Bundeswehrapotheke

Ein Hort der Ordnung inmitten des Chaos

Es ist selten, aber es kommt vor: Manchmal kann sich ein Journalist einem Thema nur über Umwege nähern. Um so einen Fall handelt es sich bei dem Auftrag, eine Reportage über einen Bundeswehrapotheker zu verfassen, der in einem Camp in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans, seinen Dienst verrichtet.

Allein der Weg vom Guest House zum Einsatzort des deutschen Apothekers quer durch die Stadt ist ein Abenteuer, das zu denken gibt. Denn wer in diesen Tagen in Kabul unterwegs ist, wird vor allen Dingen eines registrieren: Chaos. Dieser Befund ist allerdings an die Subjektivität des europäischen Betrachters gebunden, der sich in eine andere Welt versetzt sieht und beispielsweise in Erinnerung an das deutsche Straßenschild "Vorsicht, verschmutzte Fahrbahn" im Gewirr von Kabul kaum Fahrbahnen im Sinne deutscher Straßennetze erkennen kann.

Stattdessen ist die Stadt überwiegend von staubigen, verschmutzten Pisten durchzogen, die noch dazu von etlichen Schlaglöchern durchsiebt sind. Auf den wichtigsten dieser sandbraunen Bahnen, die die Stadt durchkreuzen und die von den Bürgersteigen durch knietiefe Rinnsale abgesetzt sind, tummelt sich alles, was sich bewegen kann: Omnibusse schippern gemächlich durch die Menge, während mächtige, ungeduldig vorwärts drängende Sport Utility Vans mit Lichthupen auf sich aufmerksam machen. Dazwischen quetschen sich die vielen kleinen rostquietschenden Taxis wie herumschwirrende Hummeln in jede Lücke und drängeln sich gleichzeitig immer wieder an den zwei- und dreireihig vor sich hinstrampelnden Fahrradfahrerkohorten vorbei, um schließlich von Esels- oder Pferdekarren ausgebremst zu werden. Und immer wieder endet diese ganze rastlose Karawane in einem Stau: Dann werden die Fahrzeuge noch zusätzlich von wimmelnden Passanten und den Händlern mit ihren Bauchkarren umschwirrt. Offensichtlich irritiert das aber keinen der sehr elegant und wendig sich durch das Gewirr schlängelnden Fahrer. Auch die Kulisse zu beiden Seiten der Fahrbahnen wird schnell zum gewohnten Anblick: An den Straßenrändern grüßen die skelettartigen Bauruinen neben den noch nicht fertig gestellten Neubauten, deren Gerüste wie ein Hilferuf in den Himmel stochern.

Der Europäer ahnt recht schnell, dass es angesichts solcher Strukturen mit dem Gesundheitssystem in diesem über drei Dekaden von Kriegswirren gebeutelten Land nicht weit her sein kann.

Und tatsächlich bestätigt der im Bundeswehrcamp "Warehouse" eingesetzte Oberstarzt Dr. Karl Pecher diesen Eindruck: "Es gibt zwar ein Gesundheitsministerium, aber auf der Arbeitsebene ist keine Verwaltungsstruktur nach unseren Maßstäben erkennbar." Dies führt beispielsweise dazu, dass eine Anfrage an die Gesundheitsministerin, wie man eine Choleraprophylaxe in den örtlichen Kliniken durchführen könnte, in einer eindeutigen Absage endet.

Überhaupt ist die Situation in den städtischen Kliniken, die nicht von Spendenorganisationen betrieben werden, katastrophal: "Dort sind die hygienischen Zustände zum Teil desolat", hat der Oberstarzt beobachtet. Obwohl Dr. Pecher den afghanischen Ärzten in fachlicher Hinsicht ein hohes Niveau bescheinigt, registriert er in den Krankenhäusern eine gewisse Hierarchielosigkeit: "Oft weiß man nicht, wer welche Funktion ausübt."

Gesundheit hat keinen besonderen Stellenwert

Dazu kommt, dass es ein Pflegesystem mit Schwestern und Pflegern nicht gibt. Anstelle des professionellen Personals werden die Menschen von ihren Angehörigen gepflegt. Und so passiert es immer wieder, dass in Räumen von ca. 70 bis 80 Quadratmetern 20 Patienten untergebracht sind, die von 50 bis 60 Angehörigen gleichzeitig umlagert sind. Grundsätzlich hat nach den Beobachtungen von Dr. Pecher die – bei uns als höchstes Gut bezeichnete – Gesundheit in Afghanistan einen viel geringeren Stellenwert. Um seine These zu untermauern, erzählt der Arzt eine Geschichte, die sich gerade vor einigen Tagen zugetragen hat: Obwohl in dem Lazarett im Bundeswehrcamp aus Gründen der Kapazität und des Geldes fast nur erkrankte Soldaten behandelt werden, gibt es immer wieder Ausnahmesituationen, bei denen afghanische Menschen aufgenommen werden. So eine Ausnahmesituation war der Fall eines von einem LKW überfahrenen Mädchens, das vor den Schleusen des Camps abgelegt wurde. Als es trotz des Einsatzes der Ärzte nicht gelang, das Leben des Kindes zu retten, und der Vater die Leiche abholte, konnte der Mediziner bei dem Vater kaum eine Reaktion der Trauer erkennen: "Es kam mir vor, als ob der Mann denkt: Es war Allahs Wille." Möglicherweise hängt diese betont fatale Einstellung aber auch mit der Stellung der Frauen in diesem Land zusammen, die sich in der überwiegenden Mehrzahl immer noch unter der landestypischen blauen Burka verstecken.

