Giftinfo

Schnelle Hilfe in akuten Vergiftungssituationen

Über die Arbeit eines Giftinformationszentrums

Von Ute Richter

Am Mittwochnachmittag, wenn die Hausärzte nicht erreichbar sind, steigt beim Giftinformationszentrum Erfurt die Zahl der Anrufe aus öffentlichen Apotheken. Bei Vergiftungsverdacht muss schnell gehandelt werden. Aber auf keinen Fall unbedacht, um den Schaden nicht zu vergrößern. Gut, dass es für diese Notfälle Experten gibt, die rund um die Uhr an allen Tagen des Jahres erreichbar sind. Wie funktioniert die schnelle Hilfe im Vergiftungsfall, wie wird sie finanziert und welche Aufgaben werden neben der Akuthilfe noch erfüllt?

Gemeinsames Giftinformationszentrum Die meisten Anfragen bei den Giftinformationszentren gehen in der Vegetationszeit zwischen Juni und Oktober ein. Durch ein durchgängiges Drei-Schicht-System des ärztlichen Beratungsdienstes ist das Team des Giftnotrufs, das unter anderem aus Ärzten, Apothekern und Chemikern besteht, rund um die Uhr an allen Tagen des Jahres erreichbar.
Foto: Richter

Das Chemikaliengesetz verpflichtet die Bundesländer, Informations- und Behandlungszentren für Vergiftungen zu benennen. Während es 1986 hierfür noch 17 Beratungsstellen gab, verteilen sich die Anrufe heute auf neun Einrichtungen.

Für die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ist das Gemeinsame Giftinformationszentrum (GGIZ) in Erfurt zuständig. Es wurde im Januar 1994 an der Medizinischen Hochschule Erfurt eingerichtet und nach deren Umwandlung am Helios Klinikum weitergeführt. Seitdem klingeln die Telefone immer häufiger, was nicht an einer Zunahme der Vergiftungsfälle, sondern an der wachsenden Bekanntheit des Giftnotrufes liegt. Knapp 50% der Anrufe kommen aus Kliniken, 30% von Privatpersonen und 15% von niedergelassenen Ärzten. Auch öffentliche Apotheken nutzen den 24-Stunden-Informationsdienst. Die Informationen der Giftinformationszentren können natürlich nur beratenden Charakter haben, eine genaue Diagnose und Therapieempfehlung kann nicht durch telefonischen Kontakt erstellt werden.

Gefährliche Weihnachtszeit: Mein Kind hat vom Duftöl getrunken!

Duftöle enthalten meist natürliche, aber auch synthetische ätherische Öle. Am häufigsten werden Eucalyptus-, Lavendel-, Orangen-, Weihnachts- und Zimtöl gefunden. Werden Duftöle verschluckt und über den Magen-Darm-Trakt in den Körper aufgenommen, kann das Zentrale Nervensystem (ZNS) beeinträchtigt werden, was an eine Alkoholvergiftung erinnern kann (Schläfrigkeit, Unruhe, Zittern, Distanzlosigkeit, Gangunsicherheit). Die meisten Symptome treten innerhalb von 2 h ein. An der Schleimhaut kann es als Folge von Reizung zu Magen-Darm-Beschwerden kommen. Bei größeren eingenommenen Mengen kann es zu Bewusstlosigkeit und Krämpfen kommen. Bei Säuglingen kann ein lebensbedrohlicher Stimmritzenkrampf auftreten, der zu einer Unterversorgung des Körpers und besonders des Gehirns mit Sauerstoff führen kann. Hat ein Kind Duftöl eingenommen, so gilt es unbedingt Ruhe zu bewahren! Keinesfalls sollte Erbrechen ausgelöst werden! Umgehend sollte ein Arzt benachrichtigt und genau die eingenommene Menge angeben werden.

