DAZ aktuell

Das Alarmdilemma

Gerhard Schulze

Seit Jahren lese ich über die Zunahme von Resistenzen bestimmter Keime gegen alle derzeit verfügbaren Antibiotika. Auch die DAZ widmete sich dem Problem des Öfteren. Die Beiträge waren immer um Sachlichkeit bemüht. Panikmache konnte ich nie feststellen. Auch keine aufgeblasene Weltuntergangsmetaphorik, sondern nur einen unmissverständlichen Tonfall, der dem Ernst der Lage angemessen war: Leute, geht intelligenter mit Antibiotika um, sonst helfen sie bald nicht mehr.

Schon längst gibt es in vielen Krankenhäusern Tote zu beklagen. Man bemüht sich um mehr Hygiene, aber reicht das aus? Und was passiert, wenn sich die Keime weiter ausbreiten? Werden dann wie im Mittelalter Menschen millionenfach sterben, weil keine geeigneten Medikamente zur Verfügung stehen? Mich wundert, wo die drastischen Maßnahmen bleiben: Warnhinweise auf Antibiotika-Packungen in extra großer Schrift, massive Aufklärung der Öffentlichkeit, Tierzucht und Intensivstationen unter strenger Kontrolle, peinlich genaue Sicherstellung der Therapietreue und so weiter.

Um das Risiko von Acrylamid, Genkartoffeln, Feinstaub, Elektrosmog, Mobilfunk oder Kohlendioxid wird viel mehr Aufhebens gemacht. Wie riskant sind multiresistente Keime also wirklich? Was wird unternommen, um der Gefahr zu begegnen?

Ich schaue auf der Homepage des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen nach und finde neun neue Antibiotika in der Pipeline. "Ein Tropfen auf den heißen Stein", sagt mein pharmazeutischer Berater dazu. Namhafte Forschungseinrichtungen wie das Robert Koch-Institut oder das Rudolf-Virchow Zentrum beschäftigen sich ebenfalls mit dem Problem. Das Bundesgesundheitsministerium rief im Jahr 2008 die deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie ins Leben. Die Schwachstellen von multiresistenten Keimen werden immer besser verstanden, aber gezielt dort ansetzende Wirkstoffe fehlen. Es gibt ein paar exotische, doch wenig massentaugliche Behandlungsansätze, etwa die Phagen-Therapie, die bei austherapierten Patienten manchmal eingesetzt wird.

All das wirkt recht gemütlich, so als hätten wir bei der Lösung des Problems jede Zeit der Welt. Auch auf der Anwenderseite bewegt sich wenig. Nach wie vor bekommt jeder, der das braucht oder zu brauchen glaubt, ein Antibiotikum verordnet. Ob und wie er es dann verwendet, bleibt ihm überlassen.

Willkommen im Alarmdilemma. Wie schlimm ist es wirklich? Wo hört die berechtigte Sorge auf, wo fängt Panikmache an? Denkt man an all das Getöse um weniger bedrohliche, aber sensationsträchtigere Gesundheitsgefahren, möchte man nur noch müde abwinken. Nicht noch eine Baustelle! Nicht noch einen Teufel an die Wand malen, irgendwann hört niemand mehr zu!

Die schnell wieder vergessene Panik des Monats mag den Medien nützen, aber was ist sie im Vergleich zu dem, was der Menschheit durch sich ungehindert ausbreitende multiresistente Keime bevorstehen könnte? Also brauchen wir eine globale Initiative. Utopisch?

Nehmen wir zum Vergleich die Maßnahmen gegen die Gefahren des Rauchens und Passivrauchens. Um hier die Nichtraucher zu schützen und die Raucher zu warnen, wurden weltweit unglaubliche Anstrengungen gemacht. Rauchen in geschlossenen öffentlichen Räumen ist mittlerweile in vielen Ländern verboten, sogar das Rauchen im Freien wird immer häufiger untersagt. Man kann seinem Nachbarn gerichtlich verbieten lassen, auf dem Balkon eine Zigarette zu rauchen. Die Sprache der Gefahrenhinweise auf Zigarettenschachteln ist drastisch: "Wer raucht, könnte einen langen und qualvollen Tod erleiden!" Bald sollen abschreckende Fotos auf die Packungen gedruckt werden. All diese Maßnahmen wirken. Die Zahl der Raucher ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich zurückgegangen, und irgendwann wird es wohl keine mehr geben.

Solchen Eifer kann ich bei der Bekämpfung multiresistenter Keime nicht erkennen. Wir verdrängen eine reale Gefahr und schlagen viel zu oft an der falschen Stelle Alarm – man denke nur an die Schweinegrippe. Die Kapazität der Menschen, sich alarmieren zu lassen, ist ein knappes öffentliches Gut, das Politiker, Medien und andere Profiteure der Angst ständig im Übermaß beanspruchen.

Das kann man ihnen allerdings nicht verbieten. So kommt allmählich eine Art Alarmresistenz in Sicht, die der Antibiotikaresistenz in fataler Weise ähnelt. Für erstere sind Soziologen zuständig, für letztere Apotheker, Ärzte und ihre Organisationen, solange dieses brisante Thema unseren professionellen Alarmisten zu komplex oder zu spröde scheint.


Gerhard Schulze

Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.

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