Dass Gesundheit keine besondere Rolle spielt, wird aber auch an weniger dramatischen Fällen deutlich: Weil die Aufenthalte in den Krankenhäusern von den Patienten selbst bezahlt werden müssen, wird beispielsweise ein Armbruch in Do-it-yourself-Manier "kuriert": Auf die gebrochene Stelle wird ein Ei geschlagen, wonach dann der Arm mit Weidenruten geschient und verbunden wird. Diese Art des Umgangs mit Krankheiten hat natürlich Folgen: Die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen beträgt für Männer gerade einmal 45 Jahre und für Frauen 42 Jahre.

Ungeprüfte Medikamente

Menschen, die in Sachen Medikamentenversorgung deutsche Standards gewohnt sind, werden die Situation in Afghanistan befremdlich finden: Dort gibt es zwar apothekenähnliche Geschäfte, aber Arzneimittel werden von der Bevölkerung auch auf dem Basar gekauft. Die überwiegende Anzahl der Tabletten wird – wie übrigens auch viele Lebensmittel – aus dem benachbarten Pakistan importiert. In der Mehrzahl der Fälle sind die Quellen, aus denen Medikamente genau stammen jedoch nicht nachprüfbar. Entgegen den Erwartungen des Besuchers beurteilt der deutsche Oberfeldapotheker Lars Hombach dieses Faktum bemerkenswert unaufgeregt und pragmatisch: "Wir haben vor einiger Zeit ein paar Proben von Medikamenten vom Markt genommen und haben festgestellt, dass sie gar nicht so schlecht sind. Man kann diese Arzneimittel natürlich nicht an den gesetzlichen Maßstäben messen, die in Europa herrschen: Es gibt keine Pharmazentralnummern, Beschriftungen fehlen, Beipackzettel fallen wesentlich kleiner aus etc." Insbesondere bei letzterem Hinweis geht ein breites Grinsen über das Gesicht des aus vielen Auslandseinsätzen erfahrenen Bundeswehrapothekers, so, als ob er sagen wollte, dass so mancher Hinweis auf manche Unverträglichkeiten auch ein klein wenig übertrieben sein könnte. Auch die kleineren Apotheken im Land bewertet Hombach positiv: "Noch 2002 hatten diese Apotheken lediglich Kräuter vorrätig. Nun hat sich eine Arzneimittelbreite und -tiefe entwickelt, die für die Zivilbevölkerung gut ist. Insgesamt scheint die Medikamentenversorgung zu funktionieren." Offensichtlich lernt auch ein Europäer, vorausgesetzt, er ist lange genug im Land, Maximalansprüche zu relativieren.

Deutsche Standards

Das heißt natürlich nicht, dass die Bundeswehrapotheke im Camp Warehouse nicht auch penibel die Standards einer deutschen Apotheke einhält. Und so könnte die Apotheke, in der ca. 1700 Artikel im Wert von ca. 550.000 Euro im Lager vorrätig sind, es mit jeder krankenhausversorgenden Apotheke aufnehmen. Mehr noch: Die Bundeswehrapotheke ist neben den Arzneimitteln auch mit Gehörschutzvorrichtungen, Gehhilfen, Gips und medizinischem Sauerstoff etc. ausgestattet. Die Lieferung des insgesamt ca. sieben Tonnen schweren Materials kommt in der Regel zweimal im Monat aus der Luft. Die Bevorratungsdauer ist auf vier bis acht Wochen angelegt.

Da sich unter den Artikeln, die erst vor kurzem beispielsweise in die Krisenregion nach Pakistan weiter versendet wurden, sich auch Gefahrstoffe wie etwa Desinfektionsmittel oder analytische Substanzen für das Labor befinden, muss ein Bundeswehrapotheker auch einen Lehrgang namens IATA (International Air Transport Association) für die ordnungsgemäße Verpackung absolviert haben.

