Arzneimittel und Therapie

Weniger ist mehr!

Neue Hilfe aus der Alkoholabhängigkeit

Nalmefen ist ein bereits aus den 70er Jahren bekannter Opioid-Antagonist, den man früher zur Behandlung einer Opiatvergiftung verwendet hat. Nun wurde es als Selincro® zur Trinkmengenreduktion bei erwachsenen Alkoholabhängigen eingeführt, deren Konsum sich auf einem hohen Risikoniveau befindet. Nalmefen sollte nur in Verbindung mit kontinuierlicher psychosozialer Unterstützung verordnet werden. Neu ist, dass ab September alle Kassen das Medikament erstatten.

Korrigiert wurde sogar die Arzneimittelrichtlinie: Denn sie hat die Sinnhaftigkeit des Reduktionskonzepts nachvollzogen. Zwar sollen Patienten möglichst weiterhin zum Therapieziel „Abstinenz“ geführt werden, wie Prof. Dr. med. Falk Kiefer, Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (Zi), Mannheim, auf einer von der Lundbeck GmbH unterstützten Veranstaltung am 19. August 2014 in Berlin ausführte. Lässt sich das eher über den Umweg einer Trinkmengenreduktion durch Nalmefen in einem Zeitfenster von drei bis sechs Monaten erreichen, dann kann sich der Patient immer noch für die Abstinenztherapie entscheiden. Da viele Patienten nicht therapiewillig sind und oft die Krankheitseinsicht fehlt, biete Nalmefen eine „große Chance, den Fuß in die Tür der Behandlung zu kriegen,“ so Kiefer. Erschwerend kommt hinzu, dass heutzutage Wartezeiten auf einen Facharzttermin von bis zu vier Monaten keine Seltenheit sind, so Allgemeinmedizinerin Dr. Petra Sandow, Berlin.

Nalmefen gilt als Opioidsystem-Modulator. Es bindet selektiv an Opioid-Rezeptoren und weist eine antagonistische Aktivität an den µ- und δ-Rezeptoren und eine partiell agonistische Aktivität an den κ-Rezeptoren auf. Akuter Alkoholkonsum führt zu einer Dopamin-Freisetzung im mesolimbischen System, welches als positives Belohnungs-Vorhersage-System fungiert und eine wichtige Rolle in der Suchtentwicklung spielt. Das System soll Menschen evolutionstechnisch dazu bringen, „aus Erfahrung klug zu werden und eben die Situationen erneut aufzusuchen, in denen wir uns wohlfühlen“, veranschaulichte Kiefer.

Teufelskreis Trinken

Dabei sind dem Menschen am liebsten „stabile Belohnungsvorhersagen“. So biete manchem die Kneipe um die Ecke per Glas Wein genau diese, während er sich zugleich davor fürchtet, was ihn am heimischen Tisch erwarten wird.

Trinken von Alkohol codiert einen Teufelskreis, denn mit jedem Schluck wird die Erwartungshaltung immer höher. Alkohol kann als Droge nie zufriedenstellen, sondern nötigt den Süchtigen immer mehr dazu, dem Belohnungsstimulus hinterher zu sein. Oft ist es dann unmöglich, mit dem Trinken aufzuhören. Das, so Kiefer, ist die aktuelle Theorie, wie es überhaupt zu Suchterkrankungen kommt. Dazu passt auch die Tatsache, dass Menschen leichter abstinent sind, je länger sie abstinent sind. Denn in der Abstinenz findet eine Auslöschung falschen Verhaltens statt. Trinkt der Patient dann doch wieder, erinnert sich das Gehirn an die alte Verknüpfung. In der Situation, in der der Patient noch nicht abstinent ist, wird mit Nalmefen an einem neuen pharmakologischen Ansatzpunkt angegriffen: So wirkt Nalmefen als µ-Opioid-Rezeptor-Antagonist. Trinkt der Patient nun unter diesem Einfluss Alkohol, wird kein Dopamin mehr freigesetzt. Damit, so erklärte Kiefer, hat man pharmakologisch so etwas wie einen abstinenzähnlichen Effekt realisiert. Selbst Kernspinuntersuchungen machen sichtbar, dass die Belohnungsvorhersage abnimmt.

