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Arzneimittelversorgung: Selbsthilfegruppen benennen Unterversorgung

BERLIN (im). Die Rationierung von Arzneimitteln, die bereits begonnen habe, wird sich in den kommenden Monaten noch verschärfen. Dies sagte Dr. Manfred Richter-Reichhelm, Repräsentant der niedergelassenen Ärzte, am 28. August in Berlin. Dort verwiesen auf einer Veranstaltung mit knapp 100 Repräsentanten von Selbsthilfegruppen, unterstützt vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller, Patientenvertreter auf die zunehmende Schwierigkeit für chronisch Kranke, eine angemessene medikamentöse Therapie unter den Budgetzwängen zu erhalten. Immer mehr Verordnungen würden mit Hinweis auf ausgeschöpfte Ausgabentöpfe verweigert.

Wer informiert Ärzte?

Nach Angaben von Richter-Reichhelm, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in Köln, plant seine Organisation unter dem Namen "Wirkstoff aktuell" eine neue Information speziell für die niedergelassenen Ärzte über neue und hochpreisige Arzneimittel. Hier solle hinterfragt werden, ob der therapeutische Fortschritt einer neuen Substanz im angemessenen Verhältnis zum höheren Preis stehe.

Darüber hinaus bestätigte der KBV-Chef die Vorarbeiten am "Aktionsprogramm 2000" (siehe DAZ Nr. 34 vom 24. August). Ein ähnliches Programm war im vergangenen Herbst zum Abbremsen der Arzneiausgaben gestartet worden. Dringend mahnte Richter-Reichhelm, der auch Vorsitzender der KV in Berlin ist, schnellere Datenlieferungen der Krankenkassen an. Er habe beispielsweise die Daten über seine Heilmittelverschreibungen des ersten Quartals 1999 erst im November 1999 erhalten. Angesichts des "Datenchaos" auch bei den Arzneimitteln - die Betriebskrankenkassen kämen beispielsweise auf andere Zahlen als die Ortskrankenkassen - sei keinerlei Steuerung möglich. An die Politik erging die Forderung nach Aufhebung der Budgets.

Die Ärzte plädierten für die individuelle Versorgungsverantwortung mittels Richtgrößen, bei denen ein Mediziner etwa mit einer großen Zahl von Patienten mit teuren Krankheiten sich verteidigen könne. Mit Blick auf die Vertreter von Selbsthilfegruppen warb er um Verständnis für die Reduzierung von Arzneimittelverschreibungen, da die Mediziner die Überschreitungen der Budgets aus ihrem Honorar zahlen müssten. Den Gesundheitspolitikern warf er Versäumnisse vor. Weder seien die derzeit gestoppten Arzneimittel-Richtlinien noch das Verfahren der Festbetragsfestsetzung rechtssicher gemacht, noch die Negativliste vorgelegt worden. Das Verfahren der künftigen Positivliste sei unsicher.

Besser oder billiger?

Vor allem neue, teuere Innovationen beanspruchten einen erheblichen Finanzbedarf, sagte Richter-Reichhelm. So gebe es deutliche Zuwächse im Bereich der patentgeschützten Präparate ohne Festbetrag. Er nannte neben der höheren Krankheitshäufigkeit (Morbidität) in den neuen Bundesländern verglichen mit dem Westen, die in den Budgets bisher völlig außen vor geblieben sei, als ein Beispiel der sichtbar werdenden Rationierung die Therapie der Schizophrenie. Auf der einen Seite gebe es die innovativen atypischen Neuroleptika mit geringen unerwünschten Wirkungen, welche sehr teuer seien. Ihnen stünden die klassischen Antipsychotika vom Haloperidoltyp mit einer hohen Nebenwirkungsrate, dem Risiko dauerhafter Spätschäden und größeren Compliance-Problemen gegenüber. Medizinisch sinnvoll seien die moderneren Präparate, bezahlt werden könne unter dem gesetzlichen Ausgabendeckel jedoch nur der ältere Haloperidoltyp.

Die Crux dabei laut Richter-Reichhelm: Erst langfristig sind Einsparungen vor allem durch weniger Wiedereinweisungen in ein Krankenhaus zu erwarten, die Arzneimittelbudgets der niedergelassenen Mediziner würden jedoch nicht entsprechend angehoben. Die Folge: Lediglich fünf Prozent der Schizophreniepatienten erhielten innovative atypische Neuroleptika. Letztlich stünden die Mediziner vor der Wahl, besser oder billiger zu verordnen, sagte der Ärzte-Repräsentant.