(Quelle: Gemeinsames Giftinformationszentrum, Erfurt)

Ein Team von Spezialisten

Von Beginn an sind sechs Ärzte, eine Apothekerin, ein Chemiker, eine Bibliothekarin und eine Sekretärin am GGIZ tätig. Dessen Leiter, Dr. med. Helmut Hentschel, ist Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie. Diese Facharztgruppe ist nach seiner Aussage prädestiniert für die Beratungs- und Forschungstätigkeit der Giftinformationszentren. Zum Team gehören neben einem weiteren Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie je eine Fachärztin für Labormedizin, für Anästhesiologie, für Arbeits- und Umweltmedizin sowie für Mikrobiologie und Neurologie. Das spezielle Fachwissen der Neurologin ist immer dann gefragt, wenn es um Vergiftungen durch Psychopharmaka geht. Wer beim GGIZ als Beratungsarzt eingestellt wird, durchläuft ein Training von sechs Monaten, bevor er den ersten Nacht- oder Wochenenddienst antritt. Zu diesen Zeiten ist der Giftnotruf nur mit einer Person besetzt.

Was muss der Giftnotruf wissen:

1. Wer? Kind oder Erwachsener, Alter, Geschlecht, Körpergewicht

2. Womit? Arzneimittel, Haushaltsprodukt, Chemikalie, Pflanze, Pilz, Tier, Lebensmittel, Drogen - möglichst genaue Bezeichnung von der Verpackung ablesen!

3. Wie viel? Zahl der Tabletten, Dragees, Tropfen usw. oder andere Mengenangaben

4. Wann? Zeitpunkt der Einnahme oder Einwirkung; Dauer der Einwirkung

5. Welche? Krankheitserscheinungen; Zustand des Betroffenen (Atmung, Kreislauf, Bewusstseinslage); Ausmaß der Schädigung

6. Was? Was wurde bereits unternommen?

Vorschnelles Handeln kann den Schaden vergrößern. Nur bei lebensbedrohlichen Zuständen sofort den Notarzt über 112 rufen!

Zusammenarbeit zwischen Ost und West

In diesem Jahr konnte das GGIZ ein Doppeljubiläum feiern. Denn neben der erfolgreichen 15-jährigen Tätigkeit besteht seit fünf Jahren die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Giftinformationszentrum (GIZ) Nord in Göttingen. Dabei dienten die rechtlichen Grundlagen des GGIZ Erfurt als Vorbild für die Gründung des GIZ am Universitätsklinikum Göttingen, das von den Ländern Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein getragen wird und 1996 seine Tätigkeit aufnahm. Die personelle und finanzielle Ausstattung beider Einrichtungen wurde durch Verwaltungsabkommen der beteiligten Länder geregelt.

Giftinformationszentren unter Kostendruck

Hier unterscheiden sich die beiden jüngsten und Bundesländer-übergreifenden Giftnotrufe von denen, die bereits vor 1990 bestanden. Die älteren Zentralen sind fast alle an Kliniken angebunden, die bisher einen Teil der Finanzierung übernommen haben. Doch die Krankenhäuser sind mittlerweile zu Sparmaßnahmen gezwungen, so dass es dort immer schwieriger wird, den Service rund um die Uhr aufrecht zu erhalten.

Laut Hentschel wird in Erfurt und Göttingen besonderer Wert auf Wirtschaftlichkeit gelegt, weil die Finanzierung aus den Haushalten der beteiligten Länder erfolgt. So wechseln sich beide Zentren beim Nachtdienst ab, was die Personalkosten senkt. Auch bei einem technischen Störfall würde das jeweils andere Zentrum die Giftberatung sicherstellen.

Bei regelmäßigen Treffen diskutieren die beratenden Ärzte in Erfurt und Göttingen aktuelle Fragen ihrer Tätigkeit und bilden sich auf klinisch-toxikologischem Gebiet fort.

Durch das große Einzugsgebiet werden Häufungen von Vergiftungsfällen rasch erkannt, sodass die Gesundheitsbehörden unverzüglich Maßnahmen zur Gefahrenabwehr treffen können. Die weitere Kooperation wird sich laut Herbert Desel, Leiter des GIZ Nord, auf den Aufbau einer gemeinsamen Datenbasis zur Auswertung der Vergiftungsfälle und die Erarbeitung von qualitätsgesicherten Beratungsunterlagen für beide Zentren konzentrieren.

Gefährliche Weihnachtszeit: Mein Kind hat eine Räucherkerze verschluckt!

