Arzneimittel und Therapie

Revival für Nalmefen zur Behandlung Alkoholabhängiger

Abstinenz ist für viele Alkoholabhängige ein sehr hoch, häufig zu hoch, gestecktes Ziel. Nun soll der Opioid-Rezeptormodulator Nalmefen, ein alter Wirkstoff mit neuer Indikation, Süchtigen helfen, den Alkoholkonsum lediglich zu reduzieren. Ende Februar hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) die Zulassung für Nalmefen (Selincro®) zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit erteilt. Die Markteinführung in Europa ist für Herbst dieses Jahres geplant.

Der Wirkstoff Nalmefen war bereits in den achtziger Jahren als Revex® (Bayer) auf dem Markt. Zugelassen war es damals als Antidot bei Opiatintoxikation. 2008 ist das Präparat aus dem Handel genommen worden, da das preiswertere Naloxon bevorzugt wurde. Jetzt feiert Nalmefen ein Comeback als Medikament zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit.

Anti-Craving-Mittel wenig erfolgreich

Derzeit sind nur zwei Substanzen auf dem deutschen Markt, die als sogenannte Anti-Craving-Mittel zur Rückfallprophylaxe bei trockenen Alkoholikern eingesetzt werden.

Acomprostat verhindert durch Antagonismus am NMDA-Rezeptor das Andocken von Glutamat und somit die Übererregbarkeit des Gehirns. Dadurch wird das Verlangen des Suchtkranken nach Alkohol gemindert. Acomprostat wird unter dem Handelsnamen Campral® vertrieben.

Naltrexon, als Adepend® und Nemexin® im Handel, soll als Antagonist am Opiatrezeptor zum Nachlassen des Verlangens nach Alkohol führen.

Therapieoption Reduktion

Doch der Erfolg dieser beiden Substanzen hält sich in Grenzen. Studien aus den USA zufolge erreichen nur ca. 35% der behandelten Patienten das Therapieziel Abstinenz. Daher werden große Hoffnungen in alternative Therapieoptionen gesetzt, die nicht die Abstinenz, sondern die Reduktion des Alkoholkonsums als Ziel haben.

Wirkmechanismus: Hilfe zum weniger Trinken

Bei Alkoholgenuss wird Dopamin im mesolimbischen System des Gehirns, dem Belohnungssystem, freigesetzt. Das Verlangen nach weiterem Alkohol steigt dadurch. Endorphine, die körpereigenen Opiate, erleichtern die Dopamin-Freisetzung. Nalmefen verhindert als Opioid-Rezeptormodulator diese verstärkende Wirkung. Nalmefen wirkt antagonistisch an µ- und δ-Rezeptoren, an κ-Rezeptoren fungiert es als partieller Agonist. Im Gegensatz zu Naltrexon ist es nicht zur Rückfallprophylaxe zugelassen, sondern zur Reduktion des Alkoholkonsums. Die Einnahme von Nalmefen erfolgt nicht wie bei den Anti-Craving-Mitteln regelmäßig, sondern gezielt vor jedem geplanten Alkoholkonsum. Ziel ist es, ein exzessives Trinken zu verhindern. Laut Zulassungsunterlagen ist Selincro® bei Patienten mit hohem Alkoholkonsum (> 60 g/Tag für Männer, > 40 g/Tag für Frauen) indiziert, die keine körperlichen Entzugssymptome haben, keine Entgiftung benötigen und die nach zweiwöchiger psychosozialer Betreuung weiterhin einen hohen Alkoholkonsum aufweisen. Die Einnahme von Nalmefen erfolgt nach Bedarf, das heißt, an den Tagen, an denen der Patient plant zu trinken, sollte er eine Tablette einnehmen, vorzugsweise ein bis zwei Stunden vor dem erwarteten Alkoholkonsum. Die Verordnung von Nalmefen ist an begleitende psychosoziale Betreuung gekoppelt.