Kritik der Patientenvertreter

Mehrere Vertreter von Selbsthilfegruppen lehnten das Verhalten der Ärzte, sich auch bei medizinisch sinnvollen Arzneimittelverschreibungen zurückzuhalten, ab. Die Mediziner könnten nicht mit der Solidarität der Schwächsten rechnen, denen sie Verschreibungen vorenthielten, sagte beispielsweise Silvia Wollersheim, Geschäftsführerin der Deutschen Rheuma-Liga mit Sitz in Bonn. Sie sollten die Probleme auf der politischen Ebene sowie innerhalb der Ärzteschaft lösen und nicht in ihren Praxen.

Trend: Wachsende Restriktionen

Tenor der Berichte der Selbsthilfegruppen war der Trend hin zur Einschränkung von Arzneimittelverordnungen, die den Betroffenen erhebliche Probleme bereiteten. So nannte Wollersheim aktuelle Zwischen-Ergebnisse einer im August gestarteten Umfrage der Rheuma-Liga in deren Mitgliederzeitschrift. Von den vier Millionen Rheumakranken seien 215 000 in diesem Selbsthilfeverband organisiert, 150 000 erhielten die Zeitschrift. Von den 265 ersten Rücksendern berichtete fast jeder zweite von Verweigerungen bei Arzneiverordnungen, und sogar knapp 190 von Einschränkungen bei benötigten Heilleistungen wie Krankengymnastik. Auf die Frage, was nicht verschrieben wurde, standen an oberster Stelle Rofecoxib (Handelsname Vioxx), verschiedene nichtsteroidale Antirheumatika, Vitamin-E-Präparate sowie Schmerzmittel.

Von den 197 ärztlichen Begründungen dafür entfielen die meisten auf den Verweis auf ein Budget (112), auf das Zahlen aus dem ärztlichen Honorar (30), auf die nicht zahlende Krankenkasse (21) oder auf den zu hohen Preis des Arzneimittels (21). Dass andere Kranke wichtiger seien oder Rheumakranke "zu teuer", ließen 13 Ärzte ihre Patienten wissen. 25 Mediziner gaben an, das Präparat sei medizinisch nicht notwendig.

Lösung: Privatrezept?

Als Alternativvorschläge erhielten 86 Patienten ein Privatrezept, 67 wurden an einen anderen Arzt verwiesen. Zusammengefasst seien dies "unerträgliche Auswirkungen" für die Rheumakranken, von denen die meisten auf die dauerhafte Einnahme schmerz- und entzündungshemmender Arzneimittel angewiesen sei, stellte die Geschäftsführerin der Rheuma-Liga fest. Vor allem chronisch Kranke müssten die notwendigen Therapien erhalten, so ihr Appell, sie seien derzeit besonders stark von der gesetzlichen Ausgabenbegrenzung betroffen.

Kampf um Therapie

Im Unterschied zu den ersten Gesundheitsreformen, bei denen die Betroffenen um die Begleittherapien wie Physiotherapie gekämpft hätten, gehe es bei der seit Januar geltenden Gesundheitsreform von Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer mit den Arzneimittelbudgets um die ausreichende medikamentöse Verordnung der Patienten. Dies sagte der Geschäftsführer der Deutschen Parkinson Vereinigung Friedrich-Wilhelm Mehrhoff. Nach seinen Worten ist die medikamentöse Unterversorgung etwa von Patienten mit Morbus Parkinson die Regel geworden.

Sonderregeln für HIV

Dass Sondervereinbarungen zwischen Schwerpunktpraxen und Krankenkassen Luft für Verschreibungen verschaffen können, wurde an den Ausführungen von Dr. Stefan Etgeton, Geschäftsführer der deutschen AIDS-Hilfe, deutlich. So gebe es in den epidemiologischen Zentren in West-Berlin, Düsseldorf, Frankfurt/Main, Hamburg, Köln oder München, in denen mehr als jede zweite AIDS-Erkrankung gemeldet werde, durch spezielle - auch ambulante - Angebote einen hohen Versorgungsstand.

Aufgrund von Sondervereinbarungen erfolge die Verschreibung von Arzneimitteln etwa in den Schwerpunktpraxen weitgehend losgelöst von Budgets. Es wäre wünschenswert, so Etgeton, ähnliches auch für andere chronische Erkrankungen mit einer hohen Forschungsdynamik zu vereinbaren.

Diabetiker Bund soll nicht "aufwiegeln"

Auf die schwierige Lage der fast fünf Millionen Diabetiker (Dunkelziffer sechs Millionen) mit ihrer finanziell aufwendigen Therapie machte Dr. Klaus Fehrmann aufmerksam. Zur Zeit werden sowohl bei den Hausärzten als auch in den Schwerpunktpraxen die vorgegebenen Budgets überzogen, sagte der Vorsitzende des Deutschen Diabetiker Bunds aus Lüdenscheid.

