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B. LippoldPharmazie studieren in Kabul? – Beri

Dreiundzwanzig Jahre haben die Kämpfe, kriegerischen Auseinandersetzungen und Wirren in Afghanistan gedauert, bis die derzeitige Übergangsregierung unter Ministerpräsident Hamid Karsai installiert wurde. Heute ist Kabul, die Hauptstadt Afghanistans, zu etwa 90% unbewohnbar. Eine Delegation des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der zehn Hochschullehrer aus verschiedensten Fachrichtungen wie Landwirtschaft, Volkswirtschaft, Mathematik, Geologie und auch Pharmazie angehörten, flog Ende April 2002 nach Kabul, um sich ein Bild vom gegenwärtigen Zustand der akademischen Lehre zu machen und ein Programm für die Sofort-Hilfe zu erarbeiten.

Rückblick auf die Kriegsjahre

Im Februar 1989 erzwangen die Mudschahedin den Abzug der Sowjetarmee, die zehn Jahre zuvor in Afghanistan einmarschiert war. Es folgten Machtkämpfe zwischen den rivalisierenden Stämmen (Paschtunen im Süden, Tadschiken und Usbeken im Norden, Hazara im Zentrum), zwischen den Kommandanten von Kampfgruppen (Warlords) sowie zwischen Sunniten und der Minderheit der Schiiten. In dieser Zeit wechselte die Hauptstadt Kabul mehrfach den "Besitzer", häufig liefen die Frontlinien mitten durch die Stadt. Aus dieser Periode resultieren bei weitem die ausgedehntesten Zerstörungen.

Die Taliban ("Koranschüler") schienen 1994 Frieden zu bringen, verwandelten Afghanistan aber bald in ein Gefängnis, mit rigiden Vorschriften und harten Strafen. Erst das Eingreifen der Amerikaner ließ dieses System im letzten Jahr zusammenbrechen. Damit ging eine Zeit zuende, die nicht nur von brutaler physischer Gewalt gekennzeichnet war. Kaum zu ermessen sind die psychologischen Traumata als Folge von Terror, Verrat, Demütigungen und Vergewaltigungen. Die Not wurde noch verstärkt durch eine vierjährige Dürreperiode, in deren Folge die Felder vertrockneten und Obstbäume abstarben. Derzeit gibt es eine Heuschreckenplage im Norden des Landes, und die Leishmaniose breitet sich aus.

Neues Leben

Aber der Optimismus der Afghanen ist nicht gebrochen. Unzählige Läden haben wieder geöffnet, natürlich auch Apotheken. Es wird renoviert und frisch gestrichen. Straßenhändler bieten Obst und Gemüse an, man hört Musik aus Kassettenrekordern und Radios. Am Straßenrand in kleinen Ständen wird schon früh morgens Schisch-Kebab über Holzkohlenfeuer gegrillt, und der Bäcker nebenan liefert den ganzen Tag frisches, dünnes, knuspriges Fladenbrot. Taxis in ganzen Kolonnen, frisch gelb gespritzt, bieten ihre Dienste an, Schuhputzjungen hoffen auf Kunden, Photographen mit altertümlichen Stativgeräten produzieren im Freien Passbilder, und daneben stehen Frisöre bereit, vorher noch eine Verschönerung vorzunehmen. Noch sieht man im alltäglich Straßenbild wenig Frauen, und dann fast ausschließlich mit dem Tschador, dem großen, vielfach gefältelten Ganzkörper-Überwurf.

Seit März 2002 läuft das UNESCO-Programm "Back to school" (Abb. 1). Allmorgendlich sieht man Scharen von Kindern, Jungen und Mädchen, mit Schultaschen, Tornistern, Beuteln und Büchern in der Hand zur Schule gehen. Das Programm "Essen für Arbeit" sorgt für Beseitigung von Schutt und Müll auf den Straßen und an den Straßenrändern und ernährt die Arbeitslosen.

Trümmer, nichts als Trümmer

Diese Momentaufnahme aus einem nahezu unzerstörten Teil des Zentrums täuscht aber darüber hinweg, dass es im Großteil der Stadt grauenhaft und beängstigend aussieht: Trümmer, nichts als Trümmer. Während die kleinen ebenerdigen Läden und Wohnungen da, wo die Besitzer in Kabul überlebt haben oder zurück gekommen sind, bereits wieder hergerichtet sind oder gerade renoviert werden, ist bei den zerstörten Wohnblocks, Fabriken, großen Schulen, Verwaltungsgebäuden etc. noch nichts geschehen. Es fehlt an schwerem Räumgerät und Geld.

