Klinische Studien

Europa kämpft um seinen Status

13.01.2017, 15:30 Uhr

Trotz gut gefüllter Entwicklungspipelines der Unternehmen, liegt die Zahl klinischer Versuche in Europa auf einem schwachen Niveau. (Foto: Robert Kneschke / Fotolia)

Trotz gut gefüllter Entwicklungspipelines der Unternehmen, liegt die Zahl klinischer Versuche in Europa auf einem schwachen Niveau. (Foto: Robert Kneschke / Fotolia)


Pharmaunternehmen führen ihre klinischen Studien immer öfter außerhalb Europas durch. Die Tests sind dort vielfach billiger, zudem finden sich oft leichter Patienten. Nun steuern einige Länder dagegen und wollen den Standort Europa wieder attraktiver für klinische Tests machen. 

Christa Wirthumer-Hoche, Geschäftsfeldleiterin der österreichischen Medizinmarktaufsicht Ages, ist besorgt: „Die Anzahl der klinischen Prüfungen in Österreich ist in den letzten Jahren leider rückläufig“, sagte sie kürzlich vor dem Hintergrund einer neuen EU-Verordnung, die voraussichtlich ab Herbst 2018 EU-weit das Genehmigungsverfahren von klinischen Prüfungen vereinheitlichen soll. Offenbar verbirgt sich dahinter nicht nur eine kurzfristige Entwicklung: Statistische Daten zeigen, dass dieser Prozess insbesondere seit 2008 anhält. Wurden damals in Österreich nach Angaben des Bundesamtes für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) noch 360 klinische Studien durchgeführt, sank deren Zahl bis zum Jahr 2014 auf 248 Studien. Zwar nahm die Zahl 2015 wieder auf 305 Studien zu, um danach aber nach bislang noch nicht offiziell kommunizierten Daten erneut abzusinken. 

Quelle: applied clinical trials

Das Beispiel Österreich steht offenbar für einen globalen Trend. Nach Angaben des Fachdienstes Applied Clinical Trials werden zwar nach wie vor rund 66 Prozent aller klinischen Studien in Nordamerika, Westeuropa und Australien durchgeführt. Allerdings hätten andere Regionen in den zurückliegenden Jahren deutliche Anteile gewonnen. So stellte das indische Institute for Studies in Industrial Development in einer Untersuchung aus dem Jahr 2015 fest, dass der globale Anteil Indiens an klinischen Studien von 0,9 Prozent im Jahr 2008 auf 4,9 Prozent in 2013 gestiegen ist. In derselben Zeit sank der Anteil der USA von 48,9 Prozent auf 39 Prozent. Diese Zahlen basieren auf Daten der weltweit größten Studiendatenbank Clinicaltrials.gov.

Diese Entwicklung trifft auch Europa, wie Peter Richter, Leiter Kommunikation des österreichischen Pharmaverbandes Pharmig bestätigt: „Der Rückgang ist in ganz Europa zu beobachten – zum Nutzen anderer Regionen wie Rest of World, etwa Indien, nicht aber unbedingt USA.“ Ähnliches beobachtet die Schweizer Organisation PublicEye.ch. Die berichtet, dass zwischen 1991 und 2005 der Anteil der in Schwellenländern durchgeführten klinischen Versuche von 10 Prozent auf 40 Prozent gestiegen sei und auch von 2006 bis 2010 weiter zugenommen habe. Dagegen sei der Anteil der in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten durchgeführten Tests von 55 Prozent auf 38 Prozent zurückgegangen.

Allerdings stellt sich die Lage in Europa etwas undurchsichtig dar. Nach Angaben des europäischen Pharmaverbandes Efpia werden jährlich weltweit rund 9000 klinisches Tests durchgeführt, davon immerhin rund 4000 in Europa. Deutschland nimmt dabei nach Angaben des Verbandes der forschenden Arzneimittelhersteller vfa mit 655 klinischen Studien im Jahr 2015 hinter den USA Platz 2 ein. Seit einem deutlichen Rückgang im Jahr 2012 verbucht Deutschland weitgehend stagnierende Zahlen.

Andererseits räumt die Efpia ein, dass die Zahl klinischer Versuche in Europa auf einem schwachen Niveau liege - trotz gut gefüllter Entwicklungspipelines der Unternehmen. In den vergangenen Jahren sei die Zahl der Arzneimitteltests sogar leicht zurückgegangen.

