMN2, der zumindest für geringe Mengen an SMN verantwortlich zeichnet. Je höher der Output hier noch ist, desto besser für die Prognose der Kinder.

Survival Motoneuron lässt Motoneurone überleben – und ist bei SMA reduziert

Die Konzentration an Survival Motoneuron ist – wie der Name bereits sagt – eminent für das Überleben von Motoneuronen. Diesen Zusammenhang hatte auch Biogen vor Jahren bereits erkannt und an einem Wirkstoff geforscht, der genau darauf abzielt, die Menge an SMN zu erhöhen. Mit Erfolg: 2016 wurde Nusinersen zugelassen. Vereinfacht gesagt erhöht Spinraza® den SMN-Output am zweiten Gen-Ort SMN2. Den Nutzen der Therapie hatte sogar der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) anerkannt und Spinraza® für die Behandlung der schwersten Ausprägung der spinalen Muskelatrophie, der akut infantilen SMA, einen erheblichen Zusatznutzen bescheinigt.

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Rein von der Überlegung her, scheint ein früher Therapiestart mit Nusinersen bei Kindern mit spinaler Muskelatrophie plausibel – es könnte den Krankheitsverlauf verzögern, indem es mehr Motoneurone erhält. Das interessierte auch eine Gruppe von Wissenschaftlern. Sie untersuchten an sieben neuromuskulären Zentren in Deutschland, namentlich die Universitätskliniken Berlin, Essen, Freiburg, Gießen, Hamburg und Münster sowie das DRK Klinikum Westend in Berlin, insgesamt 61 Kinder mit infantiler akuter SMA unter Therapie mit Nusinersen. Die Beobachtung lief sechs Monate, den Behandlungserfolg maßen die Wissenschaftler unter anderem mit Hilfe von CHOP-INTEND. CHOP-INTEND steht für Children’s Hospital of Philadelphia Infant Test of Neuromuscular Development. Der Test hilft, die motorische Funktion der Kinder zu beurteilen. Fragen, die hier zu beantworten sind, zielen auf die Fähigkeit der Beugung der Ellbogen oder der Kinder zu greifen oder den Kopf zu heben ab.

Früher Nusinersen-Start verbessert motorische Funktion

77 Prozent der Kinder (Durchschnittsalter 21,08 Monate) verbesserten innerhalb der beobachteten sechs Monate ihre motorischen Fähigkeiten, gemessen am CHOP-INTEND-Score unter Nusinersen. Ein Effekt, der laut den Wissenschaftlern bei Kindern ohne Nusinersen und im Rahmen des unbehandelten klinischen Verlaufes  von SMA nicht zu erwarten ist. Die Wissenschaftler beobachteten vor allem ein Resultat: Ältere Kinder verbesserten ihre motorischen Fähigkeiten weniger stark. Auch profitierten Kinder, die bereits vor Nusinersen-Behandlung beatmet wurden oder tracheostomiert waren weniger von einer Behandlung mit Nusinersen. Ihr Fazit, das sie daraus ziehen: Das Ansprechen der Behandlung korreliert stark mit dem Alter zu Beginn der Therapie. Die Durchführung eines Neugeborenenscreenings würde in vielen Fällen eine präsymptomatische Diagnose und eine frühzeitige Einleitung der Therapie ermöglichen.

Prof. Dr. med. Janbernd Kirschner, Studienleiter und kommissarischer Ärztlicher Direktor der Klinik für Neuropädiatrie und Muskelerkrankungen am Universitätsklinikum Freiburg, erklärt:


Wir haben jetzt deutliche Hinweise, dass die Behandlung möglichst früh innerhalb der ersten Lebensmonate beginnen sollte. Die Durchführung eines Neugeborenen­screenings für SMA ist entscheidend für die präsymptomatische Diagnose

Janbernd Kirschner, kommissarischer Ärztlicher Direktor der Klinik für Neuropädiatrie und Muskelerkrankungen am Universitätsklinikum Freiburg


Die Untersuchung lief Open-Label und nicht placebokontrolliert. Diese Einschränkung betonen die Autoren, genauso wie die finanzielle Unterstützung seitens der Pharmaindustrie durch Avexis, Biogen, Ionis Pharmaceuticals, Novartis und Roche.

Höchstbewertung vom G-BA beim Zusatznutzen von Nusinersen

Der G-BA ist in aller Regel sparsam mit der höchsten Bewertung des Zusatznutzens („erheblich“). Nusinersen ist das erste Orphan Drug mit dieser Einschätzung. Insgesamt schafften seit Inkrafttreten des AMNOG 2011 und der Nutzenbewertung von Arzneimitteln gerade einmal drei Medikamente diesen Sprung: Propranolol in Hemangiol® beim infantilen Hämangiom und Afatinib (Giotrif®) bei Patienten mit nichtkleinzelligem Lungenkrebs und aktivierender EGFR-Mutation. Beide im Jahr 2015. Im Februar 2018 folgte sodann Nusinersen in Spinraza®.

