Pandemie Spezial

Infiziert, aber nicht krank

Wie symptomlose Virusträger die Dynamik der Pandemie prägen

Am 14. März 2020 stach die Greg Mortimer von Ushuaia, dem südlichsten Hafen von Argentinien, in See, mit dem Ziel Antarktis und Süd-Georgien. Bevor das Schiff ablegte, wurde die gesamte Besatzung und jeder einzelne Passagier über seinen Gesundheitszustand befragt und die Körpertemperatur gemessen. Passagiere, die sich in den vergangenen drei Wochen in Ostasien oder im Iran aufgehalten hatten, durften nicht an Bord. Ein ausgetüftelter Hygieneplan lag vor, und an allen Durchgängen waren Desinfektionsspender positioniert. Das medizinisch bestens ausgestattete Expeditionskreuzfahrtschiff hatte 128 Passagiere und 95 Crewmitglieder an Bord, darunter zwei Schiffsärzte.

Foto: imago images/Mauricio Zina

Symptomlos gingen sie an Bord – und waren doch infiziert. 81% der Personen auf dem Kreuzfahrtschiff Greg Mortimer hatten keine Symptome und trotzdem wurde bei ihnen SARS-CoV-2 nachgewiesen. Hier Crewmitglieder des australischen Kreuzfahrtschiffs Greg Mortimer bei der Evakuierung im Hafen von Montevideo (Urugay).

Am achten Tag auf hoher See entwickelte ein Passagier Fieber. Er wurde sofort isoliert und der Masterplan aktiviert. Die Gäste durften ihre Kabine nicht mehr verlassen, und jeder Passagier erhielt einen Mund-Nase-Schutz. Crewmitglieder, die Patienten behandelten, trugen professionelle Schutzkleidung. Stewards, die das Essen zu in den Kabinen festsitzenden Passagieren brachten, waren durch FFP-3 Masken geschützt. Offensichtlich hatte der Kapitän aus dem de­saströsen Infektionsmanagement auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess gelernt, das im Januar im Hafen von Yokohama unter Quarantäne gelegen und sich zu einem COVID-19-Hotspot entwickelt hatte (siehe Feldmeier H. Vom Indexfall zum Hotspot. DAZ 2020,Nr. 28, S. 22). Am zehnten Tag erkrankten zwei Crewmitglieder mit Verdacht auf COVID-19. Zwei Tage später ein weiteres Besatzungsmitglied und ein Passagier; am folgenden Tag weitere drei Passagiere. Als die Greg Mortimer am 27. März 2020 die Bucht von Montevideo erreichte (Argentinien hatte seine Häfen gesperrt, und die britischen Falkland-Inseln verweigerten das Einlaufen in den Hafen Stanley), stellte die ­uruguayische Gesundheitsbehörde das Schiff unter Quarantäne. Schwer erkrankte Passagiere und Crewmitglieder, darunter ein Schiffsarzt, wurden evakuiert und eine systematische Testung durchgeführt. Das Ergebnis war frappierend: Bei 128 Passagieren und Besatzungsmitgliedern (59%) wurde SARS-CoV-2 nachgewiesen – aber nur 24 zeigten Symptome. Acht Patienten mussten notfallmäßig evakuiert und vier künstlich beatmet werden. Ein Patient verstarb [1].

Die für Passagiere und Besatzung der Greg Mortimer zum Horrortrip mutierte Expeditionskreuzfahrt war für die Infektionsepidemiologen unter Erkenntnisgesichtspunkten allerdings ein Glücksfall: Aufgrund des strikten Hygieneplans ließ sich eine Ausbreitung von SARS-CoV-2 über direkten oder indirekten Kontakt (also durch Schmierinfektion) sowie über Tröpfchen weitgehend ausschließen. Die Ansteckung musste also im Wesentlichen, wenn nicht sogar ausschließlich, über Aerosole erfolgt sein. Und für Reedereien war ein für alle Mal be­wiesen, dass es nicht ausreicht, nach Krankheitszeichen zu fragen und die Körpertemperatur zu messen, um auszuschließen, dass infizierte Personen an Bord kommen. Diese Erkenntnisse sind nicht neu, bestätigen aber eindrucksvoll frühere Beobachtungen.