Räucherkerzen bestehen aus einer festen Masse, die sich aus mit Kartoffelstärke verbackenem Holzmehl zusammensetzt und mit Parfümölen getränkt ist. Bedeutsam ist der Gehalt an Kaliumnitrat, der bei einer normal großen Kerze durchschnittlich 50 mg betragen kann. Eine Gefährdung durch eine zu hohe Kaliumaufnahme wäre erst nach dem Verzehr von mehr als 10 bis 20 Räucherkerzen innerhalb kurzer Zeit zu erwarten. Die Aufnahme solcher Mengen wurde bisher nie beobachtet und würde wahrscheinlich ohnehin durch die Parfümöle rasch zu Übelkeit und Erbrechen führen. Im ungünstigsten Fall kann das Verschlucken einer unzerkauten Räucherkerze durch Einklemmung in der Speiseröhre zu einer mechanischen Behinderung führen. Würgereiz und Druckschmerz hinter dem Brustbein treten auf; normales Schlucken ist nicht mehr möglich. Wurde die Räucherkerze nur angeleckt oder angeknabbert, reicht es aus, den Mund auszuwischen und etwas trinken zu lassen. Auch wenn nachweislich eine Kerze verschluckt wurde und keine Beschwerden bestehen, sollte dem Kind nur etwas zu trinken gegeben werden. Keinesfalls versuchen, Erbrechen auszulösen! Die Gabe von Aktivkohle ist nicht erforderlich.
(Quelle: Gemeinsames Giftinformationszentrum, Erfurt)

Datenbank der hunderttausend Giftstoffe

Die Datenbanken sind das Herzstück der Giftinformationszentren. Dort finden die Mitarbeiter aktuelle Informationen zu fast allen bekannten Giftstoffen. Je genauer die Beschreibung durch die Anrufer möglich ist, desto schneller und besser kann also beraten werden. Im Idealfall ist der Name des Produkts, Präparats oder der Pflanze bekannt. Dann genügt ein Klick auf dem PC und die Angaben zu Inhaltsstoffen und deren Giftigkeit sind verfügbar.

Da das GGIZ die Dokumentation des aufgelösten Toxikologischen Auskunftsdienstes (TAD) in Berlin-Weißensee vollständig übernommen hat, ist es auch in der Lage, zu allen in der DDR zugelassenen Arzneimitteln und chemischen Produkten Auskünfte zu erteilen. Denn auch 20 Jahre nach der Wende lagern diese Produkte noch in vielen Haushalten.

Aber nicht nur die Dosis macht das Gift, auch der Aufnahmeweg, die Dauer der Einwirkung oder die Empfindlichkeit des Organismus spielen eine wichtige Rolle. Die Angaben des Anrufers sollten daher so detailliert wie möglich sein.

90% der Fälle sind relativ harmlos

Oft ist das Gefährdungspotenzial von Giftstoffen für den Laien nicht klar erkennbar. Vom relativ harmlosen Putzmittel bis zum hochgiftigen, ätzenden Rohrreiniger reicht die Palette der Haushaltschemikalien. Groß ist auch die Zahl der Pflanzen- und Tiergifte, über die man sich übrigens auf den Internetseiten des GGIZ umfassend informieren kann. Auch bei Arzneimitteln, die versehentlich eingenommen werden, reicht das Spektrum von relativ harmlos bis zu lebensgefährlich. Nur bei etwa 10% der Anrufe handelt es sich um eine akute Gefahrensituation und die 112 sollte sofort alarmiert werden. Meist geben die Experten vom Giftnotruf Entwarnung und empfehlen einfache Maßnahmen, die eigenverantwortlich zu Hause durchgeführt werden können. So sollten Entschäumer wie Sab simplex® oder Espumisan® sowie Aktivkohle in keiner Hausapotheke fehlen. Ohne ausdrückliche Empfehlung dürfen aber auch diese Mittel nicht angewendet werden. Werden giftige Substanzen oder Arzneimittel in suizidaler Absicht eingenommen, ist die Zahl der Klinikeinweisungen und auch der Todesfälle höher. Das liegt laut Hentschel weniger an der Giftigkeit der gewählten Substanzen als an der zu langen Latenzzeit bis zur Entdeckung. Die insgesamt niedrige Quote von Todesfällen liegt hier nicht an toxikologischen Interventionen sondern an den Fortschritten in der Intensivmedizin.

