Wirtschaft

Der Versorgungs-Report 2011

Eine ökonomische Fundgrube mit Fokus auf chronischen Erkrankungen

Die gesundheitsökonomisch geprägte Berichterstattung über das deutsche Gesundheitswesen entwickelt sich kontinuierlich weiter. Der jährliche Arzneiverordnungs-Report ist eine feste Institution. Bekannt sind die zum freien Download verfügbaren Auswertungen der Barmer GEK, wie der Arzt-, Arzneimittel- sowie Hilfsmittel-Report. In Buchform unter Federführung des WIdO (Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen) neu hinzugekommen ist der Versorgungs-Report 2011, und er füllt, das sei schon verraten, eine wichtige Lücke. Er ist eine Fundgrube aufschlussreicher Erkenntnisse – der Fokus liegt auf den chronischen Erkrankungen, die ja für einen Großteil der Apothekenumsätze verantwortlich sind.

Herausforderung chronische Erkrankungen

Aufgrund ihres oftmals lebenslangen Therapiebedarfs stellen chronische Erkrankungen eine große, auch ökonomische Herausforderung dar. 70% der Todesfälle sind in Deutschland allein auf Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs zurückzuführen. Krebs ist dabei heute überwiegend als eine chronische Erkrankung anzusehen.

Chroniker wie Diabetiker (inzwischen über 7 Millionen in Deutschland!), KHK- oder COPD-Patienten haben einen mehrfach höheren Leistungsbedarf als der durchschnittliche Versicherte. Sie weisen auch erheblich höhere Hospitalisierungsraten auf. Während im Durchschnitt etwa jeder siebte Bundesbürger im Laufe eines Jahres ins Krankenhaus muss (14,1%), sind dies bei Adipösen bereits knapp 22%, bei Diabetikern 29%, bei an Osteoporose Erkrankten schon stolze 34% und bei Herzerkrankungen (KHK, Herzinsuffizienz) ist es rund jeder Zweite.

Da Multimorbidität häufig ist, akkumulieren und verstärken sich die Probleme. In den berühmten "Lorenz-Kurven" bildet sich das dann so ab, dass in 2007 bereits 1% der Versicherten 23% der Kosten verursachen, 5% stehen für gut 50% der Kosten, 10% für fast zwei Drittel. In vielen Fällen verbergen sich aus dem Ruder gelaufene, chronische Erkrankungen dahinter, neben seltenen, aber extrem teuren Krankheiten sowie ebenfalls seltenen, aber sehr teuren Behandlungen z. B. im Gefolge von Schwerstunfällen. Diese Verteilung erklärt, warum die Kostenträger sich mittels Disease-Management-Programmen (DMP) gerade auf die ganz gut abgrenzbaren Gruppen der "Big five der Chroniker", nämlich Diabetes Typ 1 bzw. 2 (insgesamt 54% der DMP-Einschreibungen), koronare Herzkrankheit (KHK, 25%), Asthma bronchiale (10%), chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD, 8%) und Brustkrebs (2%) fokussieren.

Arzneiverbrauch und Praxisbesuche der Chroniker

Im Schnitt erhalten etwa 70% der Wohnbevölkerung (ausgehend von den Daten der GKV) im Laufe eines Jahres Arzneimittel verordnet, eine für Apotheken nicht ganz unwichtige Zahl. Dass Chroniker wie Diabetiker oder Herzkranke auf Verordnungsquoten mehr oder weniger deutlich über 90% kommen, verwundert nicht.

Eher schon überrascht die Tatsache, dass sich die Zahl der Praxiskontakte von sowieso schon im internationalen Vergleich beachtlichen 17 Besuchen pro Jahr und Versichertem nochmals vervielfacht; die Arzneiverordnungen korrelieren ganz gut mit der Zahl der Praxiskontakte (Abb.). Chroniker spülen damit ein Mehrfaches vom Durchschnittsumsatz in die Apothekenkasse, so beispielsweise bei KHK rund 1370 Euro (brutto und ohne Abzüge) und bei Herzinsuffizienz gar etwa 1500 Euro. Die Beschäftigung mit DMP-Programmen aus pharmazeutischer Sicht ist daher sicher ein zukunftsträchtiges Feld.