Neu – und in der Größenordnung ­unerwartet – war die Erkenntnis, dass 104 der 128 nachweislich Infizierten, mithin 81%, keine Symptome entwickelt hatten. Sie wären also ohne systematische Testung nicht entdeckt worden. Die Rahmenbedingungen auf der Greg Mortimer machten den Ausbruch aus der Sicht der Epidemiologen zu einem sogenannten natürlichen ­Experiment. Wie bei Laborexperimenten ermöglichen natürliche Experimente, fundamentale infektionsmedizinische Parameter exakt zu berechnen. Der Anteil von 81% asymptomatisch Infizierten an allen positiv getesteten Personen ist deshalb ein valider Wert. Frühere Untersuchungen hatten dagegen nur Schätzwerte zur prozentualen Häufigkeit von asymptomatischen Virus­trägern ermöglicht, die überdies einen breiten Fehlerbereich aufwiesen. Die Schätzungen schwankten zwischen 6,2 und 31,2% für den Ausbruch in Stockdorf im Januar 2020 [2]; zwischen 7,7 und 53,8% für aus China evakuierte japanische Staatsbürger [3]; zwischen 46,0 und 62,0% in Wuhan zu Beginn der Pandemie [4] und zwischen 31,5 und 54,6% für den Ausbruch von COVID-19 im Städtchen Vò in Oberitalien [5].

Auch Infizierte ohne Symptome sind infektiös

Studien, in denen auch die Viruslast (also nicht nur die Präsenz von SARS-CoV-2) im Rachenabstrich bestimmt wurde, zeigten übereinstimmend, dass symptomlose und symptomatische Träger von SARS-CoV-2 ähnlich viele Viren im Nasen-Rachen-Raum aufwiesen [6]. Daraus lässt sich ableiten, dass symptomlose Infizierte ein identisches infektiöses Potenzial wie COVID-19-Patienten haben. Um den Effekt von infizierten aber symptomlosen Virusträgern auf die Dynamik der Pandemie quantitativ abschätzen zu können, müssen zwei weitere Maßzahlen bekannt sein: Erstens, wie viele der zum Zeitpunkt der Untersuchung symptomlose Infizierte später doch noch Krankheitszeichen entwickeln (diese Personen würden ja irgendwann erkannt und getestet). Und zweitens, in welchem Zeitraum der Infektion die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist, dass symptomlose ­Infizierte SARS-CoV-2 auf Gesunde übertragen. Diese Maßzahlen sind nicht einfach „abgreifbar“, sondern können nur bei perfekt dokumentierten Ausbrüchen wie dem natürlichen Experiment auf der Greg Mortimer ermittelt werden. In der Realität lassen sie sich nur mithilfe von komplexen mathematischen Modellen berechnen.

Eine Gruppe von Infektionsepidemiologen unter Führung von Ruiyun Li vom Imperial College in London hat eine solche Modellrechnung für den Zeitraum vom 1. bis zum 23. Januar 2020 durchgeführt (bevor weltweit Reiserestriktionen in Kraft traten). Demnach wurden 55% aller Neuinfektionen durch asymptomatische Virusträger verursacht mit einem 95%-Vertrauensintervall von 46 bis 62%. Aufgrund der nicht-linearen Abhängigkeiten kamen die Autoren zu der Schlussfolgerung, dass in der Frühphase der Pandemie vier von fünf Fällen von COVID-19 durch symptomlose Virusträger verursacht worden waren [4]. Das entspricht den Ergebnissen einer anderen Modellrechnung mit Daten aus den USA [7]. Die daraus resultierende Schlussfolgerung hat enorme Bedeutung für die Bekämpfung von Ausbrüchen: Symptomlose Virusträger sind als sogenannte silent transmitters für eine andauernde Übertragung von SARS-CoV-2 verantwortlich, und es reicht nicht aus, nur die nachweislich Erkrankten unter Quarantäne zu stellen. Eine Studie aus der Frühphase der Epidemie in Guangzhou, China, zeigt ein weiteres wichtiges Merkmal von asymptomatischen Virusträgern: Bei den Infizierten ohne Krankheitszeichen steigt die Viruslast bereits in den ersten Tagen der Infektion auf ein Maximum und sinkt dann im Verlauf einer Woche langsam ab [8]. Zur effektiven Kontrolle eines lokalen Ausbruchs ist es dementsprechend essenziell, innerhalb kürzester Zeit auch alle asymptomatischen Infizierten zu erkennen, da diese schon in der Frühphase der SARS-CoV-2-Infektion hochansteckend sind.