Betroffene meldeten dieser Selbsthilfegruppe Bemerkungen von Ärzten wie "Was ich den Diabetikern mehr gebe, muss ich einer anderen Gruppe wegnehmen" oder " was soll ich Ihnen verschreiben, Insulin oder Teststreifen?" Ärzte hätten den Diabetiker Bund unterdessen aufgefordert, er solle die Kranken nicht gegen sie "aufwiegeln". Neben einer uneingeschränkten, wissenschaftlich begründeten Therapie forderte Fehrmann unter anderem das Herauslösen der Kosten für Blutzuckerteststreifen aus dem Arzneimittelbudget und deren Zuordnung zu den nicht budgetierten Hilfsmitteln.

SPD will Budgets

Als Vertreter der SPD-Bundestagsfraktion machte deren Gesundheitsexperte Klaus Kirschner das Festhalten an der derzeitigen Budgetpolitik deutlich. Kirschner, der auch Vorsitzender des Gesundheitsausschusses des Bundestags ist, lehnte es ab, "mehr Geld ins System" zu geben. Sowohl höhere Kassenbeiträge als auch höhere Zuzahlungen zu Arzneimitteln sind für ihn gleichbedeutend mit einer Verschwendung finanzieller Ressourcen. Budgets seien als Steuerungsinstrumente unverzichtbar. Bei Wegfall der gesetzlichen Ausgabengrenzen seien Mehrausgaben in der Krankenversicherung die Folge und damit höhere Beitragssätze. Kämen höhere Selbstbehalte oder Leistungseinschränkungen, träfe das nur die Kranken, nicht die Gesunden. Kirschner sah noch große Wirtschaftlichkeitsreserven bei Generika und bei so genannten umstrittenen Arzneimitteln.

Die Mindestlösung

Wenn die Budgets angesichts der politischen Lage nicht kurzfristig abgeschafft werden könnten, dann müssten sie zumindest am Versorgungsbedarf der Bevölkerung ausgerichtet und demnach aufgestockt werden. Das vertrat die Hauptgeschäftsführerin des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller Cornelia Yzer. So müssten die Mehrkosten für Innovationen berücksichtigt werden, die nach Berechnung von Professor Eberhard Wille vom Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen vier bis fünf Prozent der Budgetfestsetzung für das Jahr 2000 ausmachten.

Ein Praxisbericht

Eine 65-jährige Parkinson-Patientin aus Süddeutschland. Ihr ambulant betreuender Neurologe ist auf mehrfache Nachfrage bereit, die Patientin zur stationären Neueinstellung in eine Spezialklinik einzuweisen. Er verabschiedet sie mit den Worten: "Aber lassen Sie sich nicht auf teure Medikamente einstellen. Die kann ich Ihnen später nicht verordnen!"

Die Patientin weist in der Klinik mehrfach auf diesen Wunsch des ambulant betreuenden Neurologen hin. Bei der Rückkehr von ihrem fünfwöchigen Aufenthalt sucht sie ihren Neurologen auf und erbittet ein entsprechendes Rezept gemäß der erfolgten Einstellung.

Sie erhält durch die Sprechstundenhilfe die Mitteilung, der Arzt hätte Sie doch gewarnt, teure Medikamente könne er im Hinblick auf die Budgetierung und den Regress nicht verordnen. Er könne und wolle ihr kein Rezept geben. Sie möge sich bitte an die Klinik wenden oder einen neuen Arzt suchen! Die Krankenkasse, sonst sich gerne als Anwalt der Patientin sehend, versagte ebenfalls jede Hilfestellung.

Erst durch die Vermittlung durch unsere Selbsthilfeorganisation konnte mit einigen Mühen ein Arzt gefunden werden, der bereit war, die stationär erarbeitete Einstellung zunächst zu übernehmen und die entsprechenden Anschlussverordnungen auszustellen.

Quelle: Deutsche Parkinson Vereinigung, Neuss

Die Rationierung von Arzneimitteln, die bereits begonnen habe, wird sich in den kommenden Monaten noch verschärfen. Dies sagte Dr. Manfred Richter-Reichhelm, Repräsentant der niedergelassenen Ärzte, am 28. August in Berlin. Dort verwiesen Patientenvertreter auf einer Veranstaltung mit knapp 100 Repräsentanten von Selbsthilfegruppen, unterstützt vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller, auf die zunehmende Schwierigkeit für chronisch Kranke, eine angemessene medikamentöse Therapie unter den Budgetzwängen zu erhalten.

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