DMP-Programme – ein Fortschritt?

Auf den hierzulande seit 2003 eingeführten Disease-Management-Programmen für Diabetes Typ 1 und 2, KHK, COPD, Asthma bronchiale und Brustkrebs ruhen große Hoffnungen der Krankenkassen. Finanziert durch eine Zuweisung ("Programmkostenpauschale") aus dem Gesundheitsfonds von 180 Euro je Einschreibung und Jahr, verzeichneten alle Kassen Anfang 2010 rund 5,5 Millionen eingeschriebene Patienten.

Zwischenzeitlich liegen ergiebige Evaluationsergebnisse vor, und die Ergebnisse der großangelegten Studien (ELSID, KORA, Auswertungen der AOK u. a.) lassen sich in aller Kürze so zusammenfassen:

  • Grundsätzlich verbesserten sich ärztliche Betreuung, die Medikation und auch das Verhalten der Teilnehmer (körperliche Aktivität, Raucheranteil, Selbstkontrolle, Arzneimittel-Compliance) signifikant. Die Teilnehmer selbst beurteilten die Qualität der Versorgung ebenfalls als besser.

  • Auf der Ergebnisseite ist die Verbesserung "harter" Parameter wie der Blutdruck in den Diabetikerprogrammen (Senkung um durchschnittlich etwa 4 mmHg systolisch und 2 mmHg diastolisch) oder bei den Blutfettwerten (vor allem deutliche Senkung des Patientenanteils mit stark erhöhten Werten) zu konstatieren. Die Sterberate war in den betrachteten DMP-Programmen signifikant erniedrigt (11,3% gegenüber 14,4% im Dreijahres-Beobachtungszeitraum).

  • Beachtlich ist die Senkung von Begleiterkrankungen insbesondere bei Diabetes. So konnte das Vorkommen des diabetischen Fußes im Verlaufe von 3,5 Jahren um mehr als die Hälfte gesenkt werden, Nephropathien um rund 40%.

Alles in allem lässt sich aus heutiger Sicht ein positives Resümee ziehen. Eine gesundheitsökonomische Gesamtbewertung steht indes noch aus. So sind zum einen reine Programmkosten (zusätzlich zu den Behandlungskosten) von rund 1 Mrd. Euro zu verzeichnen, eine intensivere Therapie kostet mehr, durch bessere Vernetzung und Vermeidung von Folgekosten lässt sich wiederum sparen. Allerdings: "Aufgeschoben ist nicht aufgehoben" – dieser Effekt ist durchaus zu beachten. Vielfach dürften sich die gesundheitlichen Probleme nur in die Zukunft verschieben, da zugrundeliegende Krankheiten wie Diabetes ja nicht kausal geheilt werden können. Ob demzufolge die "lifetime costs" der Patienten sinken, ist noch nicht entschieden. Lebensqualität lässt sich jedoch offenkundig gewinnen – hier und heute, auch ein Erfolg.

Postulierter Ärztemangel nur vorgeschoben?

Eine umfassende Versorgungsanalyse schließt die Betrachtung der ambulanten haus- und fachärztlichen Versorgungssituation mit ein und fördert hier interessante Erkenntnisse zutage (Auswertestand 2009):

  • Die Zahl der Ärzte hat in Deutschland kontinuierlich zugenommen, auch noch in den letzten Jahren. Waren 1991 noch 308 berufstätige Ärzte je 100.000 Einwohner tätig, waren es 2008 bereits 383.

  • Bei den Hausärzten findet sich in insgesamt 395 Planungsbezirken gemäß der bisherigen Bedarfsplanungsrichtlinie (die im Zuge des in Arbeit befindlichen, neuen Versorgungsgesetzes vor der Ablösung stehen dürfte) nur in einem Bezirk ein Versorgungsgrad unter 75%, in 21 Planungsbereichen ist ein gewisser Mangel (Versorgungsgrad 75% bis 90%) zu konstatieren. In 185 Bezirken findet sich hingegen ein Versorgungsgrad von 110% bis 150%, also eine reichliche Zahl an Ärzten. Bundesweit gemittelt liegt die Quote bei 108%, verglichen mit den Fachärzten am unteren Rand, absolut aber immer noch auskömmlich.

