DAZ aktuell

Antibiotika OTC

Gerhard Schulze

Jedes Jahr im Februar mache ich eine Reise in ein südliches Land. Meine diesjährige Winterflucht führte mich nach Ägypten, ins Le Meridien Dahab. Ein außergewöhnliches Hotel, ruhig und gepflegt, Architektur und Außenanlagen nach Feng Shui konzipiert. Von den politischen Wirren des arabischen Frühlings ist dort nichts zu spüren, aber das Ausbleiben der Touristen sorgt dafür, dass man auch hier um die Zukunft bangt.

Der Besuch einer Apotheke war für mich diesmal obligat, denn einer meiner Mitreisenden litt an einem grippalen Infekt, dessen Begleiterscheinungen er lindern wollte, außerdem plagten uns bei Einbruch der Dämmerung die Mücken. Auf der Suche nach einer Flasche Hustensaft und etwas gegen Mückenstiche begab ich mich in das nahegelegene Küstenstädtchen Dahab. Dort gibt es mindestens drei Apotheken mit großem Angebot drogerieüblicher Waren, und auch im Arzneimittelsortiment fehlt es an nichts.

In Ägypten sind Arzneimittel sehr preiswert, ihre Abgabe ist staatlich subventioniert, ebenso wie Diesel, Benzin und Nahrungsmittel. Die Arzneimittelversorgung ist derzeit noch sichergestellt, auch Lebensmittel gibt es reichlich, doch die Tankstellen haben nur noch punktuell geöffnet. Autofahrer stehen dann stundenlang Schlange, und Ägypten, so hört man, stehe kurz vor dem Staatsbankrott.

Wer in Ägypten krank wird, den führt in vielen Fällen der Weg zuerst in die Apotheke, denn Arztbesuche können sich viele Patienten nicht leisten. Hier kommt dem Apotheker vor Ort eine besondere Verantwortung zu. Beratung und Medikationsmanagement müssten im Vordergrund stehen, aber so ist es nicht, im Gegenteil.

Ich sprach in drei Apotheken vor. In allen verlangte ich ein Repellent gegen Mücken und etwas gegen Schluckbeschwerden und leichten Husten. In der ersten Apotheke bot man mir das Repellent für umgerechnet neun Euro an, das ist das Dreifache dessen, was das identische Produkt im Supermarkt kostet, wie ich aber erst später erfuhr. Touristen zahlen mehr als Einheimische – das ist nichts Neues, aber solch unverblümtes Gewinnstreben kratzt für mein Empfinden gewaltig am Image der Apotheke. Zum Glück sind nicht alle so, wie die Diskussion in einigen Internetforen zeigt, und wie ich gerne bestätige: Schon in der zweiten Apotheke hätte ich das gleiche Repellent zum handelsüblichen Preis bekommen, in der dritten lag es nur leicht darüber.

Gegen die Beschwerden meines Mitreisenden bot man mir in allen drei Apotheken eine Schachtel Amoxicillin an, auf meine Schilderung der Symptome hin. In einer Apotheke musste ich eine Weile warten, weil vor mir zwei Russen an der Reihe waren; zahlreiche Schachteln wechselten den Besitzer. Viagra war dabei, aber auch anderes. Inzwischen weiß ich, dass sich russische Touristen in Ägypten mit allen möglichen Arzneimitteln eindecken, vor allem mit Antibiotika.

Über das Viagra kann man ja noch schmunzeln, aber Antibiotika als OTC? Einfach so, auf Vorrat, ohne Hinweis auf vorschriftsgemäße Einnahme, unerwünschte Wirkungen und Interaktionen, ohne den Rat, es zunächst mit einer schwächeren Waffe zu versuchen?

In Ägypten gelten Antibiotika als wirkungsvoll, aber harmlos. Sie sind das Mittel der ersten Wahl, und zwar bei jeder Kleinigkeit, das habe ich mir von Ortskundigen sagen lassen. Der Apotheker kennt die Risiken, gibt sein Wissen aber nicht unbedingt weiter. Die Patienten bleiben beim Umgang mit den so segensreichen antibakteriellen Wirkstoffen sich selbst überlassen. Wenn ich angesichts dessen an das Problem der multiresistenten Erreger denke, die heute vor allem ein Problem der Krankenhäuser und Intensivstationen sind, dann bin ich alarmiert.

Antibiotika OTC? Ungeachtet dieser grob fahrlässig scheinenden pharmazeutischen Praxis sind bakterielle Infektionen nach wie vor auf dem Rückzug, auch und gerade in Ägypten. Unter den zehn wichtigsten krankheitsbedingten Todesursachen finden sich im 2011 erschienenen Egypt Pharmaceutical Country Profile vor allem Zivilisationsleiden wie Bluthochdruck, Diabetes und Arteriosklerose. Der Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung von 40 Jahren im Jahr 1960 auf erstaunliche 73 Jahre im Jahr 2010 spricht ebenfalls dafür, dass die Ägypter vieles richtig machen.

Ich möchte nichts verharmlosen, aber noch gleicht das, was in Ägypten geschieht, einem gigantischen Freilandexperiment mit offenem Ausgang. In Europa sind die Regeln zur Abgabe von Antibiotika strenger, und das Problem der Resistenzen ist – anders als in Ägypten – längst in den Fokus der konkreten Lebenswelt vorgerückt. Dennoch sterben gerade bei uns jedes Jahr Tausende von Menschen an nicht mehr behandelbaren Infektionen. Wie passt das zusammen? Sind und bleiben trotz aller Vorsicht die Intensivstationen unserer Hightech-Krankenhäuser die wichtigste Brutstätte multiresistenter Erreger? Oder brauchen sie "in freier Wildbahn" einfach nur länger, bis sie sich entwickeln? Wir werden sehen. Dazu müssen wir jedoch in alle Richtungen schauen.


Gerhard Schulze

Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.



DAZ 2013, Nr. 13, S. 23

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