Schmerzmittel-Missbrauch bei Jugendlichen

Tilidin als Droge

Stuttgart - 29.09.2020, 07:00 Uhr

„Opioide bringen ein warmes und geborgenes Gefühl, das man zu Hause vielleicht nie hatte und nie gespürt hat“, sagt Maurice Cabanis, Leitender Oberarzt der Klinik für Suchtmedizin und Abhängiges Verhalten am Klinikum Stuttgart über jugendliche Schmerzmittelabhängigkeit. (Foto: FollowTheFlow / stock.adobe.com)

„Opioide bringen ein warmes und geborgenes Gefühl, das man zu Hause vielleicht nie hatte und nie gespürt hat“, sagt Maurice Cabanis, Leitender Oberarzt der Klinik für Suchtmedizin und Abhängiges Verhalten am Klinikum Stuttgart über jugendliche Schmerzmittelabhängigkeit. (Foto: FollowTheFlow / stock.adobe.com)


Sollte auch retardiertes Tilidin ein BtM sein?

Die Datenlage zum Tilidinkonsum von Jugendlichen ist schwierig. Zwar gebe es gute Hinweise beispielsweise aus dem Arzneiverordnungsreport von 2016, sagt Thomasius. „Darin ist für die Zeit von 2006 bis 2015 eine Zunahme von 30 Prozent der definierten Tagesdosen an Opioid-Analgetika, zu denen Tilidin gehört, beschrieben.“ Das Problem sei aber nicht ausreichend wissenschaftlich erfasst. „Wir klammern das Problem des Medikamentenmissbrauchs bei Jugendlichen bisher aus.“ Das Reportageformat STRG_F (NDR/funk) hatte kürzlich eigenen Angaben zufolge Daten der gesetzlichen Krankenkassen abgefragt: Demnach wurden 2017 noch 100.000 definierte Tagesdosen Tilidin für 15- bis 20-Jährige verschrieben, 2019 dann mehr als drei Millionen – eine Steigerung um das 30-Fache. „Das wäre erschreckend“, sagt Thomasius. Diese Daten lassen sich jedoch nach Worten einer Sprecherin des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (GKV) so nicht nachvollziehen. Auch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) kann sie nicht bestätigen, ebenso wenig wie die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA). „Besorgniserregend ist die Entwicklung rund um Tilidin auf jeden Fall“, sagt Thomasius. Auch insgesamt steigt nach Worten von Cabanis der Konsum von Opiaten und Opioiden in Deutschland rasant an.

Aber wie kommen Jugendliche an das rezeptpflichtige Medikament? „Ich vermute, dass sie es sich auf dem Schwarzmarkt besorgen“, erklärt ABDA-Sprecherin Ursula Sellerberg. Das bestätigt auch Cabanis. Zudem ließen sich die Präparate insbesondere über das Internet relativ einfach bestellen. Auf dem Schwarzmarkt ist Tilidin nach Einschätzung von Thomasius deutlich teurer als Cannabis. Aus seiner Sicht sollten auch (retardierte) Tilidintabletten in das Betäubungsmittelgesetz aufgenommen werden. (Anmerkung der Redaktion: Tilidin unterliegt schon dem Betäubungsmittelgesetz, ist in Anlage III aufgeführt und in der BtMVV nur in der retardierten Form von den betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften ausgenommen.) „Die Suchtmittelkommission im Bundesgesundheitsministerium muss sich mit diesem Thema dringend auseinandersetzen.“ Dafür ist die Datenlage jedoch noch nicht eindeutig genug, erklärt ein Sprecher des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Auch Faktoren wie Hinweise auf möglicherweise vermehrten illegalen Handel, Rezeptfälschungen oder mögliche Änderungen der Leitlinien zur Therapie mit Tilidin müssten in die Bewertung mit einfließen. Man versuche derzeit, weitere Erkenntnisse zu gewinnen. 

Cabanis fordert mit Blick auf Medikamentenabhängigkeit bei Jugendlichen ein deutliches Umdenken und neue Präventionsstrategien. Am Klinikum Stuttgart solle ein Schwerpunkt für Frühintervention etabliert werden, um Jugendliche viel früher zu erreichen, sagt er. „Man muss erkennen, dass man da eine große Gruppe vernachlässigt.“



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