Pharmakologie

Paracetamol: Ab wie viel Tabletten wird’s gefährlich?

Paracetamolüberdosierungen gehören in Deutschland zu den häufigsten Medikamentenintoxikationen. Dabei treten in den ersten Stunden häufig nur unspezifische gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit und Erbrechen auf. Im späteren Verlauf – teilweise erst nach Tagen – folgen dann die typischen Zeichen einer Leberschädigung. Je nach Vergiftungsschwere kommt es dabei zum Beispiel zu Blutungsneigungen, Ikterus und Bewusstseinsstörungen bis hin zum hepatischen Koma. Wichtig ist bei solchen Überdosierungen insbesondere die Frage, wie viele Tabletten genau geschluckt wurden. Mit dieser Information lässt sich dann oft schon einschätzen, ob tatsächlich ein Arzt erforderlich ist oder Entwarnung geben werden kann.
Ein Notarzteinsatz ist zwar nicht notwendig, trotzdem sollte bei einer Paracet­amolüberdosierung immer eine Abklärung im Krankenhaus stattfinden. Nach den ersten Symptome kann es zu einer Besserung des subjektiven Befindens kommen. Aber eine Überdosierung kann zu Leberzellnekrosen führen, die klinischen Symptome der Leberschäden werden oft erst nach zwei Tagen sichtbar. Daher sollte bereits bei einem Verdacht auf Intoxikation mit Paracetamol in den ersten zehn Stunden die intravenöse Gabe von SH-Gruppen-Donatoren wie z. B. N-Acetyl-Cystein eingeleitet werden.
Foto: AOK Mediendienst

Gefährlich sind zu hohe Paracetamoldosen vor allem für die Leber, wo ein Großteil des Wirkstoffes verstoffwechselt wird. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Entgiftungsmolekül Glutathion, das in der Leber normalerweise für eine zuverlässige Entsorgung toxischer Paracetamolmetabolite sorgt. Bei zu hohen Paracetamolgaben sind die schützenden Glutathionvorräte jedoch schnell aufgebraucht. Die giftigen Abbauprodukte werden nicht mehr beseitigt und es droht eine massive Schädigung der Leberzellen bis hin zum vollständigen Leberversagen.

Hustenmittel als Antidot

Wenn bei einer Paracetamolintoxikation rechtzeitig ein Gegenmittel verabreicht wird, lassen sich die gefürchteten Leberschäden mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit verhindern. Standardmedikament ist N-Acetylcystein (ACC), das als Mukolytikum weit verbreitet ist und die Regeneration von Glutathion fördert, das wiederum eine wichtige Rolle bei der Entsorgung von giftigen Paracetamolmetaboliten spielt. Wichtig ist bei der Therapie einer Paracetamolüberdosierung allerdings, dass nicht die üblichen Dosierungen einer mukolytischen Behandlung zum Einsatz kommen, sondern deutlich höhere Mengen N-Acetylcystein.

Nicht jede vermeintlich zu hohe Paracetamoleinnahme stellt jedoch eine Gefahr dar. Ab wie viel Tabletten es tatsächlich gefährlich wird und ein Krankenhausaufenthalt erforderlich ist, hängt stark von den jeweiligen Vorerkrankungen der Betroffenen ab. Bei ansonsten gesunden Erwachsenen ohne Risikofaktoren wird eine Krankenhauseinweisung hierzulande zum Beispiel ab 150 mg Paracetamol pro kg Körpergewicht empfohlen. Darauf haben sich die Giftinformationszentren in Deutschland nach Angaben von Prof. Dr. Sacha Weilemann geeinigt, der den Giftnotruf in Mainz leitet. Anders herum gilt: Wenn es sicher ist, dass ein gesunder Erwachsener ohne Risikofaktoren nur 140 mg Paracetamol pro kg Körpergewicht eingenommen hat, braucht kein Krankenhausaufenthalt zu erfolgen, wie der Toxikologe erläutert. "Die Betroffenen können in einem solchen Fall zu Hause bleiben."