Ruhe und Ordnung gewährleisten Patrouillen der multinationalen Sicherheitstruppen, nachts sind sie die einzigen, die sich auf den Straßen bewegen dürfen. Trotzdem, nächtlicher Raketenbeschuss, z. B. des Flughafens, kommt noch vor. Eine afghanische Polizei befindet sich mit deutscher Hilfestellung im Aufbau: Schon sieht man mehrfach täglich weiß-grüne Streifenwagen in der Stadt.

Die Universität Kabul

Und die Universität? An sich ist sie eine großzügige Anlage im Campusstil, mit viel Grün, Rosenbeeten, schattenspendenden Bäumen. Der Großteil der Gebäude ist äußerlich nur leicht beschädigt. Das Studentinnenwohnheim ist allerdings ausgebrannt und unbenutzbar, ein dringliches Problem.

Im Inneren der Gebäude sieht es größtenteils schlimm aus: zerbrochene Fenster, demontierte Wasserrohre, herausgerissene elektrische Leitungen, verkauft als Buntmetall nach Pakistan, aufgebrochene Türen, verwüstete Labors, in denen selbst die Fliesen der Labortische zerstört oder abgeschlagen sind (Abb. 2), von Laborgeräten nur noch Rudimente, so z. B. der Exzenter einer Tablettenmaschine, in der Zentralbibliothek ein veralteter, dezimierter Bestand, in den Fachbibliotheken der Institute z. T. Fehlanzeige. Auch bei den Hörsälen und Seminarräumen ist der Zustand beklagenswert.

Von den menschlichen Tragödien kann man nur einiges ahnen: Die Universität war zeitweilig vermint, fast 20% der Universitätsangehörigen ließen ihr Leben. Der Rektor ("Chancellor") Prof. Popal, mit dem die Delegierten des DAAD zusammen mit den Dekanen der einzelnen Fakultäten intensive einführende und abschließende Gespräche führten, brachte unter anderem zum Ausdruck, dass jede Hilfe willkommen sei, Hauptsache sie greife bald. Die vielen, vielen Besuche, Diskussionen und Interviews machten zwar die gravierenden Probleme öffentlich, viel an faktischer Hilfe sei aber noch nicht angelaufen: So ist z. B. das angekündigte Internet-Café bisher lediglich mit Büromöbeln ausgestattet. Immerhin, Ausbesserungs- und Verschönerungsarbeiten im Außenbereich des Rektorats und im gesamten Campus, finanziert von Japan über die UNESCO, konnte man beobachten (Abb. 3).

Pharmazeutische Fakultät

Die Pharmazie an der Universität Kabul ist seit jeher als eigene und landesweit einzige Fakultät organisiert (Abb. 4). Der Lehrbetrieb lief, von einigen Unterbrechungen abgesehen, all die Jahre weiter, z. T. auch unter Gefahren für Leib und Leben. So mussten z.B. Abschlussprüfungen zeitweilig in einem Bus abgehalten werden, um jederzeit Kampfhandlungen ausweichen zu können.

Auch während der Taliban-Herrschaft wurde Pharmazie gelehrt, mit einem Koranschüler als Dekan. Er hatte vor allem die Aufgabe, auf ausreichende Koran-Unterweisung zu achten, auf Kosten des Fachunterrichtes. Studentinnen waren in dieser Zeit von der Universität verbannt und konnten erst im vergangenen Semester – nach Jahren der Unterbrechung – ihr Studium wieder aufnehmen. Hier auf dem Universitätsgelände sind sie übrigens nicht verschleiert, lediglich ein leichter Schal bedeckt die Haare (Abb. 5).

Derzeit befinden sich die Aufnahmeprüfungen in allen Fakultäten kurz vor dem Abschluss. Der Andrang ist riesig, und in der Pharmazie ist der Anteil an Bewerberinnen extrem groß. Aber der Bildungsstand der Bewerber und Bewerberinnen ist niedrig und wird neue Probleme nach sich ziehen.

