Arzneimittel und Therapie

Folsäure präventiv einnehmen

Seit 1994 wird Frauen mit Kinderwunsch die tägliche Einnahme von Folsäure zur Prävention von Neuralrohrdefekten empfohlen. Doch lediglich der Hälfte der Frauen im gebärfähigen Alter ist die Bedeutung der Folsäure überhaupt bekannt. Die Akzeptanz der Empfehlung ist gering, die Prävalenz der Neuralrohrdefekte in den letzten zehn Jahren kaum rückläufig. Aufklärung durch den Apotheker tut Not. Zumal aktuelle Studien zeigen, dass die Einnahme von 400 µg zu wenig sein kann. Und dass sich mit adäquater Folsäuresubstitution nicht nur Neuralrohrdefekten, sondern auch anderen Fehlbildungen vorbeugen lässt.

Noch immer kommen in Deutschland Jahr für Jahr 500 bis 800 Kinder mit Spina bifida, einem offenen Rücken, zur Welt. 500 Schwangerschaften werden aufgrund der Diagnose Neuralrohrdefekt (siehe Kasten) abgebrochen. Die Einnahme von Folsäure, die zur Gruppe der B-Vitamine gehört, reduziert dieses Risiko nachweislich. Da sich das Neuralrohr zu einem Zeitpunkt verschließt, an dem die Frauen von ihrer Schwangerschaft noch gar nichts wissen können, muss vorgesorgt werden. Wer die Pille absetzt mit dem Ziel schwanger zu werden, sollte deshalb konsequenterweise mit der täglichen Einnahme von Folsäure beginnen.

Ein Mangel an Folsäure, die unter anderem für die Nukleinsäuresynthese erforderlich ist, ist während der Schwangerschaft gleich in mehrfacher Hinsicht riskant. So steigt das Risiko für Plazentaablösungen, niedriges Geburtsgewicht und Fehl- und Frühgeburten. Aber auch das Risiko von Fehlbildungen wie Neuralrohrdefekten, etwa Spina bifida (offener Rücken) und Anenzephalus (Fehlen des Schädeldaches, "Froschkopf"), und Missbildungen am Harnwegstrakt und am Herzen steigt. Und: Da Folsäure für den Abbau von Homocystein zu Methionin notwendig ist, lässt Folsäuremangel die Serumspiegel von Homocystein ansteigen. Homocystein wurde als neurotoxische Substanz identifiziert, die ebenfalls mit dem Risiko von Neuralrohrdefekten in Verbindung gebracht wird. So zeigten Frauen, deren Kinder einen Neuralrohrdefekt hatten, häufig Anomalien im Homocysteinstoffwechsel.

Prävention in kürzerer Zeit mit 800 µg Folsäure

Bereits vor zehn Jahren empfahl deshalb die Deutsche Gesellschaft für Ernährung gemeinsam mit anderen Fachgesellschaften, dass alle Frauen mit Kinderwunsch spätestens vier Wochen vor der Empfängnis pro Tag zusätzlich 400 µg Folsäure aufnehmen sollten. Doch nur ein Bruchteil der Frauen nimmt Folsäure präventiv ein. Entsprechend ging die Zahl der Neuralrohrdefekte in den letzten Jahren europaweit, außer in England, kaum zurück. Zudem zeigen aktuelle Studien, dass die Empfehlung möglicherweise zu kurz greift. So wird mit 400 µg Folsäure im Mittel erst nach drei Monaten der präventiv wirksame Erythrozytenfolatspiegel von 906 nmol/l erreicht. Modellrechnungen zufolge wäre dies mit täglich 800 µg bereits innerhalb eines Monats möglich. Ältere Frauen benötigen zudem höhere Folsäuremengen um die geforderten hohen Spiegel zu erreichen.

Profit durch zusätzliche B-Vitamine

Eher zufällig zeigte sich schon 1994 der hohe Nutzen eines Multivitaminpräparats, das neben 800 µg Folsäure die B-Vitamine B2, B6 und B12 sowie Spurenelemente enthielt. Es wurde von Czeizel et al. 1994 im Rahmen eines ungarischen Familienplanungsprogramms in einer randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudie mit insgesamt 5502 Frauen untersucht. Das Präparat wurde mindestens einen Monat vor Beginn der Schwangerschaft sowie zwei Monate danach eingenommen. Während in der Verum-Gruppe kein einziger Neuralrohrdefekt auftrat, waren es unter Placebo sechs. Eine hochsignifikante Reduktion. Besonders interessant war, dass auch Fehlbildungen am Urogenitaltrakt und am Herzen seltener waren. In einer aktuellen Neuauflage der Studie aus dem Jahre 2004 mit mehr als 6000 Frauen konnte die hohe Risikoreduktion von Neuralrohrdefekten (Spina bifida: 8 versus 0) bestätigt werden. Eindrucksvoll war aber auch der positive Einfluss auf angeborene Herzfehler und bestimmte Fehlbildungen des Urogenitaltrakts. So waren Ventrikelseptumdefekte (Löcher in der Herzscheidewand) und Verengungen zwischen Nierenbecken und Ureter (19 versus 5; 13 versus 2) deutlich seltener. Das gilt als besonders wichtig, da derartige Fehlbildungen weit häufiger vorkommen als Neuralrohrdefekte. So machen Fehlbildungen im Urogenitalbereich 33%, am Herzen 25% der Fehlbildungen bei lebend geborenen Kindern aus. Fehlbildungen im ZNS stehen mit 13% an dritter Stelle. Erklärt wird der günstige Effekt des Multivitaminpräparats nicht nur mit der hochdosierten Folsäure, sondern auch durch die zusätzlichen B-Vitamine, die ebenfalls am Homocysteinstoffwechsel beteiligt sind.