Vorsicht bei Schwangerschaft und Alkoholabusus

Deutlich niedrigere Grenzwerte gelten dagegen für Betroffene, bei denen ein chronischer Alkoholabusus oder eine Schwangerschaft vorliegt. Ebenso bei Menschen, die längere Hungerperioden wie bei einer Magersucht aufweisen oder Cytochrom-P450-induzierende Medikamente einnehmen, wodurch sich die Toxizität von Paracetamol erhöhen kann. Betroffen sind zum Beispiel Wirkstoffe wie das Antiepileptikum Carbamazepin oder das Antibiotikum Rifampicin. Die Grenze wird dann nach Hinweisen von Weilemann auf 100 mg/kg Körpergewicht oder 4 g Paracetamol pro Tag abgesenkt, je nachdem was eher erreicht ist.

Bedenken sollte man dabei allerdings, dass sich nicht immer einfach klären lässt, ob die niedrigere oder die höhere Grenze anzuwenden ist. Zum Beispiel ist nicht eindeutig definiert, ab welcher Fastendauer exakt die Absenkung der Schwelle auf 100 mg/kg Körpergewicht gerechtfertigt ist oder ab wann ein chronischer Alkoholabusus vorliegt. Zudem ist man in vielen Fällen auf die Aussagen der Betroffenen angewiesen, die oft nicht sehr zuverlässig ist. "In Zweifelsfällen sollte man daher beim Verdacht auf eventuell vorhandene Risikofaktoren auf Nummer Sicher gehen und lieber einmal zu oft die niedrigere Schwelle ansetzen", betont Weilemann.

Welche Grenzwerte bei Kindern?

Keine einheitlichen Grenzwerte existieren in Deutschland bislang für Paracetamolüberdosierungen im Kindesalter, bei denen es sich im Gegensatz zum Erwachsenenalter meist nicht um Suizidversuche handelt, sondern um versehentliche Überdosierungen oder um Einnahmen, bei denen Kinder unbeaufsichtigt an Medikamente gelangt sind. Während einige Giftinformationszentren für Kinder als Grenze den Erwachsenenwert von 150 mg/kg Körpergewicht empfehlen, sind die meisten Zentren hierzulande nach Hinweisen von Weilemann etwas strenger und setzen bereits 100 mg/kg Körpergewicht als Grenzwert an. Berücksichtigen sollte man dabei auch, dass bislang nicht einheitlich geklärt ist, ab welchem Alter ein Betroffener als Erwachsener gilt bzw. bis zu welchem Lebensalter noch die Grenzwerte für Kinder anzuwenden sind. "Meist wird von den Giftinformationszentren ein Alter von 14 Jahren als Grenze angesehen", so Weilemann, der allerdings darauf hinweist, dass es bislang keine Studie gibt, aus der sich diese Grenze exakt ableiten lässt. Vielmehr handele es sich um eine Grauzone, bei der noch Diskussionsbedarf bestehe.

Abweichende Grenzwerte existieren zudem für Vergiftungsfälle, bei denen nicht nur einmalig zu hohe Dosierungen zum Einsatz gekommen sind, sondern Betroffene über mehrere Tage immer wieder zu viel Paracetamol eingenommen haben. Für solche Fälle haben sich die Giftinformationszentren in Deutschland nach Angaben von Weilemann auf dieselben Grenzwerte wie in den USA und Australien geeinigt. Hat sich die Paracetamoleinnahme zum Beispiel über eine Gesamtdauer von 24 Stunden erstreckt, gilt in den dortigen Empfehlungen für Erwachsene ein Tagesgrenzwert von 10 g bzw. von 200 mg/kg Körpergewicht, je nachdem was zuerst erreicht ist. Bei einer Einnahme über zwei Tage beträgt die Schwelle dann pro 24-Stunden-Zeitraum 150 mg/kg Körpergewicht bzw. 6 g. Für Kinder gilt als Grenzwert: 200 mg/kg Körpergewicht, wenn sich die Einnahme über 24 Stunden ausgedehnt hat. Bei einem Einnahmezeitraum von zwei Tagen sind es 150 mg/kg Körpergewicht pro 24 Stundenintervall und bei drei Tagen 100 mg/kg Körpergewicht pro 24-Stunden-Zeitraum.

