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Warum ich wann in welche Apotheke gehe

Gerhard Schulze

"Wir alle spielen Theater" – dieser Satz des amerikanischen Soziologen Ervin Goffman wurde in meiner Disziplin schnell zum geflügelten Wort. Aber hat er auch was mit der Apotheke zu tun? Warten Sie ab.

Wenn ich ein Rezept einlösen will, gehe ich zu Apotheke A, das ist die kleinste der Apotheken, die ich zu Fuß erreichen kann. Sie bietet nichts Besonderes, und mich nervt der Klingelton der Tür, wenn ich hereinkomme. Die anderen Apotheken bieten mehr Auswahl und Service, aber das ist mir nicht so wichtig.

Apotheke A gehört einer Apothekerin, die mir mal erklärt hat, was wirkstoffgleich bedeutet. Ich musste das wissen, denn seit einiger Zeit heißt das Medikament, das ich manchmal vom Arzt verschrieben bekomme, anders als früher und wird von einer mir unbekannten Firma hergestellt. Das darf meinetwegen so sein, aber in der Zeitung stand auch etwas über Arzneimittelfälschungen und billige Importware aus China. Das warf unweigerlich Fragen auf. Über Arzneimittelfälschungen bräuchte ich mir keine Gedanken zu machen, sagte daraufhin die Apothekerin, sie stehe persönlich dafür ein, dass jeder Kunde seriöse Ware erhält. Und was den Wirkstoff angehe, der müsse im Originalprodukt und im Nachahmerpräparat identisch sein, im Prinzip jedenfalls.

Die Apothekerin nahm sich auch dafür Zeit, mir das leichte Stirnrunzeln zu erklären, das sich in ihrem Gesicht einstellte, als sie das Wort "wirkstoffgleich" sagte. Jeder Pharmazeut weiß ja, dass es hier Grenzfälle gibt und die verschiedenen Zubereitungen eben doch voneinander abweichen, wenn auch nur ganz leicht. Mir ist es wichtig, wenigstens ansatzweise zu verstehen, warum sie trotz dieser Abweichungen als wirkstoffgleich bezeichnet werden dürfen und ich bin ein wenig stolz darauf, dass die Apothekerin mir gegenüber die Zusammenhänge nicht unnötig vereinfachte. "Es ist immer komplizierter" – diesen Satz hatte der Philosoph Ludwig Marcuse über seinem Schreibtisch hängen. Schon aus diesem Grund bin ich mit schlichten Leerformeln nicht zufrieden. Und für die Apothekerin scheint es eine willkommene Abwechslung, wenn ich ihren Sachverstand in Anspruch nehme.

Hin und wieder gehe ich jedoch sozusagen fremd, denn es gibt da noch Apotheke B. Sie hat alles, was Apotheke A nicht hat. Hier erlebe ich etwas, das es in der Apothekenlandschaft nur selten gibt: Weite und Leere. Heutige Apotheken sind entweder klein und vollgestellt oder groß und vollgestellt, und nur noch dunkel erinnere ich mich an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wo sich ihre Inneneinrichtung auf braune Schubladenschränke, honigfarbene Glasbehälter und Tiegel aus weißem Porzellan beschränkte.

Apotheke B knüpft an diese Tradition an. So viel könnte man auf den freien Verkaufsflächen unterbringen – hier einen Aktionstisch und dort einen Pappaufsteller, hier eine Kosmetikserie und dort ein Stapel Kniewärmer im Sonderangebot, aber nein, es geht um die Umsetzung von "weniger ist mehr". Die Botschaft überzeugt mich: weg mit den Aufstellern, Lutschbonbons und Versprechungen, hin zu Schlichtheit, Ruhe und Eleganz.

Und wo bleibt da der Umsatz? Apotheke B liegt in einer Fußgängerzone, die Mieten sind happig. Der Inhaber geht mit seinem Eigensinn ein hohes ökonomisches Risiko ein und bietet zudem vieles an, das in anderen Apotheken längst abgeschafft wurde, weil es sich nicht rechnet. Zum Beispiel kann ich mir in Apotheke B meinen eigenen Kräutertee mischen lassen und muss nicht auf Fertigprodukte zurückgreifen. Andere Kräuterteeliebhaber wissen das auch und kommen hierher. Außerdem ist man in Apotheke B auf traditionelle chinesische Medizin spezialisiert. Das hat sich herumgesprochen und sichert regelmäßige Einkünfte.

TCM und die beiden Pharmazeuten aus Afrika, die dort angestellt sind, die Inneneinrichtung und der Verzicht auf all den kleinkarierten Krempel – der Besuch von Apotheke B erzeugt in mir ein weltoffenes Gefühl, und auch deshalb zieht es mich immer wieder hin.

"Wir alle spielen Theater." Goffman meinte diesen Satz nicht kritisch, sondern er beschrieb damit den Rahmen, in dem wir uns bewegen, wenn wir miteinander umgehen. Ob wir wollen oder nicht, wir sind immer gleichzeitig Publikum und Darsteller. Das zu kritisieren wäre realitätsfremd. Sinnvolle Kritik setzt deshalb an der Performance an: Es gibt gute und schlechte Inszenierungen, in der Politik, im Privatleben, in der Apotheke. Und so gewiss, wie wir auf der Bühne stehen, so gewiss schätzen wir eine gute Inszenierung.


Gerhard Schulze


Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart. Im Februar 2011 erschien sein aktuelles Buch "Krisen. Das Alarmdilemma" im Fischer Verlag.



DAZ 2011, Nr. 12, S. 34

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