Dies sei auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass aufgrund einer zunehmenden Internationalisierung die Zahl klinischer Studien insgesamt gestiegen sei. Dies sei einerseits zwar auch Europa zugute gekommen, da immer mehr EU-Länder in solche Studien eingebunden worden seien. Andererseits habe die Zunahme von Studien auf internationaler Ebene den generellen Rückgang in Europa nicht aufhalten können, so die Efpia.

Das Diagramm zeigt für ausgewählte Länder die Zahl klinischer Studien, die von forschenden Pharma-Unternehmen finanziert wurden. Jeder Wert gibt an, wie viele Studien im betreffenden Jahr neu begonnen wurden (noch laufendeStudien aus früheren Jahren wurden nicht mitgezählt). Eine Studie, an derEinrichtungen in mehreren Ländern mitwirken (was die Regel ist), wird fürjedes beteiligte Land gezählt. Datengrundlage ist das internationaleStudienregister clinicaltrials.gov. Deutschland konnte in den letzten Jahren seinen Platz als weltweites Studienland Nr. 2 nach den USA behaupten.

Studien sollen Ethnienvielfalt abbilden

Es ist allerdings nicht ungewöhnlich, dass Studien international ausgerichtet werden. Da Arzneimittel meist weltweit vermarktet werden, fordern Fachleute, dass die auch klinischen Tests die Geschlechter- und Ethnienvielfalt abbilden. Das ist aber längst nicht immer der Fall. In einem Beitrag des Fachmediums PLOS Medicine Ende 2015 warnten die Autoren davor, in Arzneimitteltests die ethnischen und populationsgenetischen Unterschiede der Bevölkerung zu ignorieren. „Damit wird eine wissenschaftliche Chance vertan, die helfen würde, die Ursachen für Krankheit und Gesundheit zu verstehen.“ Das Fachmedium Eye for Pharma weist seinerseits darauf hin, dass in den USA schwarze Amerikaner 13,2 Prozent der Bevölkerung und Hispanics 16 Prozent ausmachten, diese Gruppen aber nur zu fünf beziehungsweise einem Prozent in klinischen Tests vertreten seien. Ähnlich unterrepräsentiert sind offenbar auch Frauen. Laut Ann Van Dessel, Senior Vice President und Global Head of Clinical Operations beim Pharmaunternehmen Janssen, könnten Schwangerschaften und Stillzeiten mögliche Gründe dafür sein. Insgesamt, so Eye for Pharma, sei es eine Tatsache, dass Minderheiten, Frauen, arme Menschen und ältere Personen in klinischen Studien unterrepräsentiert sind. Das Medium zitiert FDA-Kommissar Robert Califf: „Es ist ein komplexer Prozess, die Ergebnisse klinischer Tests in die Praxis zu übertragen. Es ist aber anerkannt, dass eine auf einer breiten Population angelegte klinische Studie das Vertrauen bei den Zulassungsbehörden, Ärzten und Entscheidungsträgern steigert und erwarten lässt, dass sich die Ergebnisse der Studie auch in der Praxis zeigen.“ Offenbar haben diese Fakten auch die US-Arzneimittelbehörde FDA hellhörig gemacht – das Jahr 2016 hatte sie zum „Jahr der Diversität in klinischen Studien“ ernannt.

Niedrigere Studienkosten in Schwellenländern

Allerdings spielen laut PublicEye.ch vielfach auch strategische und finanzielle Überlegungen der Pharmaunternehmen eine wesentliche Rolle, dass klinische Studien zunehmend auch außerhalb Europas oder der USA durchgeführt werden. Um Zugang zu neuen Märkten zu bekommen und die Kosten niedrig zu halten, würden viele Unternehmen ihre klinischen Versuche vermehrt in Entwicklungs- und Schwellenländer verlagern. Tatsächlich entfallen fast 59 Prozent der Entwicklungskosten neuer Arzneimittel auf klinische Tests. Jährlich gibt die Pharmaindustrie schätzungsweise 80 bis 90 Milliarden Dollar für klinische Versuche aus, das entspricht etwa 60 bis 70 Prozent ihrer Forschungs- und Entwicklungsbudgets. Der europäische Verband Efpia merkt zudem an, dass die biopharmazeutische Industrie damit einen größeren Umsatzanteil in neue Erkenntnisse – resultierend aus Forschung und Entwicklung – investiert als jede andere Industrie.

