Multiple Sklerose

Das Therapie-Dilemma

Stuttgart - 10.11.2016, 14:45 Uhr

Bis hin zu Chemotherapie und Stammzelltransplantation: Forscher entwickeln teils sehr riskante Therapieansätze für Patienten mit Multipler Sklerose. (Foto: Sherry Young / Fotolia)

Bis hin zu Chemotherapie und Stammzelltransplantation: Forscher entwickeln teils sehr riskante Therapieansätze für Patienten mit Multipler Sklerose. (Foto: Sherry Young / Fotolia)


Die Multiple Sklerose gilt als unheilbar. Bei der Erforschung neuer Therapien greifen Forscher zu immer extremeren Mitteln – und Patienten kommen sogar zu Tode. Haben die Ansätze die Chance, zukünftig in der Klinik angewandt zu werden?

Multiple Sklerose verläuft bei jedem Patienten anders: Etliche haben Glück, und leiden auch nach vielen Jahren nur unter milden Symptomen. Bei anderen löst jeder Krankheitsschub neue Beschwerden aus, die sich nicht oder nur teilweise wieder zurückbilden. Oder es kommt zu einer schleichenden, immer stärkeren Beeinträchtigung durch die Krankheit. Alle Erscheinungsformen haben gemeinsam, dass sie unheilbar sind. Arzneien können die Multiple Sklerose (MS) nie stoppen, sondern höchstens deren Verlauf abbremsen. Im fortgeschrittenen Stadium sind Arzneien meist gar nicht mehr wirksam.

Bei der Entwicklung neuer Medikamente gegen die Autoimmunkrankheit stehen Wissenschafter seit Jahren vor einem Dilemma: Je radikaler ein Wirkstoff das Immunsystem unterdrückt, desto effektiver kann er die Krankheit aufhalten. Doch Erfolge werden zwangsläufig mit schweren Nebenwirkungen erkauft. Dennoch geht die Forschung immer radikalere Wege. Bei der Erprobung einer neuen Therapie sind sogar Versuchsteilnehmer verstorben.

Auslöser nicht vollständig verstanden

Was genau die MS auslöst, ist bis heute nicht gänzlich erklärt. Das Krankheitsgeschehen besteht darin, dass körpereigene Abwehrzellen im Gehirn und im Rückenmark die Myelinscheiden der Nerven angreifen. Es entstehen Entzündungen, durch die das Myelin und irgendwann die Nerven selbst zugrunde gehen. In der Folge kann eine ganze Reihe von neurologischen Symptomen auftreten: Lähmungen und Gefühlsstörungen etwa, Spastiken oder Beeinträchtigungen des Sehvermögens.

Typisch für die MS ist ein Verlauf in Schüben. Bei einigen Patienten baut sich das Myelin dazwischen ganz, bei anderen unvollständig wieder auf, was auch die Rückbildung der Symptome beeinflusst.

Stammzelltransplantation für MS-Patienten

Therapien, die das Immunsystem hemmen, wirken der Zersetzung der Nervenhüllen entgegen. Doch ein Experiment hat gezeigt, wie gefährlich das sein kann. Für eine im Juni vom Lancet veröffentlichte Studie gingen Forscher der University of Ottawa noch weiter als bisher. Sie testeten an MS-Patienten ein Verfahren, das ansonsten bei der Therapie von Leukämien angewandt wird. Erst töteten sie das Immunsystem der Patienten durch eine Chemotherapie nahezu vollständig ab, um ihnen dann autologe Stammzellen zu transplantieren.

Für ihre Versuche hatten die Forscher Probanden mit MS ausgewählt, die eine schlechte Prognose hatten, und bereits durch die Krankheit beeinträchtigt waren. Die Versuchsteilnehmer hatten nach Expanded Disability Status Scale (EDSS) einen Behinderungsgrad zwischen 3 und 6 und waren zwischen 18 und 50 Jahre alt. Ihnen wurde zunächst Knochenmark entnommen und als Reserve konserviert, dann regten die Forscher hämatopoetische Stammzellen der Probanden zum Zirkulieren an, um sie aus deren Blut zu gewinnen. Anschließend befreiten sie das gewonnene Stammzelltransplantat noch mithilfe von CD34-Antikörpern von reifen Immunzellen. Ziel war es, das immunologische Gedächtnis der Patienten zu löschen, damit das Immunsystem aufhören würde, Myelin zu zerstören.