Erste Hilfe bei Paracetamolüberdosierungen

Betroffene wirklich erbrechen lassen?


Immer wieder taucht bei Vergiftungen die Frage auf, ob man Betroffene im Notfall erbrechen lassen soll, ehe das Gift über den Darm in den Blutkreislauf aufgenommen wird. Allerdings empfehlen Experten die Induktion von Erbrechen heute nur noch bei ganz wenigen, extrem giftigen Substanzen, zu denen Paracetamol nach Hinweisen von Prof. Dr. Sacha Weilemann vom Mainzer Giftnotruf definitiv nicht gehört. Als Argument wird dabei zum Beispiel angeführt, dass die eventuellen Komplikationen beim Erbrechen – wie etwa eine Aspiration – als deutlich gefährlicher anzusehen sind, als die Paracetamolintoxikation selbst, wenn rechtzeitig eine Therapie mit Acetylcystein erfolgt.

Kohle als hilfreiche Erstmaßnahme

Sinnvoll kann bei einer toxischen Paracetamoldosis dagegen die Gabe von Kohle sein, womit sich die Resorption des Wirkstoffes in einigen Fällen verhindern oder zumindest verringern lässt. Innerhalb welcher Zeitspanne eine solche Kohlegabe hilfreich und empfehlenswert ist, wird jedoch nicht überall gleich beantwortet. Oft werden ein oder zwei Stunden als Maximum angesehen, wobei die Kohlegabe vielerorts oft nur als Vorschlag erwähnt wird und nicht als absolut unumstößliches Therapieprinzip.

Als Dosierung kommt für Kohle, die als Aufschwemmung getrunken wird, zum Beispiel 0,5 bis 1 g pro kg Körpergewicht in Frage. Wobei die daraus resultierenden Kohlemengen, die aufgenommen werden müssten, nicht zu unterschätzen sind und von den Betroffenen teilweise nur schwer bewältigt werden. Aus pragmatischen Gründen kommen deshalb in der Praxis oft nur 0,5 g Kohle pro kg Körpergewicht zum Einsatz, wie Weilemann ergänzt.

Antiemetika gegen Übelkeit

Sinnvoll können auch Antiemetika wie Metoclopramid sein, da Übelkeit bei Paracetamolintoxikationen eine häufige Begleiterscheinung darstellt. Je nach Situation kann dies als orale Gabe versucht werden, wobei im Falle von gleichzeitigem Erbrechen gegebenenfalls eine intravenöse Verabreichung besser geeignet ist, um eine zuverlässigere Wirkung zu erzielen. Darüber hinaus gibt es bei einer Paracetamolüberdosierung nach Angaben von Weilemann nichts, was als weitere Erstmaßnahme außerhalb des Krankenhauses zu empfehlen wäre.

Warum haben andere Länder andere Grenzwerte?

Obwohl überall auf der Welt mehr oder weniger dieselben Studien zu Paracetamolvergiftungen verfügbar sein dürften, unterscheiden sich die Empfehlungen zu Paracetamolüberdosierungen von Land zu Land teilweise deutlich. Während zum Beispiel in Großbritannien und Deutschland Dosierungen ab 150 mg pro kg Körpergewicht bei gesunden Erwachsenen ohne Risikofaktoren als potenziell gefährlich angesehen werden, empfiehlt in den USA die American Association of Poison Control Centers eine Einweisung in die Notfallambulanz erst ab 200 mg pro kg Körpergewicht bzw. einer Gesamtdosis von 10 g, je nachdem welcher Wert früher erreicht ist. Zudem sollen dort alle Fälle, bei denen sich eine Selbstschädigung vermuten lässt, in die Notfallambulanz eingewiesen werden, unabhängig wie viel Paracetamol geschluckt wurde. In der Schweiz wird dagegen ab 7,5 g davon ausgegangen, dass es zu einer Leberschädigung kommen kann, bzw. dass bei niedrigeren Dosierungen keine relevante Vergiftung vorliegt, wenn es sich um eine einmalige Einnahme bei gesunden Erwachsenen ohne Risikofaktoren handelt. Warum in einigen Ländern höhere und in anderen Ländern niedrigere Grenzwerte verwendet werden, beruht nach Einschätzung verschiedener Experten in erster Linie nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Vielmehr werden finanzielle Gründe angeführt, da bei höheren Grenzwerten weniger Menschen in ein Krankenhaus aufgenommen werden müssen, wodurch sich Kosten für den stationären Aufenthalt sparen lassen.