  • Auch bei den Fachärzten sind es nur einzelne Regionen, in denen ein echter Arztmangel manifest wird, oft in den neuen Bundesländern. Hingegen ist in der großen Mehrzahl ein Versorgungsgrad deutlich über 100% festzustellen. Bundesweit gemittelt ergeben sich Werte von gut 120% bis im Extremfall fast 200% (fachärztliche Internisten).

Der Schluss aus der Analyse: Die Ärzteversorgung ist durch Allokationsprobleme gekennzeichnet. Es gibt nicht zu wenige Ärzte, eher zu viele – aber diese sind schlecht verteilt.

Man kann ergänzen: Die Ärzte verstehen es geschickt, sich rar zu machen und ihre Leistung nicht unter Wert zu verkaufen. Die zahlreichen Praxisferien gerne zu Quartalsende sind ebenfalls ein Indiz dafür.

Tatsache ist allerdings auch, dass in den kommenden Jahren demografiebedingt mehr Ärzte ausscheiden werden als in den Jahren zuvor.

Nachdenkenswertes zum Schluss

Für manchen überraschend werden einige Daten zu Inzidenzen (= dem Neuauftreten bestimmter Krankheiten in einer Bevölkerungsgruppe im Beobachtungszeitraum, meist ein Jahr) und Prävalenzen (= dem Vorkommen der Krankheit in der betrachteten Population) gängiger Massenleiden sein, im Vergleich zum allgemeinen Sterberisiko (Tab.).


Tab.: Anhaltswerte für das Erkrankungsrisiko (Inzidenz) bzw. das Vorkommen der jeweiligen Erkrankung (Prävalenz) in Abhängigkeit des Alters. Gerundete und teilweise altersklassengerecht zusammengefasste Werte
(nach Daten von: Versorgungsreport 2011, Robert-Koch-Institut, Statistisches Bundesamt)
70 – 74
75 – 79
80 – 84
>=85
Risiko für einen ersten Schlaganfall
pro Jahr, ca.
0,7%
1,1%
1,4%
um 2%
Prävalenz für KHK
… männlich
… weiblich

24%
16%

31%
22%

36%
27%

ca. 35%
ca. 30%
Prävalenz für Herzinsuffizienz
… männlich
… weiblich

11%
9,5%

16%
16%

22%
23%

um 35%
um 35%
Erkrankungsrisiko an
Krebs pro Jahr
… männlich
… weiblich
2,4%
1,2%

2,7%
1,4%

2,6%
1,5%

2,3%
1,4%
Allgemeines, jährliches Sterberisiko
… männlich
(im Alter von)
… weiblich
(im Alter von)


2,4%
(70)
1,2%
(70)


4,1%
(75)
2,3%
(75)


6,8%
(80)
4,4%
(80)


11,3%
(85)
8,6%
(85)

Das Megathema Krebs lässt sich anhand der untenstehenden Zahlen noch weiter umreißen (nach Daten des Robert-Koch-Institutes):

Das Lebenszeitrisiko, an Krebs zu erkranken, beträgt bei Männern etwa 47%, bei Frauen 38%. Die Wahrscheinlichkeit, einmal an Krebs zu sterben, 26% (m) bzw. 20% (w).

Im Alter von 70 beträgt das Risiko, in den nächsten 10 Jahren zu erkranken, rund 25% für die Männer und knapp 14% für Frauen. 11% resp. knapp 7% werden daran versterben.

Angesichts der momentanen therapeutischen Situation lauert hier eine der größten gesundheitsökonomischen Herausforderungen.

Obige Zahlen illustrieren zudem den Spruch: "Altwerden ist nichts für Feiglinge"


Zum Nachlesen


  • Günster, Christian; Klose, Joachim; Schmacke, Norbert (Hrsg.): Versorgungs-Report 2011 Schwerpunkt: Chronische Erkrankungen Verlag Schattauer GmbH, Stuttgart (2011), ISBN: 978-3-7945-2803-5 (44,95 €)
  • Daten zu Krankheiten, Inzidenzen, Prävalenzen: Robert-Koch-Institut Berlin, unter www.rki.de

Verfasser: Apotheker Dr. Reinhard Herzog, Philosophenweg 81, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de



AZ 2011, Nr. 40, S. 6

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