Allerdings gilt dieses Ausmaß des Zusatznutzens nur für die akut infantile SMA. Bei der zweitschwersten Form, der TYP-II-SMA, hat laut G-BA Spinraza® nur noch einen „beträchtlichen“ Zusatznutzen.

Rote-Hand-Brief zu Nusinersen

Erst jüngst, Ende Juli dieses Jahres, war Biogen jedoch gezwungen, vor Spinraza® zu warnen. In Abstimmung mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) informierte der Spinraza®-Hersteller in einem Rote-Hand-Brief über das Auftreten eines Hydrozephalus im Zusammenhang mit der Behandlung mit 12 mg Nusinersen.

Was ist spinale Muskelatrophie?

Spinale Muskelatrophie (SMA)

Bei der Spinalen Muskelatrophie korreliert der Schweregrad der Erkrankung unter anderem damit, wie jung der Patient bei Symptombeginn ist. Auf physiologischer Ebene kommt es bei SMA-Patienten zur Zerstörung von Motoneuronen im Vorderhorn des Rückenmarks.

Warum? Den Patienten fehlt ein bestimmtes Protein, das Survival Motoneuron (SMN), da ihnen das hierfür codierende Gen SMN1 fehIt oder es defekt ist. In der Folge kann der sensorische Impuls, der das Rückenmark über das Hinterhorn erreicht, nicht auf die motorischen Vorderhornzellen übertragen werden – die Muskulatur wird nicht aktiviert und atrophiert zunehmend.

In der Nähe des Genortes für SMN1 liegt ein weiteres für SMN codierendes Gen: SMN2. Es ist für geringe Mengen des Survival-Monoteuron-Proteins verantwortlich. Die Schwere und schlechte Prognose der Spinalen Muskelatrophie hängen neben einem jungen Alter bei Symptombeginn auch mit einer niedrigen Anzahl dieser SMN2-Gen-Kopien zusammen.

Die Spinale Muskelatrophie beeinträchtigt alle Muskeln des Körpers, meist sind die proximalen Muskeln (Schulter-, Hüft- und Rückenmuskulatur) am schwersten betroffen. Auch die Kau- und Schluckmuskulatur kann atrophisch funktionell eingeschränkt sein.

Durch die Beteiligung der Atemmuskulatur, fällt den Patienten eine ausreichende Sauerstoffaufnahme schwer oder ist unmöglich. Häufige Infektionen der Atemwege und Pneumonien verschärfen die Ateminsuffizienz und zeichnen vor allem bei der schwersten Form der SMA, der infantilen, für den frühen Tod der Patienten verantwortlich.

Es gibt unterschiedliche Ausprägungen der SMA: Typ I, II, III, IV. Bei der schwersten Form, der akut infantilen SMA, beginnt die klinische Symptomatik bereits im Mutterleib oder wird innerhalb der ersten drei Lebensmonate des Kindes diagnostiziert. Die Kinder lernen nie, eigenständig zu sitzen und sterben sehr früh an Ateminsuffizienz oder an sekundären Atemwegsinfektionen, meist während ihrer ersten zwei Lebensjahre.

Typ-II-SMA diagnostizieren Ärzte meist vor Erreichen des zweiten Lebensjahres. Die Kinder können selbstständig sitzen, haben meist jedoch Schwierigkeiten die Sitzposition einzunehmen. Stehen ist teilweise mit Unterstützung von Orthesen möglich. Häufig atmen die Kinder flach, hauptsächlich mit dem Zwerchfell, da die Zwischenrippenmuskulatur schwach ausgeprägt ist. Das kann Schwierigkeiten beim Abhusten oder mit der ausreichenden nächtlichen Sauerstoffversorgung mit sich bringen.

Die juvenile Form der SMA oder TYP-III-SMA variiert im Beginn. Der Diagnosezeitraum liegt bei einem Jahr oder im Jugendalter der Patienten. Selten haben die Kinder mit juveniler SMA Schwierigkeiten beim Essen oder Schlucken, Laufen ist möglich. Allerdings kann mit Progredienz der Erkrankung diese Fähigkeit eingeschränkt werden. Nicht immer klappt Rennen.

Bei der Erwachsenenform der SMA (Typ IV) zeigen sich Symptome nach dem 35. Lebensjahr. Diese Form hat die günstigste Prognose, ist jedoch am seltensten verbreitet. Der Verlauf ist sehr langsam, Einschränkungen beim Atmen oder Schlucken haben diese Patienten in aller Regel nicht.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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