Arzneimittel und Therapie

Überaktive Blase: Mehr Therapiesicherheit durch Darifenacin

Die überaktive Blase und Inkontinenz gehören nach wie vor zu den unterdiagnostizierten und unterbehandelten Erkrankungen. Das liegt nicht nur an der allgemeinen Tabuisierung aller Gesundheitsstörungen, die etwas mit menschlichen Exkrementen und den Sexualorganen zu tun haben. Oft sinkt auch die Compliance mit zunehmender Therapiedauer, da die medikamentöse Therapie mit den herkömmlichen Anticholinergika auch ihre Schattenseiten hat.

Der Behandlungserfolg wird oftmals mit unangenehmen Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Akkommodationsstörungen des Auges oder kognitiven Beeinträchtigungen erkauft. Die Folge: die Compliance sinkt und auch bei den Behandlern stellen sich Frustrationen ein. Eine deutlich bessere Therapietreue wird indes von dem selektiven Antimuskarinikum Darifenacin (Emselex®) erwartet, der im Januar dieses Jahres eingeführt wurde. Es weist eine höhere Selektivität bei den verschiedenen Muscarinrezeptoren auf und ist deshalb besser verträglich.

Hoher Leidensdruck

Unter einer überaktiven Blase (OAB, over-active bladder) leidet etwa jeder sechste Erwachsene über 40 Jahre. In Deutschland sind insgesamt etwa 6,6 Millionen Menschen betroffen. Mit zunehmendem Alter steigt die Prävalenz. Bei den über 75-Jährigen sind es bereits 30 bis 40%. Zusätzlich besteht häufig auch eine Harninkontinenz. Obwohl die Patienten enorm unter ihrer Krankheit leiden, gehen viele von ihnen zunächst nicht zum Arzt. Sie versuchen vielmehr, selbst mit ihren Problemen fertig zu werden. Diese sind stark mit einer Einschränkung der Alltagsaktivitäten verbunden. So planen die Betroffenen ihre Gänge außer Haus häufig nur nach der Verfügbarkeit von Toiletten. Reisen werden mitunter ganz gestrichen. Nach und nach ziehen sich die Patienten sozial zurück. Auch sexuelle Kontakte und Intimität werden vermieden. Hinzu kommen psychische Probleme, Schuldgefühle und Ängste. Denn viele befürchten, nach Urin zu riechen. Sie haben Angst vor einem Blasenkontrollverlust und glauben vermeiden zu müssen, ihrer Umwelt zur Last zu fallen.

Überaktive Blase – Symptome und Ursachen

Dem Syndrom der überaktiven Blase liegt eine Übererregbarkeit des Blasenwandmuskels (Musculus detrusor) zugrunde. Normalerweise ist dieser Muskel in der Füllungsphase der Harnblase entspannt und kontrahiert sich erst bei der gewollten Blasenentleerung. Bei Patienten mit einer überaktiven Blase zieht sich der Muskel bereits während der Blasenfüllung zusammen. Dadurch werden die typischen Beschwerden ausgelöst.

  • Ein überfallartiger, plötzlich auftretender, zwingender Drang, Urin lassen zu müssen (imperativer Harndrang), der nur mit Mühe unterdrückt werden kann.
  • erhöhte Miktionsfrequenz (Pollakisurie): die Patienten müssen zu häufig Urin lassen 
    (> 8 x in 24 Stunden).
  • Nykturie: die Patienten müssen nachts ein- oder mehrere Male aufstehen, um Wasser zu lassen.
  • Dranginkontinenz: gekennzeichnet durch unfreiwilligen Urinverlust verbunden mit imperativem Harndrang oder unmittelbar nach dem Auftreten von imperativem Harndrang.

Häufige Harnwegsinfekte, Blasenauslass-Störung oder Blasensteine können zu einer Überempfindlichkeit der Dehnungsrezeptoren in der Blasenwand führen. Dadurch wird zu früh das Signal "Blase voll" an das Gehirn geleitet. Seltenere Ursachen können auch einige neurologische Erkrankungen oder Stoffwechselstörungen sein. Oftmals kann aber auch keine ursächliche Erkrankung für die Überaktivität der Blase gefunden werden.