Gefährliche Weihnachtszeit: Mein Kind hat Blätter vom Weihnachtsstern gegessen!

Der Milchsaft der in Mittelamerika wildwachsenden Pflanzen enthält stark reizende Diterpenester. In den bei uns handelsüblichen Zierpflanzen konnten solche Stoffe nicht nachgewiesen werden. Deshalb schmecken die "einheimischen" Weihnachtssterne zwar bitter, aber nicht scharf. Hautkontakt mit dem Milchsaft kann Reizungen, aber auch allergische Reaktionen hervorrufen. Spritzer in die Augen können zu Entzündungen führen. Verzehr der grünen Blätter, der farbigen Hochblätter oder der unscheinbaren Blüten durch Kinder verursacht schlimmstenfalls Bauchschmerzen, Erbrechen und Durchfall. Nach dem Verschlucken von Milchsaft oder Pflanzenteilen reichlich trinken lassen (Wasser, Tee, Saft). Bei Hautkontakt den Milchsaft mit Wasser und Seife abwaschen. Spritzer in die Augen ausgiebig unter fließendem lauwarmem Wasser spülen. 
(Quelle: Gemeinsames Giftinformationszentrum, Erfurt)

Risikogruppen sind Kleinkinder und Jugendliche

Rund 70% der Anrufe bei den Giftnotrufen betreffen Kinder bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr. So kommt es trotz intensiver Warnungen immer wieder zum Verschlucken von Lampenölen und Grillanzündern. Herumliegende Medikamente, umgefüllte Chemikalien oder giftige Zimmerpflanzen sind eine Gefahr für die kleinen Entdecker.

Aber auch Jugendliche mit ihrem Drang, alles Neue und dabei auch Verbotenes auszuprobieren, leben riskant. So kam es vor zwei Jahren zu einer ganzen Reihe schwerer Bleivergiftungen durch verseuchtes Marihuana. Blei gehört zu den ältesten bekannten Giftstoffen, die vielfältigen Vergiftungssymptome sind beschrieben. Andere Substanzen tauchen neu auf und müssen hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit erst bewertet werden.

Toxikovigilanz als zentrale Aufgabe

Hier sichert das System der Giftnotrufe die Toxikovigilanz. Die Erkenntnisse über Vergiftungen werden dokumentiert und veröffentlicht. Das GGIZ Erfurt arbeitet eng mit den anderen Giftinformations- und Behandlungszentren, der Gesellschaft für Klinische Toxikologie und dem Bundesinstitut für Risikobewertung zusammen und stellt eigene Forschungsergebnisse auf Kongressen vor.

 

 

Anschrift der Verfasserin

 

Ute Richter, Krügerstr.4, 01326 Dresden

 

Giftinformationszentren


  • Erfurt
Gemeinsames Giftinformationszentrum.
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen.
Tel. 0361 730730

  • Berlin
Giftnotruf Berlin. Beratungsstelle für Vergiftungserscheinungen.
Tel. 030 19240

  • Bonn
Informationszentrale gegen Vergiftungen. Zentrum für Kinderheilkunde. Tel. 0228 19240

  • Freiburg
Vergiftungs-Informations-Zentrale Freiburg. Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Universitätsklinikum Freiburg. Tel. 0761 19240

  • Göttingen
Giftinformationszentrum Nord. Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein. Zentrum für Toxikologie.
Tel. 0551 19240

  • Homburg
Informations- und Beratungszentrum für Vergiftungen. Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie. Universitätsklinikum des Saarlandes.
Tel. 06841 19240

  • Mainz
Beratungsstelle bei Vergiftungen. Universität Mainz.
Tel. 06131 19240

  • München
Giftnotruf München. Toxikologische Abteilung der II. Med. Klinik.
Tel. 089 19240

  • Nürnberg
Toxikologische Intensivstation. II. Med. Klinik des Städtischen Krankenhauses. Tel. 0911 3982451

    Giftzentren im deutschsprachigen Ausland:

    • Wien
    Vergiftungszentrale. Allgemeines Krankenhaus WienGesundheit Österreich GmbH.
    Tel. +43 1 4064343

    • Zürich
    Schweizerisches Toxikologisches Informationszentrum
    Tel. +41 44 251-5151

      Giftzentren weltweit:

      • World Directory of Poisons Ccenters

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