weiterführende Literatur

Wallace, C I; Dargan, P I; Jones A L: Paracetamol overdose: an evidence based flowchart to guide management, Emerg. Med. J. 2002; 19: 202 – 205.

Dart et al.: Acetaminophen Poisoning: an Evidence-Based Consensus Guideline for Out-of-Hospital Management, Clin.Toxicol. 2006; 44: 1–18.


Anschrift des Verfassers

Dr. med. Karl Eberius

freier Medizinjournalist, Texter

Steingasse 9a,

79639 Grenzach

www.medizinjournalist.com
Nachgefragt

Was sind die häufigsten Fehler bei Paracetamolvergiftungen?

Wie schnell müssen Betroffene bei einer Paracetamolüberdosierung in die Klinik gebracht werden? Reicht die Fahrt mit dem Privat-PKW oder ist ein Notarzteinsatz mit Blaulicht erforderlich? Worauf es im Notfall ankommt und ob eine Rezeptpflicht für Paracetamolpackungen über 10 g tatsächlich sinnvoll ist, beantwortet im Interview Prof. Dr. med. Sacha Weilemann, der den Giftnotruf in Mainz leitet.

DAZ Herr Professor Weilemann, was ist bei einer Paracetamolüberdosierung der häufigste Fehler?

Weilemann: Es gibt zwei klassische Fehler. Erstens die zu späte Einweisung ins Krankenhaus. Vielen Betroffenen geht es in den ersten Stunden ja noch gut, weshalb oft der Eindruck entsteht, dass es schon nicht so schlimm sein wird und eine Therapie im Krankenhaus nicht erforderlich ist. Doch die Leberschädigung tritt bei einer Paracetamolvergiftung erst mit einer zeitlichen Verzögerung von mehreren Stunden auf, unabhängig davon, wie es den Betroffenen initial geht. Um solche Schäden zu verhindern, ist daher bei einer Paracetamolüberdosierung eine umgehende Krankenhauseinweisung bzw. Therapie mit Acetylcystein erforderlich. Der zweite Fehler, der sich immer wieder bei Paracetamolüberdosierungen beobachten lässt, ist, dass man mit der Acetylcysteingabe erst beginnt, wenn die Leberwerte ansteigen, also die Leberschädigung schon in vollem Gange ist. Doch bei der Acetylcystein-therapie handelt es sich um eine prophylaktische Behandlung, die vor dem Einsetzen der Leberschädigung und dem damit verbundenen Anstieg der Leberwerte durchzuführen ist.

Suizidversuche mit Paracetamol

Ein Großteil der Paracetamolüberdosierungen erfolgt hierzulande in suizidaler Absicht. Für das Jahr 2006 nennen die Gesellschaft für Klinische Toxikologie und die deutschen Giftinformationszentren zum Beispiel einen Prozentsatz von 63%, bei denen ein Suizidversuch dahinter steckte. Grundlage dieser Berechnung waren 4184 Beratungen der deutschen Giftinformationszentren zu Paracetamolvergiftungen bzw. entsprechenden Verdachtsfällen.

