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Hilfe bei überaktiver Blase und Harninkontinenz

Mit zunehmendem Alter sind sowohl Frauen als auch Männer vermehrt von einer Harninkontinenz betroffen. Während die Dranginkontinenz mit steigendem Alter bei Männern zunimmt, ist die Inzidenz der Stressinkontinenz bei Frauen zum Zeitpunkt der Menopause am größten. Prof. Dr. med. Helmut Knispel vom Prostatazentrum Berlin, St. Hedwigskrankenhaus, informierte über die therapeutischen Möglichkeiten.
Foto: DAZ/ck
Helmut Knispel

Die Belastungsinkontinenz ist die häufigste Form der Blasenschwäche bei Frauen. Sie wurde früher auch häufig als Stressinkontinenz bezeichnet, wobei das Wort Stress nichts mit psychischer Belastung zu tun hat, sondern die physische Belastung des Verschlusses der Harnblase bezeichnet. Als Ursache gilt ein mangelnder Beckenbodenverschluss, der einer Druckerhöhung, wie sie beim Niesen, Husten, Lachen, Tragen von Lasten oder bei sportlichen Aktivitäten entsteht, nicht standhält. Durch Schwangerschaften, Bindegewebsschwäche und Alterungsprozesse ist die Belastungsinkontinenz weit häufiger bei Frauen als bei Männern anzutreffen. Zumal in der weiblichen Anatomie die Prostata "fehlt", so dass einzig der Beckenboden den Verschlussmechanismus unterstützt. Bei Männern tritt eine Belastungsinkontinenz vor allem nach der chirurgischen Entfernung der Prostata auf.

Bei der Dranginkontinenz liegt keine Störung des Verschlussmechanismus vor, sondern durch das willentlich nicht zu beeinflussende Zusammenziehen des Blasenmuskels kommt es zum Harnverlust. Bereits eine geringe Füllung der Blase bewirkt einen starken, willentlich nicht zu unterdrückenden Harndrang.

Der Begriff "überaktive Blase" bezeichnet einen multifaktoriellen Symptomenkomplex, bei dem mechanische, neuronale und psychische Aspekte eine Rolle spielen. Harnspeicherung und Harnentleerung werden durch nervale Regelkreise zwischen kortikalen, subkortikalen, spinalen und peripheren Nerven gesteuert, es besteht eine Dreifachinnervation aus parasympathischen, sympathischen und somatischen Anteilen. Muskarinrezeptoren spielen eine wichtige Rolle bei der Kontraktilität der Blase. Der Nervus pelvicus wird vom parasympathischen System stimuliert, als Folge wird Acetylcholin von den postganglionären Neuronen freigesetzt und bindet an Muskarinrezeptoren des Detrusormuskels. Eine Kaskade von intrazellulärer Signalübertragung vermittelt die Kontraktion der Blase. Anticholinergika können die Übertragung der Impulse des Parasympathikus unterbrechen. Sie greifen an den M3-Rezeptoren des Detrusors an und inhibieren dessen Kontraktionskraft, so dass der Harndrang unterdrückt wird. Medikamente zur Therapie der Harninkontinenz sind

  • Anticholinergika zur symptomatischen Therapie einer Dranginkontinenz und Überaktiven Blase unabhängig von ihrer Genese sowie

  • der Serotonin-ReuptakeHemmer Duloxetin zur Behandlung einer mittelschweren bis schweren Belastungsinkontinenz.

Medikamentöse Ursachen von Blasenfunktionsstörungen
ACE-Hemmer
Alphaadrenegika
Alpha-Rezeptorenblocker
Antazida
Anticholinergika
Analgetika
Antidepressiva
Antiemetika
Antiepileptika
Antihistaminika
Antiparkinsonmittel
Beta-Blocker
Calciumantagonisten
Cholinergika
Diuretika
Narkotika
Neuroleptika
Prostaglandininhibitoren
Psychopharmaka
Sedativa

