DAZ aktuell

Der Wald hinter den Bäumen

Gerhard Schulze

Wenn ein Soziologe die Packungsbeilage von Fertigarzneimitteln liest, ist er genauso ratlos wie die meisten seiner Mitmenschen auch. Das liegt nicht, wie häufig behauptet, am schwer verständlichen Inhalt dieser Texte. Deren Verfasser schaffen es durchaus, die zum Teil hochkomplexen Sachverhalte für medizinische Laien aufzubereiten. Getreu dem Motto Ludwig Wittgensteins: Was sich sagen lässt, lässt sich klar sagen, und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.

Man versteht die Packungsbeilage, aber genau damit gehen die Probleme los. Der ohnehin wegen seiner Krankheit verunsicherte Patient wird über Risiken informiert, die ihn in der Regel nicht betreffen, und bekommt es mit der Angst zu tun. Ist er gegen den Wirkstoff allergisch? Sind plötzliche Kopfschmerzen, nie da gewesenes Magenzwicken, Durchfall oder Schwindelgefühl dem neuen Arzneimittel anzulasten, dem Wetter oder seinem Lebensstil? Wird er während der Therapie schwere Nebenwirkungen entwickeln, zum Beispiel Magenbluten, Leberfunktionsstörungen, Muskelschwund? Wer nach der Lektüre der Packungsbeilage noch brav seine Medikamente schluckt, muss über eine gute Portion Galgenhumor verfügen, denn am Ende steht oft die Frage im Raum, ob man die Therapie unbeschadet überleben wird.

Die Hersteller von Fertigarzneimitteln sind verpflichtet, alle Risiken und Nebenwirkungen ihrer Produkte klar zu benennen. Einer von zehn, von hundert, von tausend, von zehntausend Patienten ist davon betroffen. In der Packungsbeilage geht es um Kollektive unterschiedlicher Größe, aber der Patient überträgt alles auf sich. In der Packungsbeilage geht es um Ausnahmen, der Patient hält sie für die Regel. Er verliert sehr bald aus den Augen, dass sein Medikament gar nicht in Verkehr gebracht worden wäre, wenn eine größere Zahl von Anwendern mit dem zu rechnen hätte, was im Text alles aufgeführt wird.

"Dann lesen Sie die Packungsbeilage eben nicht", sagte mein Arzt zu mir, nachdem ich mit ihm über dieses Dilemma gesprochen hatte. "Alles, was Sie wissen müssen, kann ich Ihnen in drei Sätzen sagen: Nehmen Sie das Mittel eine Woche lang zweimal täglich ein, und zwar auf die Stunde genau. Gibt es Probleme, rufen Sie mich an. Und brechen Sie die Therapie nicht etwa ab, wenn Sie die Gebrauchsinformation doch noch gelesen haben."

Für diese Kolumne nahm ich zehn Packungsbeilagen unter die Lupe. Was mir am meisten auffiel: Es geht aus ihnen kaum hervor, dass ein Arzneimittel auch helfen kann. Nur der erste Textabschnitt handelt vom Sinn der Therapie, in meiner Stichprobe waren das fünf bis zehn Prozent der gesamten Textmenge. Der therapeutische Nutzen ist im Vergleich zum Gesamttext von untergeordneter Bedeutung.

Wir alle wissen, wie sehr der Heilungsprozess an Vertrauen und Zuversicht gebunden ist. Das gilt natürlich auch für die klassische Arzneimitteltherapie, doch mit den Packungsbeilagen wird das Gegenteil erreicht. Studien zeigen immer wieder, dass Patienten ihre Therapie entweder gar nicht erst anfangen oder vorzeitig wieder abbrechen, sobald sie die Packungsbeilage gelesen haben, denn sie beziehen das, was sich in der Gesamtheit der Patienten abspielt auf sich persönlich.

Was tun? Die Packungsbeilage ignorieren und sich der Heilkraft eines Arzneimittels ohne nagende Zweifel überlassen? Bei einer akuten Erkrankung mag das noch angehen, bei einem chronischen Leiden wäre mir das zu wenig. Ich würde alle möglichen Informationen einholen, aus Ratgebern, Büchern oder dem Internet. Dann wüsste ich noch mehr: von den Erfahrungen meiner Leidensgenossen, vom oft völlig unkritisch hochgejubelten Segen "sanfter" Alternativen oder vom vermeintlichen Übel der bösen Chemie. Alles klar gesagt und ausgesprochen.

Wittgenstein würde seinen Satz heute vermutlich anders schreiben. Man kann vieles klar sagen, aber irgendwann erreicht der Wert des Gesagten eine Grenze. Sie ist nicht besonders trennscharf, aber der Nutzen von Informationen nimmt irgendwann ab. Oder schlägt ins Gegenteil um. Was sich sagen lässt, lässt sich klar sagen, aber nicht alles, was man sagen kann, muss auch gesagt werden, und manchmal hilft es, einfach mal den Empfang abzustellen.

Es bleibt oft an den Apothekern hängen, das Große und Ganze zu zeigen, den Wald hinter den Bäumen. Sie können wieder jene Zuversicht wecken, auf die der Heilungsprozess so dringend angewiesen ist. Das bedeutet noch mehr Arbeit und noch mehr Verantwortung, aber wir alle brauchen hin und wieder jemand, der uns sagt: "Keine Sorge. Es ist alles halb so schlimm."


Gerhard Schulze

Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart. Im Februar 2011 erschien sein aktuelles Buch "Krisen. Das Alarmdilemma" im Fischer Verlag.



DAZ 2011, Nr. 39, S. 52

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