Neben solchen zusätzlichen Qualifikationen und Aufgaben achtet Apotheker Hombach in seinem Dienst vor allen Dingen auf folgende drei Komponenten:

  1. Die Versorgungswünsche der Klinikkompanie zur Aufrechterhaltung des Lazarettbetriebes müssen gewährleistet sein.
  2. Die Medical Evacuation Component (Medevac) muss ebenfalls sicher gestellt sein. Konkret bedeutet dies, dass es möglich ist, die beweglichen Arzt-Truppen bzw. die Sanitätsbegleitung jederzeit mit entsprechenden Medikamenten und Material zu beliefern.
  3. Der Apotheker kümmert sich um den Stabs- und Versorgungszug (Lazaretthygiene, Veterinär- und Versorgungsleistungen).

 

Die Aufgaben der Bundeswehr in Afghanistan

Die Bundeswehr ist Teil eines internationalen Einsatzes in Afghanistan, des so genannten ISAF-Einsatzes. ISAF steht für die International Security Assistance Force, also die internationale Sicherheitsbeistandstruppe. Ziel der durch den UN-Sicherheitsrat 2001 legitimierten Schutztruppen ist es, die afghanische Regierung nach endlosen Kriegswirren bei der Wahrung der Menschenrechte, der Herstellung der inneren Sicherheit, bei der Auslieferung humanitärer Hilfsgüter und der geregelten Rückkehr von Flüchtlingen zu unterstützen. Die Einsatzgebiete der deutschen ISAF-Soldaten sind Kabul und Umgebung sowie Kunduz und Feyzabad. Dabei ist die ISAF nicht in die Operation Enduring Freedom eingebunden, die der Bekämpfung des internationalen Terrorismus dient.

Die Bundeswehrapotheke in Camp Warehouse ist ein elementarer Bestandteil der medizinischen Versorgung der Truppen. So verfügt das deutsche ISAF-Kontingent über ein eigenes Feldlazarett, dessen Strukturen in materieller und personeller Hinsicht etwa denjenigen eines deutschen Kreiskrankenhauses entsprechen. Die Hauptaufgabe der Bundeswehrapotheke besteht darin, den Betrieb dieses Lazaretts zu unterstützen.

Großes Aufgabenspektrum

Insgesamt ist der Versorgungsauftrag der Apotheke auf 2248 deutsche Soldaten ausgerichtet. Hinzu kommt, dass auch die 20 anderen Nationen im Camp ihre Wünsche bevorzugt an die deutsche Apotheke richten, "weil sie wissen, dass der Qualitätsanspruch hier sehr hoch ist", erzählt Hombach nicht ohne Stolz. Auch die Malteser und das Rote Kreuz kommen immer wieder mit Anfragen: "Die Bandbreite an Wünschen ist groß", weiß der Apotheker und betont, "dass man eben flexibel sein muss." Auf die gesamten Arbeitsbedingungen bezogen ist diese lapidare Einschätzung allerdings reines Understatement: Schließlich befindet sich der Apotheker zusammen mit seinem PTA Daniel Radtke trotz der "Regeldienstzeit" über Monate in einer Art permanentem 24-stündigem Notstand.

Und das bedeutet, dass Hombach unverzüglich reagieren muss, wenn beispielsweise ein Soldat in eine Sprengfalle gefahren ist und die Blutpräparate und Notfallmedizin vor Ort oder in das Lazarett gebracht werden müssen. Ein anderes Beispiel für diesen verschärften Notdienst: Nachdem sich in Pakistan die Erdbebenkatastrophe ereignet hatte, mussten zur Unterstützung etliche Nachtschichten abgeleistet werden.

Aber es sind nicht nur diese besonderen Aufgaben, die nach Ansicht von Hombach in Afghanistan "einen bestimmten Apotheker-Typus" erfordern, sondern es sind auch spezifische Auseinandersetzungen im Alltag, die man nur in einem Camp erlebt: "Weil die Ärzte oft nur für vier Wochen stationiert sind, aber jeder Mediziner andere Präparate bevorzugt, muss ich ihnen dann oft sagen, dass es bei uns eben wegen der besonderen Belieferungssituation nur eine Standardarznei gibt. Da muss man hart bleiben", lächelt der Apotheker ein wenig süffisant.

Umgekehrt sieht der Mann, der von sich sagt, dass er "abenteuerlustig ist, aber Afghanistan nicht als Spielplatz sieht" bei seinem ganz speziellen Arbeitseinsatz auch einen Vorteil, den er genießt: "Klar denke ich an den Steuerzahler. Aber ansonsten bin ich froh, dass ich mich hier nicht um die betriebswirtschaftliche Seite kümmern muss."

Als wir uns noch allgemein über das Land unterhalten, macht der optimistische Pragmatiker darauf aufmerksam, dass es nach afghanischen Verhältnissen doch überall Fortschritte im Land gebe. Und tatsächlich: Auf dem Rückweg zum Flughafen gondeln wir im Taxi an einer Fahrspur vorbei, die gerade geteert wird.

Claus Ritzi

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