Die Versuchsteilnehmer erhielten dann über mehrere Tage hinweg die Zytostatika Busulfan und Cyclophosphamid, sowie Antithymozytenglobulin (ATG) vom Kaninchen, ein Antikörpergemisch gegen Immunzellen. 48 Stunden nach der letzten Dosis der Chemotherapie wurden den Probanden ihre eigenen Stammzellen transplantiert.

Nebenwirkungen waren teils tödlich

Bei einem Teil der Versuchsteilnehmer verlief die Behandlung erfolgreich. Die MS war bei 16 von ihnen zum Stillstand gekommen. Innerhalb der Nachtbeobachtungszeit von durchschnittlich sechseinhalb Jahren hatten sie keine klinischen Rückfälle und keine neuen Entzündungsherde im Gehirn. Bei einigen bildeten sich durch die MS erworbene Beeinträchtigungen sogar teilweise wieder zurück. Bei sieben Patienten hingegen schritt die Krankheit trotz der Behandlung fort. Und ein Proband überlebte die Radikalkur erst gar nicht. Durch eine toxische Schädigung der Leber verstopften seine Lebervenen, eine häufige Komplikation bei der Behandlung mit Zytostatika. Er erlitt außerdem eine Klebsiella Sepsis. Zwei Monate nach der Behandlung verstarb der Versuchsteilnehmer wegen massiver Lebernekrosen. Ein weiterer Proband musste – ebenfalls wegen Leberschäden – intensivmedizinisch behandelt werden, überlebte jedoch. Auch viele weitere Patienten entwickelten zum Teil starke Nebenwirkungen. Die Risiken waren bekannt gewesen: Die „Überlebensrate‟ bewege sich im üblichen Rahmen bei Knochenmarktransplantationen, schreiben dazu die Autoren.

Können die Ansätze in der Klinik angewandt werden?

Die Studie zeigt zweierlei: Eine Heilung scheint möglich, wenn das Immunsystem zuvor nahezu ausgelöscht wird. Doch für die Patienten ist das Verfahren so gefährlich, dass es für eine klinische Anwendung ungeeignet bleibt. Sie müssten ihr Leben riskieren, ohne dass die Heilung garantiert wäre. Dabei ist die MS, anders als Leukämie, in der Regel keine tödliche Krankheit. Auch ist ihr Verlauf schwer vorherzubestimmen. Bei ihren Probanden etwa nahmen die Wissenschaftler lediglich an, dass die Krankheit innerhalb der nächsten 10 Jahre deutlich fortschreiten würde. Ob deren Lebensqualität sich so stark verschlechtern würde, das lebensgefährdende Maßnahmen vorab gerechtfertigt waren, ließ sich nicht sicher sagen. Im klinischen Alltag würden solche Verfahren Patienten vor kaum abwägbare, zutiefst schwierige, individuelle Entscheidung stellen.

So zeigt die Studie auf tragische Weise die Grenzen immunregulierender Therapien noch einmal deutlich auf. Gut möglich, dass die Zukunft der Behandlung der MS-Therapie in anderen Ansätzen liegt. Wegen der langen Nachbeobachtungszeit stammt der extreme Behandlungsansatz ohnehin aus einer anderen Zeit: Die Forscher starteten ihre Studie bereits im Jahr 2000. Inzwischen haben sich die herkömmlichen Therapieoptionen der MS deutlich verbessert. Ein echter Durchbruch war etwa war der Einsatz von Fumarsäure (in Europa seit 2004 zugelassen). Der Wirkstoff tötet das Immunsystem nicht ab, sondern hindert weiße Blutzellen daran, in das ZNS einzuwandern. Die Therapie vermag die Schubfrequenz um 50 Prozent zu senken – und wird noch dazu meist gut vertragen. 



Irene Habich, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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