Noch deutlich höher fällt der Prozentsatz aus, wenn man sich nur die Paracetamolintoxikationen im Jugend- und Erwachsenenalter anschaut. Nach Einschätzung von Weilemann handelt es sich in diesem Alter praktisch immer um Suizidversuche. Bei Kindern liegen dagegen meist versehentliche Überdosierungen vor, "zum Beispiel wenn ein Paracetamolzäpfchen gegeben wird und dann noch eins und noch eins", wie der Toxikologe erläutert.


DAZ Wie schnell müssen Betroffene bei einer Paracetamolintoxikation in die Klinik gebracht werden? Ist ein Notarzteinsatz mit Blaulicht erforderlich?

Weilemann: Nein. Bei einer Paracetamolüberdosierung reicht ein normaler Krankenwagen aus, da es sich nicht um eine akut vital bedrohliche Angelegenheit handelt, bei der zum Beispiel ein Atemstillstand wie bei einer Opioidintoxikation zu erwarten ist. Für einen Notarzteinsatz mit Sondersignal würde ich daher die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht gewahrt sehen. Anders kann es allerdings bei Mischintoxikationen aussehen, wenn weitere Substanzen eingenommen wurden, die akut lebensbedrohlich sind.

DAZ Wäre ein Notarzteinsatz aber eventuell gerechtfertigt, wenn die Paracetamolintoxikation schon mehr als zehn Stunden zurückliegt und man daher davon ausgehen muss, dass bereits eine Leberschädigung im Gange ist?

Weilemann: Zwar zeigen Studien, dass die Gefahr einer Leberschädigung umso geringer ist, je früher mit der Acetylcysteingabe begonnen wird, allerdings kommt es dabei nicht auf jede Sekunde an, weshalb ich auch in einem solchen Fall einen Notarzteinsatz mit Blaulicht nicht als gerechtfertig ansehen würde, nur um vielleicht fünf Minuten Fahrzeit zu sparen.

DAZ Kann man Betroffene auch mit ihrem eigenen PKW selbst in die Klinik fahren lassen?

Weilemann: Paracetamolintoxikationen machen zwar in den ersten 24 Stunden keine zentralen Störungen, dennoch sollten sich Betroffene nicht mehr selbst ans Steuer setzen, unter anderem weil es unterwegs zu Übelkeit und Erbrechen kommen kann, was bei einer Paracetamolüberdosierung eine häufige Begleiterscheinung ist.

d Nach den US-amerikanischen Leitlinien kann bei einer Paracetamolüberdosierung auf eine Abklärung im Krankenhaus verzichtet werden, wenn seit der Paracetamoleinnahme 36 Stunden vergangen sind und bis dahin keine Symptome aufgetreten sind. Gilt diese Empfehlung auch für Deutschland?

Weilemann: Da wäre ich vorsichtiger. Bei meiner Tätigkeit im intensivmedizinischen Bereich habe ich einige Fälle erlebt, in denen auch nach einer so langen Zeitspanne plötzlich Probleme aufgetreten sind. Daher würde ich nach 36 Stunden keine pauschale Entwarnung geben.

DAZ Bei Vergiftungen wird immer wieder die Magenspülung ins Gespräch gebracht. Welche Rolle spielt diese Maßnahme bei einer Paracetamolüberdosierung?

Weilemann: Eine Magenspülung ist bei einer Paracetamolüberdosierung in 99,9% der Fälle nicht indiziert. Grundsätzlich kommt eine Magenspülung auch nur bei einigen sehr, sehr seltenen Vergiftungen in Frage. Und zwar dann, wenn man bei einem extrem gefährlichen Gift um jeden Preis versuchen möchte, auch kleine Giftreste noch zu eliminieren. Ansonsten steht der Benefit des Eingriffs nicht im Verhältnis zu dessen Risiko wie etwa einer Aspiration. Zudem sind Magenspülungen normalerweise nur in der ersten Stunde sinnvoll, da das Gift den Magen zu einem späteren Zeitpunkt meist schon passiert hat. Gerade bei Paracetamolüberdosierungen, die mehrheitlich in suizidaler Absicht erfolgen, fällt die Einnahme aber oft erst deutlich später auf bzw. Betroffene wenden sich häufig erst nach mehreren Stunden hilfesuchend an ihr Umfeld, sodass eine Magenspülung sowieso nicht mehr in Frage kommt. Leider wird die Magenspülung bei vielen Vergiftungen aber immer noch von vielen Ärzten fälschlicherweise als Goldstandard angesehen.

