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Von Kneipp bis zur Phytotherapie

Am 4. und 5. Juli 1998 fand in Bad Alexandersbad im Fichtelgebirge ein medizinhistorischer Workshop über die Geschichte der Naturheilverfahren statt. Veranstalter waren die Europäische Gesellschaft für klassische Naturheilverfahren (ESCNM) und das Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg.

Anfänge der Hydrotherapie


Die Geschichte von Bad Alexandersbad (früherer Name: Sichersreuth) war seit der Entdeckung der Heilquelle (1734) recht wechselhaft. Eine Blütezeit erlebte der Ort um 1842, als dort der "Hydriatische Verein", ein Zusammenschluß von Ärzten und Laienheilern, die mit Wasserkuren therapierten, gegründet wurde. Leiter der Kaltwasser-Heilanstalt waren u.a. J.H. Rausse (1805-1848) und sein Neffe, der Apotheker Theodor Hahn (1824-1883). In ihren - großenteils polemischen - Schriften grenzten sie ihre "Naturheilkunst", "Physiatrie" oder "naturgemäße Heilkunde" gegen die "rationelle Medicin" oder "Medicinalheilkunde" ab. Der bewußte Irrationalismus dieser "Naturapostel" erklärt sich aus ihrem Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte des Körpers und auf die Heilkräfte des Wassers, dessen richtige Anwendung die Selbstheilungskräfte aktivieren und unterstützen sollte.
Der bis heute bekannteste Vertreter der Hydrotherapie war der Pfarrer Sebastian Kneipp (1821-1897), dies vor allem aufgrund der hohen Auflage seiner Schriften "Meine Wasserkur" (ab 1886), "So sollt ihr leben" (ab 1889) und "Rathgeber für Gesunde und Kranke" (ab 1891), einer Art Zusammenfassung der beiden ersten Schriften.
Anfangs beschrieb Kneipp nur fünf Güsse: Knieguß, Unterguß, Rückenguß, Vollguß und Oberguß. Später kamen Schenkelguß, Armguß und Kopfguß hinzu, während der Unterguß ("ein erhöhter, verstärkter Schenkelguß") wegfiel. Heute unterscheiden aktuelle Werke zur Kneipptherapie acht bzw. neun Güsse.
Der Naturheiler Johannes Schroth (1798-1856), der vor allem wegen einer von ihm entwickelten Diät bekannt ist, begann seine Praxis mit einer Variante der Hydrotherapie, nämlich mit feuchten Umschlägen bzw. Packungen. Er betrachtete die feuchte Wärme als Heilprinzip, "weil damit die angesammelten Krankheitsstoffe im Körper gelöst und sodann durch Stuhl, Urin und Schweiß ausgeschieden werden können."
Bei der Schroth-Kur werden diese Packungen bis heute unverändert angewandt. Aufgrund des heutigen Wissensstandes lassen sich allerdings die alten Ansichten zur Wirkungsweise der Packungen nicht aufrecht erhalten. So gibt es beispielsweise keine transkutane Diffusion größerer Wassermengen aus den feuchten Packungstüchern in den Körper, und die übelriechenden Verfärbungen der Tücher, die oft nach Beendigung der Packung festgestellt werden, sind keine "Schlacken" des Körpers. Das Wirkprinzip der feuchten Wärme liegt vielmehr darin, daß die Hautfunktion, der Kreislauf, das Neurovegetativum und vermutlich auch das Immunsystem - hier sind noch weitere Forschungen erforderlich - positiv beeinflußt werden. Damit gibt es eine rationale Grundlage für den Einsatz der Schrothschen Kurpackung.

Diätetik mit Chemie?