Vom ersten Kinderwunsch und bis zum Ende der Stillzeit

Auf der Basis dieser Studienergebnisse wird am 15. September 2005 mit Femibion® 800 Folsäure Plus ein OTC-Präparat eingeführt, das pro Kapsel neben 800 µg Folsäure zehn weitere Vitamine, insbesondere alle B-Vitamine, und 200 µg Jod enthält. Es wird zur Einnahme bei bestehendem Kinderwunsch bis zum Ende des zwölften Schwangerschaftsmonats empfohlen. Femibion® 400 Folsäure Plus, das bereits auf dem Markt ist, kann dann zur Deckung des Mehrbedarfs an Vitaminen bis zum Ende der 24. Schwangerschaftswoche eingenommen werden. Bis zum Ende der Stillzeit empfiehlt sich Femibion® 400 Folsäure Plus + DHA (Docosahexaensäure), die für die Entwicklung des kindlichen Gehirns und die Sehschärfe günstig ist.

Apothekerin Dr. Beate Fessler

 

Quelle
Prof. Dr. Klaus Pietrzik, Bonn; Priv.-Doz. Dr. Kai J. Bühling, Berlin; Dr. Andreas Jantke, Berlin: Fachpressegespräch
„Erhöhte Folsäure-Zufuhr zum Schutz des werdenden Lebens - Damit bei Kinderwunsch aus Sorge Fürsorge wird“, München, 31. August 2005, veranstaltet von der Merck Selbstmedikation GmbH, Darmstadt.
Czeizel, A. E.; Dudás, I.; Métneki, J.: Preg- nancy outcomes in a randomised control- led trial of periconceptional multivitamin supplementation. Final report. Arch Gy- necol Obstet 255, 131 – 139 (1994).
Czeizel, A. E.; et al.: Birth Defects Res (Part A), Clin Mol Teratol 70, 853 –  861 (2004).

 

Neuralrohrdefekt – eine folgenschwere 

Neuralrohrdefekte gehören mit einer Inzidenz von1 bis 2 pro 1000 lebend geborener Kinder noch immer zu den häufigsten Fehlbildungen. In Deutschland nehmen sie in der Häufigkeit der Fehlbildungen den dritten Platz ein. Das Neuralrohr, die Vorstufe des Rückenmarks, wird in der embryonalen Entwicklung zwischen der fünften und sechsten Schwangerschaftswoche verschlossen. Bleibt dieser Verschluss aus, können Fehlbildungen sehr unterschiedlicher Ausprägung folgen. Sie reichen von einer kleinen Grube im Be- reich der Lendenwirbelsäule bis zum Hervortreten der Rückenmarkhäute oder des Nervenstranges. Entsprechend vielfältig ist das klinische Bild: Es reicht von völlig asymptomatischen Befunden über Sensibilitätsstörungen, Skoliose, Extremitätenfehlstellungen, Inkontinenz bis hin zur Ausbildung einer Paraplegie.

 

Die Pathophysiologie ist multi- faktoriell. So werden neben dem Folsäuremangel Genmutationen ebenso ins Feld geführt wie Diabetes, Alkoholabusus und Übergewicht. Antiepileptika gelten als Risikofaktoren, da sie als Folsäureantagonisten wirken. Auch Clomifen wird mit einem Neuralrohrdefekt in Zusammenhang gebracht. Ein Neuralrohrdefekt lässt sich mittels Pränataldiagnostik meist bereits während der Schwangerschaft nachweisen. So ist das alpha-Fetoprotein, das im Zuge einer Amniozentese (14. bis 16.

Schwangerschaftswoche) bestimmt wird, bei offenem Spina bifida erhöht. Das Risiko falsch positiver und falsch negativer Befunde gilt aber als hoch. Mittels Sonographie ist der Defekt spätestens in der 20. Schwangerschaftswoche zu erkennen. Selten wird er erst bei der Geburt festgestellt.

Bei größerem Defekt wird ein primärer Kaiserschnitt empfohlen – um das Infektionsrisiko zu senken und um mit einer vollen Klinikbesetzung arbeiten zu können.

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