Feuilleton

Plastische Geschichte des Heilwesens

Die Zentral-Apotheke in Ludwigsburg besitzt einen besonderen Schatz: In der Mitte der Offizin steht seit Ende Juni eine raumhohe, kunstvoll gestaltete Bronzesäule. Auf ihr wird in einer Vielzahl von Bildern und Figuren die Geschichte des Heilwesens dargestellt. Der Bogen spannt sich von alten Mythen bis zur Arzneistoffforschung und klinischen Therapie der Gegenwart. Die in dem stetigen Kampf der Menschheit gegen Schmerz, Krankheit und Tod erbrachten Leistungen finden in dieser Säule komplexen künstlerischen Ausdruck.

In über elfjähriger fruchtbarer Zusammenarbeit entwickelte Apotheker Lutz Raasch die Themen und Motive, die unter den Händen des Bildhauers Karl Hirt künstlerische Gestalt annahmen. Auf der Säule werden die verschlungenen Wege dargestellt, die Medizin und Pharmazie seit Urzeiten nahmen. Inhaltlich ist sie in drei Teile gegliedert.

Vom Mythos zur nüchternen Prognose

Das untere Drittel stellt alte Menschheitsmythen dar, z.B. wie der sumerische König Gilgamesch das Kraut der Unsterblichkeit sucht. Krankheiten wurden als Strafen der Götter, Dämonen oder Ahnen angesehen, das Heilen als göttliches Wirken. Die drei Nornen, die den Lebensfaden spinnen, bemessen und abschneiden, stehen für den Glauben an die göttliche Vorbestimmung menschlichen Lebens.

Der mittlere Teil der Säule setzt mit der hippokratischen Medizin um 400 v. Chr. ein. Die Medizin fängt an, "wissenschaftlich" zu werden, fragt nach Diagnose, Therapie und Prognose. Aber die Säule zeigt nicht nur die Heilerfolge, sondern auch das Wüten der Pest und den siegreichen König Tod. Die Fassade der Kathedrale von Santiago de Compostela steht für die christliche Wallfahrt und die Hoffnung auf wundersame Gesundung von schweren Leiden.

"Maschinenmensch" mit Emotionen

Mit vier vollplastischen Allegorien setzt das obere Drittel ein: der Wissenschaftler, die Hoffnung, der Narr und das Liebespaar. Der Narr hält uns den Spiegel vor und konfrontiert uns damit, dass im Nachhinein Dinge ins Lächerliche gezogen werden, die zu ihrer Zeit ihre Richtigkeit hatten. Die ratio des Wissenschaftlers wird im Liebespaar ergänzt um die emotio, ohne die keine Aussicht auf dauerhafte Heilung besteht.

Descartes und Newton machen mit ihren mechanistischen Weltbildern, bildhaft dargestellt im "Maschinenmensch", den Weg frei in die Gegenwart. Das Experiment wird auch zu einer Grundlage der Medizin. Hier finden sich die großen Bakteriologen, die Pharmaindustrie, die Intensivmedizin, Psychiatrie, Transplantationsmedizin und Genforschung. Das Großklinikum wird als Apparat dargestellt, in dem die Abteilungen wie Zahnräder ineinander greifen. Der Glaube an das Machbare trifft auf die Frage, was ethisch vertretbar ist. Ist die Säule im unteren Bereich kubisch und statisch, so beginnt sie sich in der Mitte leicht zu drehen. Nach oben zu steigert sich die Dynamik, bis die Säule in einer zylindrischen, kreisenden Form endet. Immer schneller ist die Entwicklung, immer schneller dreht sich das Rad der Geschichte.

Ein Rezept Friedrich Schillers

Gegossen wurde die Säule in vier Einzelteilen in der Technik des Wachsausschmelzverfahrens bzw. der verlorenen Form (cire perdue); dabei wird das Wachsmodell mitsamt seinen feinsten Details beim Guss direkt durch die Bronze ersetzt. Die Schaulust des Betrachters wird unterstützt durch eine differenzierte Oberflächengestaltung, die von rauen Oberflächen über verschiedene Patinierungen bis hin zu hochglanzpolierten Flächen reicht. Mit Hilfe der Galvanoplastik wurden mehrere Schriftstücke als Faksimiles in die Säule integriert, so auch ein Rezept Friedrich Schillers, das beweist, dass Ärzte und Apotheker bis ins frühe 19. Jahrhundert alchemistische Zeichen zur Kennzeichnung von Arzneimitteln verwendeten. Immer wieder zeigen die Motive die Kontroverse zwischen der spirituellen Dimension des Heilens und der naturwissenschaftlichen Sicht auf die Prozesse von Krankheit und Genesung.

Bilder im Zusammenhang

Apotheker Lutz Raasch begreift die Säule als eine Art Bilderbuch, mit dem er den Kunden Zusammenhänge plastisch vor Augen führen kann. Über einer barocken Apothekeneinrichtung aus der Zeit der Gründung der Zentral-Apotheke und einer Büste Sertürners sieht man einen galvanisierten Strauß verschiedener Heilpflanzen, auch Mohnkapseln. Darüber ist das versilberte, dreidimensionale Molekül des im Mohnsaft enthaltenen Wirkstoffs Morphin dargestellt, das Sertürner erstmals isolierte und als basische Substanz erkannte.

Letztlich, so Raasch, müsse aber auch der Apotheker den Einfluss der menschlichen Psyche akzeptieren und den reinen Glauben an die Heilkraft einer Arznei als heilungsfördernd anerkennen. Die wissenschaftliche Ausarbeitung der Themen und künstlerisches Können verbinden sich in der Ludwigsburger Säule zu einer meisterhaften Darstellung menschlicher Geschichte und menschlichen Erlebens.

Kastentext: Der Künstler

Karl Hirt, 1925 in Donaueschingen geboren und in Ludwigsburg ansässig, hat insbesondere Bronze- und Aluminiumgüsse nach Styropor- oder Wachsmodellen geschaffen. Seine Werke finden sich vor allem im Großraum Stuttgart in vielen Kirchen und öffentlichen Gebäuden, darunter Kreuzwege in Ludwigsburg und Schwieberdingen. Im Herbst 2001 stellt er im alten Rathaus von Tamm sein Gesamtwerk aus.

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