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Lieferengpässe durch Corona-Epidemie?

Rund 60 Wirkstoffe werden in den betroffenen Regionen produziert

hb | In den letzten zehn Jahren hat sich China als führender Anbieter auf dem Markt für pharmazeutische Wirkstoffe etabliert. Dass dies prinzipiell Gefahren für die weltweite Versorgungslage birgt, ist hinlänglich bekannt. Die USA und Indien machen sich bereits ernsthaft Sorgen wegen etwaiger großflächiger Lieferengpässe durch die Auswirkungen des Coronavirus auf die industrielle Produktion in China. Die Lieferwege in alle Welt sind weitgehend intransparent. Insofern ist es sehr schwer, sich aktuell ein verlässliches Bild der Lage zu machen und die möglichen Aus­wirkungen auf die Versorgung in Europa abzuschätzen.

Seit einigen Tagen mehren sich vor allem in den USA Presseberichte über etwaige drohende Versorgungsengpässe von Arzneimittelwirkstoffen aus China aufgrund der Coronavirus-Epidemie. Wie das US-medienunternehmen „STAT“ berichtet, sollen dort nach Angaben der Food and Drug Administration inzwischen 13 Prozent aller Ausgangsstoff-Produzenten für Arzneimittel ansässig sein, die in den USA verkauft werden. 28 Prozent sollen sich in den USA befinden und 26 Prozent in der Europäischen Union. Ungefähr 80 Prozent der Wirkstoffe, die in den USA zu Fertigarzneimitteln weiterverarbeitet werden, sollen aus China stammen.

Das Online-Portal der Computer-Zeitschrift „Wired“ lässt die Gesundheits- und Patientensicherheitsexpertin am Hastings Center in Garrison, New York, Rosemary Gibson, zu Wort kommen. Sie hält die Abhängigkeit von Inhaltsstoffen aus China für besorgniserregend und setzt sich mit Nachdruck für den Wiederaufbau der inländischen Wirkstoffproduktion ein.

„Risiko epischen Ausmaßes“

Das neuartige Coronavirus könnte das Problem ihrer Meinung nach noch verschärfen, wenn China die Vorräte für sich behält oder den Export bestimmter Arzneimittel einstellt, um größere Lagerbestände für das eigene Gesundheitssystem aufzubauen. „Es braucht nur eine Anlage, die stillgelegt werden muss, um einen globalen Mangel zu verursachen“, sagt Gibson. Sie spricht von einer „Warnung an die Vereinigten Staaten und andere Länder“ und fügt hinzu: „Wenn man eine Lieferkette hat, die sich auf ein einzelnes Land konzentriert, egal in welchem Land, dann ist das ein Risiko epischen Ausmaßes.“

Foto: DAZ

Zwei Zeitschriften, ein Titelbild – die Aufmacher der Nachrichtenmagazine „Focus“ und „Spiegel“ sind in dieser Woche nur schwer voneinander zu unterscheiden.

Wie die Nachrichtenagentur FiercePharma berichtet, soll die Sorge, dass China sich wegen des erhöhten Eigenbedarfs oder verringerter Arbeitskapazitäten durch Infizierte in den Pharmafabriken global abschotten könnte, allerdings derzeit unbegründet sein. Die chinesische Regierung soll die Pharmahersteller ausdrücklich dazu aufgefordert haben, ihre Lieferfähigkeit aufrechtzuerhalten oder sogar noch zu steigern.

Im Moment sollen in den USA nach Medienberichten unter Berufung auf die FDA keine Meldungen von Herstellern über Verknappungen aufgrund des Coronavirus-Ausbruchs vorliegen. Es könnte allerdings Monate dauern, bis die Störungen das Angebot beeinträchtigen, meint Erin Fox, Apothekerin und Expertin für Arzneimittelverknappungen an der University of Utah Health, gegenüber „Wired“. Für das größte Problem hält Fox, dass es keine öffentlich zugänglichen Informationen über die Wege der Zulieferer gibt. Niemand wisse, welcher Teil von welchen kritischen Arzneimitteln aus China stamme und wo sich diese Fabriken befänden, sagt sie. Pharmaunternehmen betrachteten solche Informationen als geheim. Eine der großen Unbekannten sei, für wie viele Produkte es tatsächlich nur einen Hersteller gebe. In einer Meldung von „STAT“ versucht eine Sprecherin der Association for Accessible Medicines, die die Generikahersteller in den USA vertritt, zu beruhigen. Die meisten ihrer Mitglieder hätten eine zweite Quelle für alle pharmazeutischen Wirkstoffe. Außerdem bestellten sie nicht pro Charge. Jeder Auftrag habe eine Produktionsdauer von zwei bis fünf Jahren.

