DAZ aktuell

Risikoinflation

Gerhard Schulze

Als ich vor 25 Jahren beschloss, mit dem Rauchen aufzuhören, war ich gerade in Frankfurt zu Gast. Ich suchte mir eine Apotheke und wollte dort ein Nicotinpflaster kaufen. "Wie viele Zigaretten rauchen Sie denn am Tag?" fragte mich der Apotheker. "So um die fünf Stück, mehr vertrage ich nicht." Der Apotheker winkte ab und sagte: "Die paar Zigaretten, deswegen würde ich mir keine Gedanken machen. Und vergessen Sie das Nicotinpflaster, davon wird Ihnen nur schlecht."

So eine Absolution bekäme ich heute nicht mehr erteilt. Ich machte trotzdem mit dem Rauchen Schluss, aber es war ein gutes Gefühl zu hören, dass es gar nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Die wegwerfende Handbewegung des Apothekers und sein im Subtext mitschwingendes Ja zur Sünde gaben mir das Gefühl, irgendwo im Ausland zu sein, in Frankreich vielleicht oder in Brasilien, wo man lieber als bei uns auch mal fünf gerade sein lässt.

Heute genießen nur noch Einsiedler oder Schiffbrüchige den Vorzug, nicht permanent auf die Risiken hingewiesen zu werden, die das Leben so mit sich bringt. Alkohol, Fett, Nicotin, Zucker und Salz: Das sind keine Nahrungs- und Genussmittel mehr, sondern gefährliche Killer, unterstützt von Feinstaub, Acrylamid und Gentechnik. Der panische Blick auf Risiken aller Art gehört in die Landschaft des 21. Jahrhunderts, genau wie Yogakurse, Fastenkuren und der Ruf nach Aufgabe ungesunder Gewohnheiten. Die Auffassung des Körpers als eine Art Giftmülldeponie hat sich durchgesetzt und mündet in einen kollektiven Nocebo-Effekt: Das und das schadet mir, macht mich krank, bringt mich um.

Wie das langfristig auf uns wirkt, ist schwer zu sagen. Ein Vorteil ist aber zumindest, dass risikobewusste Menschen ihrem Körper mehr Aufmerksamkeit schenken. Sie arbeiten an ihrer Fitness, ernähren sich vernünftig, meiden Genussgifte und üben sich in Mäßigung. Doch selbst wer konsequent alle Risikofaktoren ausschaltet, stirbt oft früher als seine Lebensweise hätte erwarten lassen – und umgekehrt. Nach der Logik der Risikofaktoren müsste Altkanzler Helmut Schmidt schon lange tot sein: sitzende Lebensweise, starker Raucher, Weintrinker, und mit der Ernährung wird er es wohl auch nicht so genau nehmen. Wenn ich an ihn denke, dann ist es ein bisschen wie damals in der Frankfurter Apotheke.

Doch Helmut Schmidt zählt nicht. Für die Logik der Risikofaktoren ist er ein ärgerlicher Einzelfall und darf kein Vorbild sein. Blicken wir darum auf US-Präsident Obama: Nach Zigarettenverzicht, weitgehender Alkohohlabstinenz, Ernährungsumstellung, Sport und der gelegentlichen Einnahme von Entzündungshemmern erreicht er mit seinen 50 Jahren einen Blutdruck von 107/71 mmHg, und sein Gesamtcholesterin beträgt 193 mg/dL. Etwas gequält sieht er manchmal aus, doch das kann ja viele Gründe haben. Obamas Risiko einer Herzerkrankung jedenfalls liegt bei zwei Prozent, so das Weiße Haus in einem Bulletin.

Orientieren wir uns an den Normen und Grenzwerten, wie sie der mit sich so strenge Obama erreicht, wird fast jeder augenblicklich zum Risikopatient. Zu Zeiten meines Frankfurter Apothekers war für ältere Menschen ein Blutdruck von 140 zu 90 zwar kein idealer, aber doch noch ein ganz guter Wert. Heute heißt es: Achtung, ab dieser Marke drohen Schlaganfall und Herzinfarkt! Und neben dem Verzicht auf die üblichen Verdächtigen sollte laut Empfehlung der Deutschen Herzstiftung eine vorbeugende Dauermedikation erfolgen.

Risiken wohin man schaut. Wer sie alle gleich ernst nimmt, wird verrückt oder depressiv oder beides zusammen. Der Laie hat es schwer, zwischen wichtig und unwichtig, tödlichem Risiko und aufgebauschtem Problem zu unterscheiden. Er ist auf Hilfe angewiesen. Wann sollte er sein Verhalten ändern und wann sollte er seinen Lebensstil gegen die Diktatur der Normwerte verteidigen? Was ist schlimmer: der Stress der Askese oder die Wonnen der Sünde? Wie viel Sorgen muss man sich wirklich machen, wenn Cholesterinspiegel und Blutdruck im Alter ansteigen und man ein paar Kilo zulegt? Was ist gefährlicher: Eine Genkartoffel oder die multiresistenten Bakterienstämme, die sich immer weiter ausbreiten? Der Laie wird sich wahrscheinlich für die Genkartoffel entscheiden, Arzt und Apotheker wissen es besser.

Es herrscht Risikoinflation. Manche Risiken sind erheblich, andere nicht der Rede wert, einen Überblick hat kaum noch jemand. Wohin das führen wird, ist derzeit noch schwer zu sagen. Eins jedoch scheint mir sicher zu sein: Wenn nicht mal jemand abwinkt und den Zeigefinger nur noch in dringenden Fällen erhebt, spielen die Leute irgendwann nicht mehr mit.


Gerhard Schulze

Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.



DAZ 2011, Nr. 48, S. 40

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