"Unten" trocken bedeutet auch "oben" trocken

Vor allem bei Dranginkontinenz haben Anticholinergika (Darifenacin, Oxybutynin, Propiverin, Solifenacin, Tolterodin, Trospiumchlorid) ihre Bedeutung. Sie wirken der pathologisch übersteigerten Blasenkontraktion durch Blockade muskarinerger Rezeptoren entgegen. Alle Anticholinergika reduzieren über die kompetitive Hemmung parasympathischer, über muskarinerge Rezeptoren vermittelte Acetylcholin-Effekte am Harnblasendetrusor, die Detrusorkontraktilität. Es kommt zu einer Abnahme des maximalen Detrusordruckes und einer Zunahme der funktionellen Blasenkapazität. Allerdings sind die typischen Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Obstipation, Tachykardie und Akkomodationsstörungen sehr belastend. Mit der einfachen Beschreibung, dass wer "unten" trocken sein möchte, eben auch damit rechnen muss, dass er "oben" trocken ist, könnte Patienten die lästige Mundtrockenheit erklärt und die Compliance im Beratungsgespräch verbessert werden. Denn diese sei bei den Anticholinergika sehr schlecht, beklagte Knispel. Die höchste Rate an Mundtrockenheit lässt sich bei unretardiertem oralen Oxybutynin beobachten. Mit der Einführung des Oxybutynin-Pflasters ist es möglich, die Leberpassage und damit den First-pass-Effekt zu umgehen.

Duloxetin ist ein ursprünglich als Antidepressivum entwickelter Serotonin-Reuptake-Hemmer, der auch alpha-adrenerg und anticholinerg wirksam ist. Die Substanz ist in den USA ausschließlich als Antidepressivum, in Europa zur Therapie der mittleren und schweren Belastungsinkontinenz der Frau und als Antidepressivum zugelassen. Auch bei Männern wirke die Substanz und zeige sogar weniger unerwünschte Wirkungen, eine Zulassung gibt es jedoch in Deutschland nicht, so Knispel, Duloxetin bei Männern wird hier off-label eingesetzt.

M3-Selektivität gewünscht

Muskarinerge Rezeptoren spielen eine wichtige Rolle bei der Kontraktilität der Blase. Es werden fünf verschiedene Rezeptor-Subtypen unterschieden: M1 bis M5. M1, M4 und M5 kommen vor allem im Nervensystem vor. Sie sind unter anderem verantwortlich für Gedächtnis und kognitive Funktionen. M2- und M3-Rezeptoren befinden sich an der glatten Muskulatur und am Gehirn. M3-Subtypen kommen auch in exokrinen Drüsen und am Auge vor. Da auch die unerwünschten Wirkungen über muskarinerge Rezeptoren vermittelt werden, wird an rezeptor- und organselektiven Substanzen geforscht. So ist Tolterodin teilweise blasenselektiv und erzeugte in einer retardierten Form weniger Mundtrockenheit als in der bisherigen Darreichungsform. Eine Reduktion der Nebenwirkungen konnte ebenfalls mit transdermalem Oxybutynin erzielt werden.

Gewünscht wären Anticholinergika, die die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden können oder möglichst wenig muskarinerge Rezeptoren im ZNS adressieren. Knispel wies eindringlich darauf hin, dass es typische Risikopatienten für die Beeinträchtigung der kognitiven Funktion durch Anticholinergika gibt, die besondere Aufmerksamkeit verlangen. Dazu gehören Patienten mit Alzheimer Erkrankung und verwandten Demenzformen und Parkinsonpatienten, bei denen eine höhere Sensitivität gegenüber Anticholinergika besteht. Zu einer Verstärkung anticholinerger Effekte durch eine Vorschädigung kann es bei Typ-2-Diabetes im Alter, multipler Sklerose, Alkoholismus und bei älteren Patienten im Allgemeinen kommen. Gedächtnisleistung und die kognitiven Fähigkeiten können ganz erheblich negativ beeinflusst werden, Tests zeigen, dass sie teilweise dramatisch unter Anticholinergika abnehmen.

Trainieren Sie Ihren Beckenboden!

Einen hohen Stellenwert in der Therapie und Prophylaxe einer Inkontinenz haben Blasentraining und körperliches Training der Beckenbodenmuskulatur, besonders weil hierbei von keinen unerwünschten Wirkungen berichtet wird. Knispel rät Frauen zwischen 18 und 21 Jahren das Beckenbodentraining einmal richtig zu erlernen, dann könne man dieses Training lebenslang fortsetzen. "Ein oder zwei Sitzungen bei einem Physiotherapeuten sind sehr gut investiertes Geld!"

ck



DAZ 2011, Nr. 23, S. 62


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