Der Unterricht, zwei Semester im Jahr kurz hintereinander, mit einer längeren Pause von Dezember bis Februar wegen mangelnder Heizung, erfolgt auch in den praktischen Fächern derzeit nur theoretisch. Dabei sind die jüngeren Dozenten lediglich Absolventen der Fakultät für Pharmazie mit gutem Examen (Bachelor), ohne weitere wissenschaftliche Ausbildung. Anschauungsunterricht ist bei einer immer noch produzierenden Pharmafirma, vormals Hoechst, möglich. Noch ist die Zukunft Afghanistans ungewiss. Politisch stabilisierend wirkt zwar die Rückkehr des ehemaligen Königs Zahir Schah Mitte April diesen Jahres. Aber noch immer flammen Kämpfe zwischen rivalisierenden Warlords auf.

Nach dem Abkommen vom Petersberg in Bonn tritt nun die Große Ratsversammlung Loja Dschirga (Loya Jirga) zusammen, um eine vorläufige Regierung zu wählen. Viele hoffen dabei auf eine Wiederwahl von Ministerpräsident Karsai für die Zeit bis zu demokratischen Wahlen in anderthalb Jahren. Ein friedlicher Verlauf der Wahl im Juni dürfte entscheidend für die Zukunft Afghanistans sein: Er ist die Voraussetzung für den Weg in eine Zukunft ohne Gewalt, Blutvergießen und Erniedrigung.

Summer School für Afghanen in Deutschland

Die Delegation des DAAD hat nach intensiven Diskussionen mit den afghanischen Kollegen vor Ort beschlossen, noch in diesem Jahr eine zweimal vierwöchige Summer School, vor allem für die jüngeren afghanischen Dozenten, in Deutschland zu organisieren. An der Universität Düsseldorf haben sich nicht nur die Kollegen aus der Pharmazeutischen Chemie und Pharmazeutischen Biologie, sondern auch aus der Pharmakologie und Toxikologie sowie der Medizinischen Mikrobiologie spontan bereits erklärt, an einer Pharmacy Summer School mitzuwirken. Ziel wird es sein, nach dem Prinzip "train the trainer" zunächst Dozenten an moderne, aber trotzdem finanzierbare Versuche heranzuführen, um diese danach in Kabul zu installieren. Noch vor dieser Summer School sollen die ersten englischsprachigen Lehrbücher nach Kabul geschickt werden.

Literaturtipp

Nach all den Wirren der letzten 23 Jahre sehnen sich die geschundenen Menschen Afghanistans nach Frieden. Ihre Lage ist objektiv und doch mitfühlend beschrieben in dem exzellenten Buch der Dokumentarfilmerin Siba Shakib: "Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen – Die Geschichte der Shirin-Gol". C. Bertelsmann Verlag 2001, 318 Seiten, 22,– Euro, ISBN 3-570-00634-4.

Kastentext: Aufruf zur Hilfe

Der Pharmazie in Kabul fehlt es an allem. Die Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft hat sich bereis dankenswerterweise bereit erklärt, englischsprachige Lehrbücher aus ihrem Verlagsprogramm nach Kabul zu senden. Sollten Sie, lieber Leser, liebe Leserin, englischsprachige Freiexemplare oder Dubletten von neueren Lehr- oder Fachbüchern abgeben können, bitte übersenden Sie diese an mich zur Weiterleitung.

In manchem Institutskeller, Firmenabstellraum oder Apothekenlabor lagern noch ungenutzte und nicht mehr benötigte Kleingeräte, z. B. Zentrifugen, Hilfsmittel wie z. B. Reagenzgläser und Reagenzglasständer usw. usf. Wie gesagt, es fehlt an allem. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir von solchen Beständen bzw. Hilfsangeboten Mitteilung machen könnten, um alles Weitere zu koordinieren.

Nach 23 Jahren Krieg und Bürgerkrieg ist Kabul, die Hauptstadt Afghanistans, heute größtenteils zerstört, auch die Universität. Um vor Ort zu erkunden, wie Deutschland beim Wiederaufbau der wissenschaftlichen Infrastruktur helfen kann, flog Ende April eine Delegation des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) nach Kabul. Ihr gehörte auch der Pharmazeutische Technologe Prof. B. Lippold von der Universität Düsseldorf an. Mit seinen Kollegen beschloss er, in Düsseldorf eine Pharmacy Summer

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