Der Erfolg drakonischer Kontaktbegrenzung bis hin zur kompletten Ausgangssperre, wie sie z. B. in Oberitalien im April 2020 galt, unterstützt im Nachhinein die Plausibilität der Modellrechnungen. Es wurden in Oberitalien ja nicht nur Erkrankte unter Quarantäne gestellt, sondern durch die Ausgangssperre gleichzeitig auch alle symptomlosen Virusträger. Das Risiko einer Übertragung von SARS-CoV-2 durch asymptomatische Infizierte im öffentlichen Raum reduzierte sich dementsprechend auf nahe Null [5, 9].

Die Erkenntnisse aus der Frühphase der Pandemie sind auch für die heutige Situation relevant, in der die Zahl der Neuinfektionen im Wesentlichen durch lokale Ausbrüche bedingt ist. Da davon auszugehen ist, dass auf jeden Erkrankten vier bis fünf symptomlose Virusträger kommen, ist umfassendes Testen in möglichst kurzer Zeit von­nöten. Interessanterweise wird just in den USA diese These durch den Wirtschaftstheoretiker Paul Romer (2018 mit dem Ökonomienobelpreis ausgezeichnet) unterstützt. Er schlägt vor, die gesamte erwachsene Bevölkerung der USA zwei- bis dreimal im Monat zu testen. Die Kosten dafür, so Romer, seien „nichts im Vergleich zu jenen sieben, acht Billionen Dollar bislang schon an Wachstumsverlusten akkumulierten Kosten“. „Finde die Menschen, die infektiös sind, isoliere sie und mache Auflagen“, so der Nobelpreisträger bei einer Videokonferenz der Initiative „Test the World“.

Für eine derartig große Zahl von Testungen pro Zeiteinheit reicht die vorhandene Kapazität von PCR-Labor­automaten nicht aus. Der Genetiker Hans Lehrach vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin-Dahlem empfiehlt deshalb, statt über eine PCR eine definierte Sequenz aus der Virus-RNA nachzuweisen, das gesamte Genom zu sequenzieren, ein Procedere, das von der Probenauf­bereitung bis zur Datenanalyse automatisiert werden kann. |

Literatur

[1] Ing et al. COVID-19: in the footsteps of Ernest Shackleton. Thorax 2020;75:693-694, http://dx.doi.org/10.1136/thoraxjnl-2020-215091

[2] Böhmer et al. Investigation of a COVID-19 outbreak in Germany resulting from a single travel-associated primary case: a case series. Lancet Infectious Diseases, 15. Mai 2020, in press, https://doi.org/10.1016/S1473-3099(20)30314-5

[3] Nishiura et al. Estimation of the asymptomatic ratio of novel coronavirus infections (COVID-19). International Journal of Infectious Diseases 2020;94:154-155, https://doi.org/10.1016/j.ijid.2020.03.020

[4] Li et al. Substantial undocumented infection facilitates the rapid dissemination of novel coronavirus (SARS-CoV-2).Science 2020;368(6490):489-493, DOI: 10.1126/science.abb3221, https://science.sciencemag.org/content/368/6490/489

[5] Lavezzo et al. Suppression of a SARS-Co-V outbreak in the Italian municipality of Vo’. Nature, 30. Juni 2020, https://doi.org/10.1038/s41586-020-2488-1

[6] Huff et al. Asymptomatic transmission during the COVID-19 pandemic and implications for public health strategies. Clinical Infectious Diseases 28. Mai 2020;ciaa654, https://doi.org/10.1093/cid/ciaa654

[7] Moghadas et al. The implications of silent transmission for the control of COVID-19 outbreaks. PNAS 6. Juli 2020, https://doi.org/10.1073/pnas.2008373117

[8] He et al. Temporal dynamics in viral shedding and transmissibility of COVID-19. Nature Medicine 2020;26:672–675, https://doi.org/10.1038/s41591-020-0869-5

[9] Gatto et al. Spread and dynamics of the COVID-19 epidemic in Italy: Effects of emergency containment measures. PNAS 2020;117(19):10484-10491, https://doi.org/10.1073/pnas.2004978117

Autor

Prof. Dr. med. Hermann Feldmeier, Arzt für Mikrobiologie, Infektionsepidemiologie und Tropenmedizin. Außerordentlicher Professor an der Charité Universitätsmedizin Berlin, Mitglied internationaler Fachgremien, die sich mit vernachlässigten Tropenkrankheiten beschäftigen.

Institut für Mikrobiologie und Infektionsimmunologie, Charité Universitätsmedizin Berlin

autor@deutsche-apotheker-zeitung.de

 

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