DAZ Stellt Acetylcystein bei einer Paracetamolüberdosierung einen absoluten Schutz vor dem gefürchteten Leberversagen dar?

Weilemann: Große Studien zeigen, dass sich schwere Leberschädigungen mit einer rechtzeitigen Acetylcysteintherapie in über 99% der Fälle verhindern lassen. In einer großen dänischen Studie betrug die Mortalitätsrate zum Beispiel weniger als 0,5%, wenn Acetylcystein innerhalb von zwölf Stunden nach der Paracetamolintoxikation gegeben wurde. Bei einer Latenz von zwölf bis 24 Stunden betrug die Mortalitätsrate bereits 6,1% und bei über 24 Stunden 13%. Nach über 48 Stunden waren es dann sogar 19%.

Die Empfehlung lautet daher, die Therapie mit Acetylcystein innerhalb von acht Stunden nach der Paracetamolüberdosierung zu beginnen, solange die Verstoffwechselung des Paracetamols mit einer hohen Wahrscheinlichkeit noch nicht abgeschlossen ist. Je länger darüber hinaus gewartet wird, desto höher ist das Risiko für eine Leberschädigung. Allerdings heißt das nicht, dass nach zwölf Stunden keine Acetylcysteintherapie mehr eingeleitet werden sollte. Im Gegenteil, auch danach kann Acetylcystein die Leberschädigung in vielen Fällen zumindest noch reduzieren.

DAZ Paracetamolpackungen sollen in Deutschland bald nur noch in einer Größe von bis zu 10 g rezeptfrei erhältlich sein. Ist das eine sinnvolle Maßnahme, um Paracetamolintoxikationen zu verhindern?

Weilemann: Vielleicht wird man damit tatsächlich den einen oder anderen Vergiftungsfall verhindern können, wenn Paracetamol zum Beispiel bei einem Suizidversuch eher zufällig aus dem Medikamentenschrank herausgegriffen wird. Aber man sollte jetzt auf keinen Fall so tun, als hätte man mit der Reduktion der Packungsgröße das Problem gelöst. Jemand der vorhat sich gezielt mit Paracetamol zu schädigen, wird sich in der ersten Apotheke eine Packung besorgen und in der nächsten Apotheke eine weitere. Solche Fälle lassen sich mit einer Verkleinerung der ohne Rezept erhältlichen Packungen jedenfalls nicht verhindern. Ich sehe die Reduktion der Packungsgröße daher insgesamt sehr nüchtern. Dabei sollte man auch bedenken, dass die Wahl des Medikaments bei Suizidversuchen in den letzten zehn bis 20 Jahren immer wieder einen Wandel durchgemacht hat. Früher wurden für die Suizidversuche zum Beispiel häufig Barbiturate verwendet. Dann spielten andere Schlafmittel eine Rolle und mittlerweile wird oft zu Neuroleptika, Benzodiazepinen oder trizyklischen Antidepressiva gegriffen. In ein oder zwei Jahren sind es dann vielleicht die SSRI. Da wird es immer wieder einen Wechsel geben. Eine Verschreibungspflicht für größere Paracetamolpackungen wird dieses Problem also nicht grundsätzlich lösen können.

Andere Länder, in denen für Paracetamol bereits kleinere Packungsgrößen üblich sind, haben mit Paracetamolüberdosierungen übrigens relativ ähnliche Probleme wie wir, woran sich erkennen lässt, dass die geplante Verkleinerung der Packungsgröße – wenn überhaupt – nur ein ganz kleiner Baustein in der Suizidverhinderung sein kann.

DAZ Herr Professor Weilemann, vielen Dank für das Gespräch!

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