Die Wirksamkeit von Nalmefen wurde in drei Studien an ca. 2000 Patienten getestet. Vor der Einnahme von Nalmefen konsumierten die Probanden durchschnittlich anderthalb Flaschen Wein pro Tag. In der Verum-Gruppe konnten die Patienten im ersten Monat die eingenommene Alkoholmenge um mehr als 40% senken, nach sechs Monaten sogar um 60% (in der Placebo-Gruppe um 50%). Die Zahl der schweren Trinktage ging von durchschnittlich 19 pro Monat auf sieben zurück (in der Placebo-Gruppe auf zehn). Dass Motivation eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, spiegeln die Ergebnisse in der Placebo-Gruppe wider. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen, wie Übelkeit, Schwindel und Schlafstörungen, traten vor allem zu Beginn der Therapie auf.

Problem Alkoholabhängigkeit

Alkoholabhängigkeit ist eine Erkrankung mit progressivem Verlauf. Für die meisten Organe ist Alkohol toxisch, und je mehr Alkohol man konsumiert, desto höher ist das Risiko, vorzeitig zu versterben. In einer erst kürzlich veröffentlichten epidemiologischen Studie einer Forschergruppe von der Universität Greifswald [1] konnte gezeigt werden, dass Alkohol die Lebenszeit um durchschnittlich 20 Jahre verkürzt. 4070 zufällig ausgewählte Personen wurden 14 Jahre lang beobachtet. Es wurden Männer und Frauen nach ihrem Suchtverhalten befragt und die Sterbewahrscheinlichkeit ermittelt. 149 Personen wurden als alkoholabhängig eingestuft. Von diesem Personenkreis starben die Männer im Durchschnitt mit 58 Jahren und die Frauen mit 60 Jahren. In der nicht alkoholabhängigen Gruppe hingegen erreichten die Männer durchschnittlich 77 Jahre und die Frauen 82 Jahre.

Übermäßiger Alkoholkonsum wird verantwortlich gemacht für mehr als 60 verschiedene Erkrankungen. Dazu zählen neurologische und kardiovaskuläre Erkrankungen sowie Leberzirrhose und verschiedene Tumore. Bei der Entstehung der Abhängigkeit spielen genetische wie auch Umweltfaktoren eine Rolle. Typisch für die Abhängigkeit ist das überwältigende Verlangen, Alkohol zu trinken. Die Patienten haben enorme Schwierigkeiten, den Alkoholkonsum zu kontrollieren, obwohl sie genau wissen, wie gesundheitsgefährdend der Alkohol für sie ist.

Übermäßiger Alkoholkonsum ist keine Seltenheit. In Europa sind mehr als 14 Millionen Menschen alkoholabhängig. Insgesamt sind 5 bis 6% der Männer und 1 bis 2% der Frauen betroffen. Aber nur rund 8% der Patienten werden aufgrund ihrer Abhängigkeit behandelt. Sowohl Abstinenz als auch eine Reduktion der Alkoholaufnahme sind Ziele bei der Behandlung dieser Patienten.

  • eine Flasche Wein enthält ca. 70 g Alkohol (750 ml, 12 Vol%)

  • eine Flasche Bier enthält ca. 13 g Alkohol (330 ml, 5 Vol%)

  • ein einfacher Schnaps enthält ca. 6 g Alkohol (20 ml, 40 Vol%)

Frauen sollten nicht mehr als 10 g Alkohol pro Tag konsumieren, Männer nicht mehr als 20 g.


Quelle

[1] John U, Rumpf H, et al. Excess mortality of alcohol-dependent individuals after 14 years and mortality predictors based on treatment participation and severity of alcohol dependence. Alcoholism Clinical and experimental research 2013; 37(1): 156 – 163.

[2] Kretzschmar A. Paradigmenwechsel in der Suchttherapie – Verringerung der "Heavy Drinking Days" als Behandlungsziel, Psychopharmakotherapie, 03/2012.


Apothekerin Ina Richling, PharmD


Zum Weiterlesen


Freude und Frust – zwischen Koksen und Fressen

Alles über die neurochemischen Antriebsmechanismen der Alkoholabhängigkeit und anderer Süchte und deren Therapie lesen Sie im Beitrag "Pharmako-logisch! Suchtkrankheiten".

DAZ 2012, Nr. 9, S. 54 – 95



DAZ 2013, Nr. 11, S. 40

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