Damit stellen sich allerdings auch neue Herausforderungen. So weist PublicEye.ch darauf hin, dass eine Verlagerung klinischer Versuche in Regionen, in denen der Zugang zur Gesundheitsversorgung nicht gewährleistet und die Regulierung weniger streng ist, zu ernsthaften Verletzungen ethischer Standards führen kann. Ohnehin sei der Bereich der klinischen Versuche sehr intransparent: Die Hälfte der klinischen Versuche werde nie publik gemacht; negative Ergebnisse würden oft verfälscht oder beschönigt. Dieses Fehlen von Transparenz gefährde nicht nur die Patienten, die an den Versuchen teilnehmen. Dies sei auch nachteilig für die öffentliche Gesundheit in den Absatzländern. Mittlerweile reagieren allerdings immer mehr Pharmaunternehmen auf diese Kritik. GlaxoSmithKline und andere Konzerne zeigen sich mittlerweile transparenter bei klinischen Studien. 

Herausforderung Patientenrekrutierung

Darüber hinaus zeigt sich, dass Studienbetreiber zunehmend Schwierigkeiten haben, die angestrebten Patientenzahlen zu erreichen. Jeanne Hecht, im Vorstand des Medizin-Softwarekonzerns Median zuständig für das operative Geschäft, berichtet, dass vier von fünf klinischen Tests nicht die angepeilte Zahl von Patienten erreichen.

Oft spielen dabei recht banale Gründe eine Rolle. Laut Hecht hätten viele Ärzte vielfach nicht die Zeit, Patienten über klinische Tests zu informieren und sie dafür zu gewinnen. Eine weitere Barriere könnte die Flut an Informationen sein, mit denen die Ärzte durch die Sponsoren der Studien konfrontiert werden, wenn ihre Patienten an klinischen Untersuchungen teilnehmen.

Ohnehin scheinen Ärzte eine wichtige Rolle zu spielen. Craig Lipset, Head of Clinical Innovation von Pfizer: „Selbst wenn sie Patienten auf direktem Wege wie durch Medien oder das Web erreichen, so spielt der behandelnde Arzt bei der Entscheidungsfindung des Patienten eine große Rolle.“

Efpia will Studienprozesse beschleunigen

Um die Attraktivität von Europa für klinische Studien wieder zu steigern, präsentieren die europäischen Entscheider und Institutionen zahlreiche Vorschläge. So plädiert die Efpia dafür, dass die Zulassungsbehörden den Einreichungs- und Bewertungsprozess beschleunigen, um Europa wieder attraktiver für klinische Tests zu machen. Und Christa Wirthumer-Hoche von der österreichischen AGES sagt: „Damit wir hier wieder international aufholen, gibt es ein Pilotprojekt, mit dem wir uns auf die neuen Herausforderungen durch die EU-Verordnung einstellen und zeigen wollen, dass Österreich ein attraktiver Forschungsstandort ist. Denn: Investitionen in die klinische Forschung sind direkte Investitionen für die Patienten.“ Als Studienteilnehmer könnten diese durch einen frühen Zugang zu innovativen Therapien von einer bestmöglichen medizinischer Betreuung profitieren.

Auch jenseits des Atlantik trommelt die FDA für klinische Studien in ihrem Einzugsbereich. Die Behörde möchte durch eine bessere Informationspolitik vor allem verstärkt unterrepräsentierte Gruppen für die Pharmatests gewinnen.

Einen speziellen Lösungsansatz bringt Median Technologies-Managerin Hecht ins Gespräch: Ärzte könnten Patienten die Teilnahme an klinischen Studien als eine von mehreren Therapieansätzen anbieten – wohl wissend, dass es sich hierbei nicht um ausgereifte und zugelassene Arzneimittel handelt.

Trotz aller Internationalisierung klinischer Studien und des negativen Trends in Europa wird der Kontinent auch in Zukunft eine bedeutende Rolle bei derartigen Tests spielen. Darauf deutet laut Efpia auch die Tatsache hin, dass die Zahl der Studienzentren in Europa steigt. Dies deutet nach Einschätzung des Verbandes darauf hin, dass die Pharmaunternehmen nicht wirklich vorhaben, ihre Studienaktivitäten in dieser Region weiter zu reduzieren.



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