Während sich Naturheiler wie Rausse und Hahn auf ihre Erfahrung und ihre Intuition verließen, aber rationale Argumente ablehnten, sah der Chemiker Justus Liebig (1803-1873) gerade in den Naturwissenschaften den Schlüssel für naturgemäße und die natürlichen Ressourcen schonende Produktions-, Wirtschafts- und Lebensweisen:

  • In seiner "Agriculturchemie" (1840) formulierte er den Grundsatz, daß der Landwirt dem Boden die Mineralien zurückgeben müsse, die er ihm durch die Ernte der angebauten Pflanzen entzogen hat.
  • In seiner "Thierchemie" (1842) stellte er eine Theorie des Stoffwechsels auf und leitete daraus Konzepte der gesunden Ernährung, der Krankheit und der Wirkung von Arzneimitteln ab.


Beide Werke waren anfangs sehr umstritten, doch während sich Liebigs Ideen in der Landwirtschaft nach einiger Zeit durchsetzten - man nannte ihn den "Arzt der Äcker" -, gaben seine physiologisch-pathophysiologischen Vorstellungen zunächst einmal nur Anstoß zu einem immensen Forschungsprogramm, ohne daß sie von praktischem Nutzen waren. So konstatierte Rudolf Virchow 1868: "Eine streng wissenschaftliche Diätetik ist bis jetzt noch unmöglich."
Diätetisch wertvoll waren jedoch einige von Liebigs Erfindungen, z.B. die "Fleischbrühe für Kranke" (1854). Es handelte sich um einen mit destilliertem Wasser, etwas Kochsalz und Salzsäure gewonnen Kaltauszug aus Muskelfleisch, der bei Patienten mit schweren gastrointestinalen Störungen (z.B. Cholera) lebensrettend sein konnte. Ein anderes Produkt, der im Dampfbad gewonnene Fleischextrakt, war zwar offizinell (Extractum Carnis Liebig DAB), aber dennoch eher ein Genuß- als ein Arzneimittel.

Auf dem Weg zur modernen Phytotherapie


Die gegenwärtige Phytotherapie hat zwei Wurzeln, nämlich

  • die traditionelle Medizin von der Antike bis weit in die Neuzeit hinein, die in der Phytotherapie nicht eine "Alternative", sondern in den meisten Fällen die Therapie der ersten Wahl sah;
  • die moderne Naturwissenschaft, darunter insbesondere die Pharmazeutische Biologie und ihre Vorläufer.


Am Beginn der naturwissenschaftlichen Fundierung der Phytotherapie stand der Schwede Carl von Linné (1707-1778), der eine Systematik des Pflanzenreichs nach spezifischen Merkmalen der Fortpflanzungsorgane (Sexualsystem) schuf und damit das alte Dogma der Viersäftelehre für die Klassifizierung von Pflanzen über Bord warf. Die moderne Botanik konzentrierte sich daher anfangs auf die Morphologie, der übrigens auch Johann Wolfgang Goethe mit seinen Vorstellungen von der "Urpflanze" und ihren Metamorphosen Impulse gab.
Vom Habitus und Aufbau der Pflanze wurde der Blick der Botaniker weiter ins Innere des Objektes gelenkt: Vor allem Matthias Schleiden (1804-1881) und Carl Wilhelm von Naegeli (1817-1891) trieben die "Cellulogie" voran. Dabei wurde deutlich, daß die Zelle nicht nur ein anatomischer Baustein, sondern auch der Ort von Lebens- und Stoffwechselvorgängen ist. Um dieselben näher zu erforschen, entwickelte der Würzburger Botaniker
Julius von Sachs (1832-1897) seine "Experimentalphysiologie".
Von diesen Untersuchungen war der Weg zu den sekundären Pflanzeninhaltsstoffen nicht mehr weit. Damit kam die Botanik in direkte Berührung mit der Pharmakognosie, einem anfangs medizinisch geprägten Fach, das die Materia medica, die Gesamtheit der Arzneidrogen, zum Gegenstand hatte.
Dem Apotheker Alexander Tschirch (1856-1939), der sich für Botanik und Pharmakognosie habilitiert hatte, gelang es an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert, der alten "Drogenkunde" ein zeitgemäßes naturwissenschaftliches Gepräge zu geben. Die Kombination von anatomisch-morphologischen mit naß-chemischen Methoden zum Nachweis der Inhaltsstoffe machten die Pharmakognosie zu einer wichtigen Teildisziplin der Pharmazie, was sich später, in den 1960er Jahren, auch in ihrer Umbenennung in "Pharmazeutische Biologie" ausdrückte.
Wie wichtig ein naturwissenschaftliches Fundament auch für die Phytotherapie ist, wurde vor 100 Jahren schon von dem "Naturarzt" Martin Glünicke betont, der analog zu Virchows "Cellularpathologie" das Konzept einer "Cellulartherapie" entwarf, um die Wirkung pflanzlicher Arzneimittel auf die kranken Zellen nachzuweisen. Hier klingt bereits ein Gedanke an, der mittlerweile im Wirkstoff-Screening von Pflanzen zur Routine geworden ist.
Trotz großer Diskussionen, die heute über den (naturwissenschaftlichen) Wirkungsnachweis und den (therapeutischen) Wirksamkeitsnachweis von pflanzlichen Arzneizubereitungen geführt werden, bleibt der letztere für die Praxis von größerer Bedeutung. Zahlreiche Phytopharmaka, die den Nachweis der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erbracht haben, haben eine amtliche Zulassung erhalten, und sie werden auch von vielen Medizinern eingesetzt, die ansonsten der Naturheilkunde eher mit Vorbehalt gegenüberstehen.