Indien ist genauso auf China angewiesen

Und noch eine fatale Verflechtung muss in die Betrachtung der Lage einbezogen werden. In den USA entfallen laut „STAT“ ungefähr 90 Prozent aller Verordnungen auf Generika, und 40 Prozent aller Nachahmerprodukte werden aus Indien importiert. Nach einem aktuellen Bericht in der Economic Times importiert Indien seinerseits 70 Prozent seiner Rohstoffe aus dem Reich der Mitte. Sie werden unter anderem bei der Herstellung von Antibiotika, Paracetamol sowie Diabetes und Herz-Kreislauf-Präparaten eingesetzt. Etwa 90 Prozent des Bedarfs der Antibiotikahersteller in Indien sollen aus China stammen. Schon seit längerer Zeit versucht Indien, diese Abhängigkeit von seinem Haupt-Konkurrenten abzuschütteln, bislang mit mäßigem Erfolg. Unternehmen wie Lupin, Sun Pharmaceuticals, Glenmark, Mankind, Dr Reddy’s, Torrent, Aurobindo Pharma und Abbott seien stark von chinesischen Importen abhängig, schreibt die indische Wirtschafts­zeitung. Das Problem für die einhei­mische Industrie verschärfe sich nun noch dadurch, dass die zentralchinesische Provinz Hubei mit der Hauptstadt Wuhan zu den Haupt-Standbeinen der chinesischen Arzneimittelrohstoffproduktion zähle. Es gebe dort etwa 30 bis 40 Produktionsstätten, die Grundchemikalien, Wirkstoffe und Zwischenprodukte nach Indien lieferten. Als weitere Hauptproduktionszentren werden Zhejiang am ostchinesischen Meer und Jiangsu genannt.

Nach Angaben der indischen Arzneimittelaufsichtsbehörde soll das Land selbst über 1.500 Herstellungsanlagen für Wirkstoffe verfügen, die derzeit nur 40 Prozent ihrer Kapazität fahren. Wenn die Situation es erfordere, müssten sich zahlreiche mittlere Unternehmen in Baddi (in Himachal), Hyderabad und Maharashtra darauf einstellen, die Nachfrage zu erfüllen, meint ein Experte in der Economic Times.

Das internationale Netzwerk für den Kauf und Verkauf von Wirkstoffen, Vitaminen und anderen Zusatzstoffen für Pharma-, Lebens- und Futtermittelindustrien „Kemiex“ (kemiex.com) hat unter knapp einhundert Life-Sciences-Unternehmen (Käufern, Händlern und Produzenten) eine Umfrage zu den möglichen Auswirkungen des Coronavirus auf den Handel mit Inhaltsstoffen durchgeführt. Nach dem Rücklauf erwarten 35 Prozent starke, 50 Prozent geringe und 15 Prozent gar keine Auswirkungen auf das Angebot. Die für das 1. Quartal geplanten Aufträge mit Auslieferung im 2. Quartal dürften überwiegend von Störungen betroffen sein, so die Hauptvermutung, wobei diese über ein Quartal hinweg anhalten könnten. Die größten Beeinträchtigungen werden durch die Verlängerung der chinesischen Neujahrsfeiertage und den verzögerten Produktionsstart erwartet, da auch saisonale Wartungsarbeiten und Sicherheitsinspektionen hiervon betroffen sein könnten. Die Feiertage wurden von der Regierung in Shanghai, Zhejiang, Jiangsu, Guangdong, Fujian und Chongqing bis zum 9. Februar verlängert. Reedereien wie Maersk und andere sollen mitgeteilt haben, dass sie einen verlängerten Zwangs­urlaub verhängt hätten, um die Sicherheit von Mitarbeitern und Kunden zu gewährleisten. Einige Unternehmen schätzten, dass sie nicht vor dem 17. Februar an die Märkte zurückkehren werden. Für Binnentransporte und den Binnenverkehr in China werden weitere Einschränkungen erwartet.

Welche Substanzen werden in der Krisenregion hergestellt?

Eine erste Impact-Analyse von Kemiex auf der Grundlage vorläufiger Informationen zeigt, dass eventuell nur bestimmte ausgewählte Produkte wie Aminosäuren, einige Vitamine und andere Wirkstoffe und Hilfsstoffe betroffen sein könnten. Da die chine­sischen Hersteller auch aufgrund der laufenden Ferienzeit keine offiziellen Erklärungen abgäben, müssten sich Beschaffungsfachleute weltweit auf ihre eigenen Folgenabschätzungen verlassen. Europäische und andere Lieferanten haben laut Kemiex Lieferbereitschaft und Lagerbestände gemeldet, mit denen die Versorgung während der Unterbrechungen in China bzw. einigen Distrikten gesichert werden können. Eine aufschlussreiche Landkarte auf der Website von Kemiex gibt einen vorläufigen Überblick über die Erzeuger und Produkte in den am stärksten betroffenen Regionen. Dort findet sich eine Auflistung von rund 60 Wirkstoffen, die dort hergestellt werden. Nach Recherchen der DAZ gibt es in Deutschland aktuell keine konkreten Anhaltspunkte für drohende Arzneimittelverknappungen aufgrund der Coronavirus-Epidemie. |

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