Arzneimittel und Therapie

HIV-Behandlung: Tenofovir – ein neues Nukleotidanalogon

Tenofovir DF ist der erste Nukleotid-analoge Reverse-Transkriptase-Hemmer (NtRTI), der für die Behandlung von HIV in den USA zugelassen wurde. Die europäische Zulassung wird für Anfang des nächsten Jahres erwartet, wie die Herstellerfirma Gilead mitteilte. Tenofovir zeigt eine Wirksamkeit gegen resistente und mehrfach resistente HI-Viren und zeichnet sich durch eine lange intrazelluläre Halbwertszeit aus, die eine Einmalgabe pro Tag erlaubt. Tenofovir Disoproxil-Fumarat (Tenofovir DF, BisPoc PMPA, Viread) ist das oral bioverfügbare Prodrug von Tenofovir. Die eigentliche Wirkform Tenofovir-Diphosphat entsteht durch Esterasen im Gewebe und im Plasma. Sie hemmt die viruseigene Reverse Transkriptase. Die Blockierung dieses Enzyms führt zum Abbruch der Übersetzung der genetischen Information des Virus von RNA in DNA.

Wirksam auch in ruhenden Zellen

Im Gegensatz zu Nukleosidanaloga wie AZT (Zidovudin, Azidothymidin) und d4T (Stavudin, Didehydro-dideoxythymidin) ist Tenofovir DF ein Monophosphatanalogon. Daher sind für die intrazelluläre Phosphorylierung zum aktiven Metaboliten Tenofovir-Diphosphat nur noch zwei Schritte nötig. Die dafür erforderlichen Enzyme sind in ruhenden Zellen wesentlich weniger aktiv. Nukleosidanaloga können daher in ruhenden Zellen kaum eine Wirkung entfalten. Das Nukleotidanalogon Tenofovir DF wirkt dagegen sowohl bei aktivierten als auch bei ruhenden Zellen.

Verbesserung der Compliance durch Einmalgabe

Der aktive Metabolit hat eine intrazelluläre Halbwertszeit von über 30 Stunden, wodurch eine Gabe einmal am Tag möglich ist. Unter Berücksichtigung der teilweise hohen Tablettenbelastung bei der in der Regel lebenslang einzunehmenden antiretroviralen Therapie, stellt eine entsprechende einmal täglich zu verabreichende Tablette (300 mg) eine deutliche Vereinfachung für etwaige antiretrovirale Therapiestrategien dar. Hinzu kommt, dass aufgrund des anderen Wirkprinzips die Gabe von Tenofovir DF auch bei Patienten, deren Viren bereits Mutationen im Reverse-Transkriptase-Bereich entwickelt haben, in Frage kommt.

Dosisabhängige Reduktion der Viruslast

In einer Phase-II-Studie (902) wurde die Wirksamkeit von Tenofovir bei Patienten unter einer hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) im Rahmen einer prospektiven, randomisierten, doppelblinden, plazebokontrollierten Studie untersucht. Es handelte sich um eine Dosisfindungsstudie mit 75 mg, 150 mg und 300 mg Tenofovir DF oder Plazebo als Add-on zu bestehender HAART. Trotz hochaktiver antiretroviraler Therapie hatten die Patienten eine nachweisbare Viruslast (HIV-RNA zwischen 400 und 10 000 Kopien/ml).

Während sich bei den Patienten, die in der ersten Studienhälfte eine unveränderte HAART erhielten, die Viruslast nicht erfassbar veränderte, war unter der zusätzlichen Behandlung mit Tenofovir ein dosisabhängiger Abfall der Viruslast erkennbar. Er betrug je nach Studienarm unter 75 mg/d Tenofovir DF 0,40 log Kopien/ml, unter 150 mg/d Tenofovir DF 0,58 log Kopien/ml und unter 300 mg/d Tenofovir DF 0,62 log Kopien/ml. Bei den Patienten, die nach ihrer Plazebotherapie auf Tenofovir DF wechselten, konnte ebenfalls eine Verminderung der Viruslast von 0,58 log Kopien/ml festgestellt werden. In weiteren klinischen Phase-III-Studien werden derzeit Wirksamkeit und Sicherheit von Tenofovir DF bei antiretroviral noch nicht behandelten Patienten untersucht.

Geringe Nebenwirkungen

Innerhalb der verschiedenen durchgeführten Studien traten als Nebenwirkungen Kopfschmerzen, Durchfall, Übelkeit, Erbrechen und Hautausschlag auf, wobei nur geringe Unterschiede zwischen den mit Tenofovir DF behandelten Patienten und der Plazebogruppe festgestellt werden konnten. Unter Berücksichtigung der vermehrt unter der Behandlung mit Nukleosidanaloga beschriebenen mitochondrialen Toxizität wurde Tenofovir-Diphosphat, der aktive Metabolit von Tenofovir DF, mit den aktiven Metaboliten verschiedener anderer Reverse-Transkriptase (RT)-Hemmer verglichen. Hierbei konnte gezeigt werden, dass Tenofovir ein wesentlich schwächerer Hemmer der DNA-Polymerase ist als andere nukleosidartige Reverse-Transkriptase-Inhibitoren. Gilead geht daher davon aus, dass nur ein geringes Risiko für eine Hemmung der mitochondrialen DNA-Synthese und für eine daraus resultierende Schädigung der Mitochondrien besteht. Für eine endgültige Risikoabschätzung sind jedoch Langzeitdaten von einer großen Zahl von Patienten erforderlich, die derzeit mit den verschiedenen Studien gesammelt werden.