Förderverein des Museums


Im Rahmen des Festakts wurde Prof. Dr. Heinz Goerke in Würdigung seiner großen Verdienste um die Gründung des Museums und der Gesellschaft der Freunde und Förderer zum Ehrenvorsitzenden der Gesellschaft ernannt. Mehr als 25 Jahre war er als ihr Vorsitzender mit hohem Engagement und persönlichem Einsatz aktiv gewesen. Nun hatte er in der vorausgegangenen Mitgliederversammlung seinen Rücktritt erklärt. Zu seinem Nachfolger wurde Prof. Dr. Paul Unschuld, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Medizin an der Universität München, gewählt. Prof. Dr. Christa Habrich trat an dessen Stelle als 2. Vorsitzende der Gesellschaft. Alle weiteren Mitglieder des engeren Vorstands wurden in ihren Ämtern bestätigt.

ESCNM


Die Europäische Gesellschaft für klassische Naturheilverfahren e.V. (European Society for Classical Natural Medicine, ESCNM) wurde 1996 gegründet. Sie befaßt sich mit physikalischen Therapien, Diätetik, Phytotherapie und somato-psychischen Therapien sowie mit der Ideengeschichte der Naturheilverfahren. Präsident der ESCNM ist Prof.Dr. Malte Bühring, Institut für Naturheilkunde der FU Berlin. Neben regionalen Treffen veranstaltet die ESCNM Jahreskongresse - den nächsten am 24.-26. September in Überlingen mit dem Schwerpunkt auf dermatologischen und psychischen Erkrankungen. Informationen im Internet:
http://escnm.regiotip.de

Unser Gehirn


Durch das Gehirn denken wir, sehen wir, hören wir, können wir das Häßliche und das Schöne, das Böse und das Gute, das Angenehme und das Unangenehme erkennen.
Durch das Gehirn sind wir verrückt, delirieren wir, nehmen sowohl nachts wie nach Tagesanbruch Ängste und Schrecken von uns Besitz, Tagesträume, grundlose Sorgen, das Verkennen der Gegenwart, die Ungewohntheit, die Unerfahrenheit.
All dem sind wir durch das Gehirn ausgesetzt, wenn es krank ist, das heißt, wenn es zu warm oder zu kalt, zu feucht oder zu trocken ist, oder wenn es irgendeine widernatürliche Schädigung erfahren hat, die es nicht verkraften kann.
Hippokrates (Erstes Buch der Epidemien)

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