Mangelnde Therapietreue bei Anticholinergika

Erst wenn die Beschwerden überhand nehmen und der Leidensdruck unerträglich wird, erscheint ein Arztbesuch unausweichlich. Somit wird überhaupt nur ein Drittel aller Patienten diagnostiziert. Der Anteil der behandelten Patienten ist noch geringer: nur 27% derjenigen, die wegen einer überaktiven Blase einen Arzt aufsuchen, werden auch therapiert. Verfolgt man die Daten weiter, so bleibt für eine erfolgreiche Langzeittherapie nur noch ein kläglicher Rest übrig. Denn obwohl von der Internationalen Inkontinenzgesellschaft (ICI) die Gabe von Antimuskarinika als einzige medikamentöse Therapieoption zur Behandlung der Dranginkontinenz empfohlen wird, und obwohl die Effektivität der Medikation vielfach belegt ist, werden die herkömmlichen Antimuskarinika von vielen auf Dauer nicht eingenommen. Nach drei Monaten nimmt bereits jeder zweite sein Medikament nicht mehr ein. Und nach einem halben Jahr bleibt nur noch jeder sechste bis siebte Patient seiner Therapie treu. Vor allem den Verträglichkeitsproblemen wird diese ausgeprägte Non-Compliance angelastet. So klagen zum Beispiel bis zu 42% der Patienten über Mundtrockenheit unter Oxybutynin, wobei der Placeboeffekt schon abgezogen ist.

Selektiver Wirkmechanismus senkt Nebenwirkungsraten

Eine deutlich bessere Verträglichkeit bietet der selektive M3-Rezeptorantagonist Darifenacin. Denn die verschiedenen Muscarinrezeptoren M1 bis M5 sind im Organismus nicht gleich verteilt. So zeichnen für die überaktive Blase und die Dranginkontinenz insbesondere die M3-Rezeptoren verantwortlich, die vor allem in der Blase zu finden sind. Für Mundtrockenheit sind zwar auch die M3-Rezeptoren verantwortlich, die in der Speicheldrüse vorkommen. Dort sind aber zudem M1-Rezeptoren zu finden, die durch den selektiven Wirkstoff nicht tangiert werden. Deshalb fällt diese Nebenwirkung unter Darifenacin wesentlich geringer aus und betrifft nur etwa 12% aller Patienten.

Darifenacin ist darüber hinaus das bislang einzige Antimuskarinikum, für das in gezielten kognitiven Testverfahren gezeigt werden konnte, dass kaum ZNS-Nebenwirkungen auftreten. Die kognitiven Beeinträchtigungen nach Gabe von Anticholinergika sind nämlich insbesondere auf die Blockade der im Gehirn lokalisierten M1-Rezeptoren zurückzuführen. Da 90% der kardiovaskulären Störungen unter Antimuskarinika-Therapie auf das Konto der M2-Rezeptorblockade gehen, ist auch hier nach Gabe des selektiven Präparates Entwarnung angesagt.
 

Miktionstagebuch 

Hilfsmittel wie ein Miktionstagebuch, mit dem die Funktion Blase genau protokolliert wird, erleichtern es den Patienten, die Ursache der Beschwerden genau zu erkennen. Dieses Miktionstagebuch wird 14 Tage lang geführt, indem die Trinkmenge sowie die Menge des ausgeschiedenen Harns eingetragen werden. Zusätzlich wird notiert, ob während des Tages ein Dranggefühl verspürt wurde, die Patienten auf der Toilette gewesen sind oder ob der Harn unkontrolliert abgegangen ist und ob man nachts aufgewacht ist, um auf die Toilette zu gehen.

Selbst das Fünffache der maximal empfohlenen Dosierung von Darifenacin führte in klinischen Studien nicht zu Herzrhythmusstörungen. Eine signifikante Erhöhung des QTc-Intervalls im Vergleich zu Placebo wurde nicht beobachtet.

Die klinische Effektivität von Darifenacin ist mit der der herkömmlichen Anticholinergika vergleichbar. Eine weitere häufige Nebenwirkung der Substanzgruppe, die Obstipation, lässt sich durch die selektive M3-Hemmung aber nicht reduzieren. Denn die für die Verstopfungssymptomatik verantwortlichen M3-Rezeptoren sitzen bevorzugt auch im Kolon.

Martin Wiehl

Quelle 
Dr. Daniela Marschall-Kehrel, Oberursel; Dr. Christian Hampel, Mainz; Dr. Stefan Carl, Emmendingen; Prof. Dr. Daniela Schultz-Lampel, Villingen-Schwenningen: Satellitensymposium „Die Überaktive Blase – Probleme der Betroffenen und Trends in der Behandlung“, Stuttgart, 11. November 2005, veranstaltet von der Bayer Vital GmbH, Leverkusen.

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