Einfluss auf Resistenzmechanismen

Tenofovir DF wurde im Rahmen von kontrollierten klinischen Studien bei mehr als 4 500 Patienten in den USA und weltweit eingesetzt und hat nach den vorliegenden Daten ein günstiges Resistenzprofil: es ist auch bei Patienten mit multiplen RT-Resistenzmutationen noch wirksam. Während mit anderen Substanzen in der Regel mehrere Mutationen entstehen, trat bei Tenofovir DF in vitro lediglich eine seltene Mutation K65R auf, die bisher bei weniger als drei Prozent der HIV-Patienten beobachtet wurde.

Ein wichtiger Resistenzmechanismus der Viren besteht im pyrophosphorolytischen Abbau der unter der Medikation eingebauten Basenanaloga. Dadurch werden die Stränge der DNA, die zuvor durch einen gezielten Fehleinbau blockiert wurden, wieder frei zur Kettenverlängerung. Aufgrund seiner chemischen Struktur ist Tenofovir DF in der Lage, die Pyrophosphorolyse zu erschweren. Dadurch wird Tenofovir im Gegensatz zu den Nukleosidanaloga nur verzögert wieder aus der DNA entfernt, und die DNA-Synthese bleibt blockiert.

Geringes Potenzial für Wechselwirkungen

Da Tenofovir DF unverändert über die Nieren ausgeschieden wird, nur begrenzt proteingebunden ist und nach bisherigem Wissen weder ein Substrat noch ein Inhibitor oder ein Induktor des Cytochrom P450-Systems ist, sind Interaktionen zwischen Tenofovir DF und anderen Substanzen, die über dieses System metabolisiert werden, nicht zu erwarten.

Kastentext: Viruslast

Unter Viruslast (engl. viral load) versteht man die Anzahl der im Blut vorhandenen Viruspartikel. Die Zahlen beziehen sich jeweils auf einen Milliliter Plasma.

Die Viruslast kann mit mehreren Methoden bestimmt werden, denen gemeinsam ist, dass sie aus geringen Virusmengen entweder durch künstliche Virusvermehrung oder durch Signalverstärkung "Kopienzahlen" errechnen. Die Nachweisgrenze aller Tests liegt bei 400 bis 500 Kopien/ml. Werte darunter werden nicht gemessen. Neuere "ultrasensitive" Tests haben sogar Nachweisgrenzen von 20 bis 50 Kopien/ml. Weil die Viruslast meist zwischen 20/ml und 1 000 000/ml und damit innerhalb einer großen Spannbreite liegt, ist man dazu übergangen, die Viruslast durch Zehnerlogarithmen darzustellen. Eine signifikante Veränderung der Virusreplikation besteht ab einer Änderung von 0,5 bis 0,7 log-Stufen. Unterschiede bis zu 0,5 log befinden sich im Bereich messtechnischer Schwankungsbreite.

Studien habe gezeigt, dass die HIV-Infektion bei Patienten mit einer Viruslast von weniger als 10 000/ml (4 log) deutlich langsamer fortschreitet als bei Werten von mehr als 100 000/ml (5 log). Für eine dauerhafte Unterdrückung der Infektion sollte die Viruslast auf unter 20 bis 50 Kopien/ml gesenkt werden.

Die Viruslast reagiert fast immer rasch und sehr sensibel auf eine Änderung der Therapie. Schon nach wenigen Wochen ist es so möglich, Veränderungen zu erkennen. Bei jedem HIV-Patienten sollte die Viruslast deshalb regelmäßig etwa jeden 2. bis 3. Monat bestimmt werden. Die Bestimmung der Viruslast fällt jedoch nicht in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen. Da die Messung relativ teuer ist (zwischen 200 und 400 DM), verweigern viele Kassen die Finanzierung.

Quelle Dr. Norbert Bischofberger, Gilead Sciences Inc., Foster City, USA, Priv.-Doz. Dr. Jürgen K. Rockstroh, Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn, PD Dr. Schlomo Staszewski, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, auf der Pressekonferenz "Tenofovir - die neue Option für eine zuverlässige Kombinationstherapie", 16. November 2001, Berlin, veranstaltet von der Gilead Science GmbH.

Die Zahl der HIV-Infektionen in Deutschland ist in den letzten Jahren weitgehend konstant geblieben. Ein beobachteter Rückgang der AIDS-Neuerkrankungen ist vor allem auf verbesserte Behandlungsmöglichkeiten zurückzuführen. Durch die heute gebräuchliche Kombinationstherapie mit antiretroviralen Medikamenten kann das Fortschreiten der HIV-Infektion zum Vollbild AIDS erheblich verzögert werden. Der erste Nukleotid-analoge Reverse-Transkriptase-Hemmer Tenofovir hat in den USA die Zulassung für die Behandlung von HIV erhalten.

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