Setzt man in Tiermodellen κ-Rezeptor-Agonisten ein, reduziert sich der Alkoholkonsum bei alkoholgewöhnten Ratten. Nalmefen ist auch ein partialer κ-Rezeptor-Agonist und verhindert ebenso eine Überaktivierung dieses Impulses.

Steckbrief

Handelsname: Selincro®

Hersteller: Lundbeck GmbH, Hamburg

Einführungsdatum: 1. September 2014

Zusammensetzung: eine Filmtablette enthält 18,06 mg Nalmefen (als Hydrochlorid-Dihydrat); sonstiger Bestandteil mit bekannter Wirkung: 60,68 mg Lactose

Stoffklasse: andere Mittel für das Nervensystem, Mittel zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit; ATC‑Code: N07BB05

Indikation: zur Reduktion des Alkoholkonsums bei erwachsenen Patienten mit Alkoholabhängigkeit, deren Alkoholkonsum sich auf einem hohen Risikoniveau befindet, bei denen keine körperlichen Entzugserscheinungen vorliegen und für die keine sofortige Entgiftung erforderlich ist; nur in Verbindung mit kontinuierlicher psychosozialer Unterstützung, die auf Therapieadhärenz und eine Reduktion des Alkoholkonsums zielt

Dosierung: Einnahme nach Bedarf; ein bis zwei Stunden vor dem voraussichtlichen Alkoholkonsum eine Tablette; maximale Tagesdosis: 18 mg

Nalmefen

Gegenanzeigen: Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff oder einen der sonstigen Bestandteile; Patienten, die Opioid-Analgetika einnehmen, Patienten mit bestehender oder kurz zurückliegender Opioid-Abhängigkeit, mit akuten Opioid-Entzugssymptomen, mit schwerer Leber- und schwerer Nierenfunktionsstörung

Nebenwirkungen:

sehr häufig: Schlaflosigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit;

häufig: verminderter Appetit, Schlafstörungen, Verwirrtheit, Ruhelosigkeit, verminderte Libido (einschließlich Libidoverlust), Somnolenz, Tremor, Aufmerksamkeitsstörungen, Parästhesie, Hypoästhesie, Tachykardie, Palpitationen, Erbrechen, trockener Mund, Hyperhidrose, Muskelspasmen, Ermüdung, Asthenie, Unwohlsein

Wechselwirkungen: Es werden keine klinisch relevanten Wechselwirkungen zwischen Nalmefen oder seinen Metaboliten und gleichzeitig angewendeten Arzneimitteln erwartet, die über die häufigsten CYP450- und UGT-Enzyme oder Membrantransporter metabolisiert werden. Bei gleichzeitiger Anwendung von starken Inhibitoren des UGT2B7-Enzyms (z.B. Diclofenac, Fluconazol, Medroxyprogesteronacetat, Meclofenaminsäure) kann die Exposition mit Nalmefen signifikant ansteigen. Wird Nalmefen gleichzeitig mit Opioid-Agonisten eingenommen (z.B. mit bestimmten Arten von Husten- und Erkältungsmitteln, bestimmten Antidiarrhoika sowie Opioid-Analgetika), wird der Patient möglicherweise nicht von dem Opioid-Agonisten profitieren.

Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen: Nalmefen ist nicht für Patienten bestimmt, deren Therapieziel eine sofortige Abstinenz ist. In einer Notfallsituation, in der ein Opioid verabreicht werden muss, ist die zum Erreichen der gewünschten Wirkung erforderliche Opioid-Dosis eventuell hoher als üblich. Der Patient soll engmaschig auf Symptome einer Atemdepression infolge der Opioid-Verabreichung überwacht werden. Nalmefen muss eine Woche vor der voraussichtlichen Anwendung von Opioiden vorübergehend abgesetzt werden, z.B. wenn Opioid-Analgetika bei einer geplanten Operation eingesetzt werden könnten.

Auf den Umgang mit Alkohol achten

Nalmefen wird nach Bedarf möglichst ein bis zwei Stunden vor dem Alkoholkonsum eingenommen, das heißt, wenn der Kranke annimmt, in eine solche Situation zu kommen. Das Medikament motiviert also dazu, sich den gesteigerten Alkoholkonsum und die entsprechende Lage bewusst zu machen. Es schult die Achtsamkeit des Alkoholkranken und ist auch Teil der Psychotherapie, quasi eine achtsamkeitsbasierte Intervention, so Kiefer. Das erklärt auch den hohen Placebo-Effekt, der sich in Studien gezeigt hat. Wenn der Patient bereits begonnen hat, Alkohol zu trinken, ohne Nalmefen vorher eingenommen zu haben, sollte soba3wie möglich eine Tablette eingenommen werden. Die maximale Dosis ist eine Tablette (18 mg Nalmefen) pro Tag. Nalmefen kann mit oder ohne Nahrung eingenommen werden.

Es liegen die Ergebnisse von drei randomisierten, doppelblinden und placebokontrollierten Parallelgruppenstudien vor (ESENSE 1 mit 604 Patienten; ESENSE 2 mit 718 Patienten über jeweils 24 Wochen; ESENSE 3 mit 675 Patienten über 52 Wochen). Alle 1997 Patienten waren nicht abstinenzwillig und nahmen 18 mg Nalmefen an den Tagen ein, wenn sie einen hohen Konsum erwarteten. Sie waren seit elf bis 14 Jahren erkrankt und durften nicht länger als 14 Tage im letzten Monat abstinent gewesen sein. Sie mussten mindestens sechs Tage mit hohem Alkoholkonsum pro Monat (heavy drinking days, HDD) aufweisen. Eine HDD ist definiert als ein Tag mit mehr als 60 g reinem Alkohol bei Männern und mehr als 40 g reinem Alkohol bei Frauen. Kiefer präsentierte Ergebnisse der deutschen ESENSE-1-Studie. Im Durchschnitt hatten die Patienten einen Alkoholkonsum von 80 g pro Tag und reduzierten sowohl in der Nalmefen- als auch in der Placebo-Gruppe ihren Konsum. Nach sechs Monaten waren es unter Nalmefen 30 g pro Tag und in der Placebo-Gruppe 40 g. Die Anzahl der Tage mit hohem Alkoholkonsum – die Patienten hatten im Durchschnitt 19 pro Monat – sank in der Nalmefen-Gruppe auf sieben und unter Placebo auf neun. Die Verträglichkeit des Medikaments ist gut. Übelkeit, Erbrechen und Schwindel treten nur in den ersten zwei Behandlungswochen auf und sind damit passager. Andere Symptome wie Schlafstörungen kommen auch bei Alkoholentzug vor und lassen sich deshalb kaum der Substanz zuordnen, meinte Kiefer. Wird Nalmefen gleichzeitig mit Opioid-Agonisten eingenommen (z.B. mit Husten- und Erkältungsmitteln, Antidiarrhoika sowie Opioid-Analgetika), besteht die Gefahr, dass die Opioid-Agonisten nicht ausreichend wirken oder dass die Dosis wesentlich erhöht werden muss. Vor allem bei den Opioid-Analgetika muss dann wegen des Risikos einer Atemdepression engmaschig überwacht werden. Vor geplanten Operationen, bei denen Opioid-Analgetika eingesetzt werden, wird Nalmefen abgesetzt. 

Dr. med. Nana Mosler

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