DAZ Feuilleton

Die Natur als Künstlerin

Unter dem Eindruck der Ökologie haben wir uns daran gewöhnt, die Natur als eine Einheit zu sehen, als einen gewaltigen Organismus, der sich auf wundersam komplexe Weise reproduziert und zugleich unsere eigene Existenz sichert. Eine solche Sicht blendet die Schönheiten der Natur nicht aus, aber eindrücklicher treten diese am isolierten Detail zutage. So dienten bestimmte Pflanzenteile Bildhauern als Vorbild oder Motiv, das sie vielfältig variiert haben. Welche Inspirationen die Künstler der Natur verdanken, dokumentiert die Ausstellung "Die Wunder der Natur", die bis zum 5. Juni 2005 in der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen zu sehen ist.

Holz und andere pflanzliche Produkte waren neben und zusammen mit Lehm die ersten Baumaterialien der Menschheit. Die Steinarchitektur übernahm von der Holzbauweise nicht nur elementare Konstruktionsprinzipien wie Säulen und das über ihnen liegende Gebälk, sondern schmückte die Bauten auch mit Skulpturen, die gleichsam Stein gewordene Pflanzenteile sind. Dafür bieten die Säulenkapitelle in mittelalterlichen Kirchen ein besonders reiches Anschauungsmaterial. Aus den Blöcken über den Säulenstämmen wachsen Blätter und Früchte heraus, durchdringen sich und entfalten sich üppig. Bisweilen tummeln sich auch Tiere und Menschen in diesem wuchernden Gestrüpp.

Diese Pflanzenkapitelle sind frühe Beispiele für die Freude der Menschen an den Formen der Natur und zugleich für die Lust der Bildhauer, die natürlichen Motive künstlerisch zu gestalten. Dabei mischen sich Realität und individuelle Fantasie und führen zu immer wieder neuen Ergebnissen.

Alte Kräuterbücher

Einen anderen Blick auf die Natur haben die Menschen, wenn sie in ihr nach nützlichen Dingen suchen, beispielsweise nach Arzneipflanzen. In alten Kräuterbüchern, die nach der Erfindung des Buchdrucks eine eigene, sehr vielfältige und auflagenstarke Literaturgattung darstellten, zeugen die Pflanzenporträts von dem Bestreben nach einer realistischen Darstellung. Doch gab es hier auch Unterschiede.

Manche Illustrationen sind stark vereinfacht und betonen ein oder zwei charakteristische oder aus medizinische Sicht besonders wichtige Merkmale einer Pflanze, andere Illustrationen fassen sämtliche Merkmale einer Pflanze, die nach einander erscheinen (z. B. Blüte und Frucht), in einem Idealbild zusammen. Hier ist der didaktische Aspekt klar vorherrschend, doch kommen bei allen Darstellungen die künstlerischen Aspekte nicht zu kurz.

Etwa 50 Kräuter- und Pflanzenbücher vom 15. bis zum 19. Jahrhundert sind in der Ausstellung zu sehen. Sie geben einen Überblick über die Variationsmöglichkeiten der Pflanzendarstellung in Verbindung mit der Entwicklung der druckgraphischen Technik.

Details in Großaufnahme

Der dritte Schwerpunkt der Ausstellung sind Schwarz-weiß-Fotografien von Karl Blossfeldt (1865 – 1932). Durch die Beschränkung auf das Detail und seine Vergrößerung hat Blossfeldt die einzelnen Bauprinzipien von Pflanzen deutlich gemacht, z. B. das schubweise Wachstum von Sprossen, die Entfaltung von Knospen, Verzweigungen, spiralförmige Ranken. Seine kahlen, auf das Notwendigste reduzierten Fotografien geben dem Betrachter das Gefühl, dass er die Pflanzen mit den Augen eines Ingenieurs sieht. Doch Funktionalität und Schönheit sind hier nicht zu trennen. Mit Recht trägt der 1928 erschienene Fotoband von Blossfeldt den Titel "Urformen der Kunst".

Ein spätmittelalterlicher Bischofsstab, dessen Krümme an einen sich entfaltenden Farn erinnert, einige gotische Glasfenster und Textilien mit pflanzlichen Motiven runden die Ausstellung ab. Alles in allem zeigt sie, welche Anregungen die Natur der menschlichen Schöpferkraft gegeben hat. Dass sie das auch weiterhin und mehr denn je tut, zeigt der aufstrebende Wissenszweig der Bionik – doch das ist ein Thema für sich. W. Caesar

Ausstellung 

Ludwig Galerie Schloss Oberhausen Konrad-Adenauer-Allee 46, 46042 Oberhausen Tel. (02 08) 4 12 49 28, Fax (02 08) 4 12 49 13 www.ludwiggalerie.de.

Geöffnet: Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr.

Katalog: 184 Seiten mit überwiegend ganzseitigen Abbildungen, 24,50 Euro (+ 5,– Euro Versandkosten; nicht im Buchhandel)

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