Landgericht Essen

10.000 Euro Schmerzensgeld für Betroffene des Bottroper Zyto-Skandals

Berlin - 21.02.2022, 13:45 Uhr

Das Landgericht Essen befasst sich noch immer mit den Folgen der Taten des Bottroper Zyto-Apothekers Peter S.. (c / Foto: Proxima Studio / AdobeStock)

Das Landgericht Essen befasst sich noch immer mit den Folgen der Taten des Bottroper Zyto-Apothekers Peter S.. (c / Foto: Proxima Studio / AdobeStock)


In einem ersten Schadensersatzprozess haben Richter des Landgerichts Essen ein Schmerzensgeld für psychische Belastungen anerkannt, nicht aber für gesundheitliche Beeinträchtigungen. Denn es sei unklar, ob die angenommenen Unterdosierungen hierzu geführt haben, wie aus den nun vorliegenden Urteilsgründen hervorgeht.

In einer ersten Zivilklage zum Bottroper Zyto-Prozess hatte das Landgericht Essen kürzlich geurteilt – nun liegen die Urteilsgründe vor. Geklagt hatte eine Witwe, bei deren Mann mit 63 Jahren Lungenkrebs diagnostiziert worden war, behandelt wurde er von einem Bottroper Onkologen, der eng mit dem früheren Zyto-Apotheker Peter S. zusammengearbeitet hat. Nach einer Therapie mit Carboplatin, unter der der Tumor sich deutlich zurückentwickelte, wurde ein Lungenteil entfernt, außerdem erhielt der Patient eine Bestrahlung. Trotzdem nahm die Zahl von Krebsherden in der Lunge zu. Hieraufhin verordnete der Onkologe eine Therapie mit Nivolumab – der Patient erhielt ab Anfang 2016 neun Infusionen, die in der Alten Apotheke von Peter S. hergestellt wurden.

Während der Therapie verschlechterte sich sein Zustand erheblich. In der zweiten Jahreshälfte erhielt der Patient das Präparat Docetaxel, die letzte Therapie am 29. November 2016: dem Tag der Razzia in der Apotheke sowie der Verhaftung von S.. Wenig später erfuhr der Patient vom Onkologen, dass er vielleicht von Unterdosierungen betroffene Präparate erhalten haben könnte – er erwog, eine Sammelklage anzustreben. Doch in den folgenden Monaten verschlechterte sich sein Zustand weiter, im Herbst 2017 verstarb er.

Im Strafprozess gegen Peter S. berechneten die Richter, dass mindestens 208 von insgesamt 364 zwischen Juli 2015 und der Verhaftung hergestellten Nivolumab-Infusionen erheblich unterdosiert waren – wahrscheinlich waren es deutlich mehr, da die Strafkammer viele Annahmen zugunsten von S. getroffen hat. Unklar bleibt, welche Infusionen dies waren, der frühere Apotheker schweigt zu dieser Frage.

Witwe forderte mindestens 25.000 Euro

In dem Schadensersatzprozess argumentierte die Witwe, die Nivolumab-Infusionen seien unterdosiert gewesen, bei richtiger Dosierung hätte ihr verstorbener Mann deutlich länger leben können. Sie verlangte ein Schmerzensgeld von mindestens 25.000 Euro. Der Insolvenzverwalter von S., der aufgrund des zwischenzeitlich gestarteten Insolvenzverfahrens dessen Vermögen verwaltet, weist derartige Ansprüche pauschal zurück. Gegenüber dem Gericht bestritt er laut Urteil auch, die jeweiligen Präparate seien unterdosiert gewesen. Auch habe sich weder das Leiden verlängert noch seien Heilungschancen verkürzt worden: Aufgrund der Krankheitsschwere habe der Patient von vorneherein keine Überlebenschance gehabt, der Tod sei schicksalhaft gewesen.

Zwar liege die Beweislast grundsätzlich bei der Witwe, schreiben die Richter in ihrem Urteil – doch entziehe sich die Frage der tatsächlichen Dosis den Aufklärungsmöglichkeiten der Witwe. Da diese wie auch andere Patienten und Angehörige keinen Einblick in die Abläufe und Zubereitungshandlungen der Apotheke haben, könnten Klagen „von vornherein keinen Erfolg haben“, argumentieren die Richter. S. und dem Insolvenzverwalter sei es hingegen „zuzumuten, die erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen oder zumindest konkret dazu vorzutragen, warum die Behauptung der Klägerin nicht zutrifft“. Doch der Insolvenzverwalter habe „keinerlei greifbare Anhaltspunkte“ dafür geliefert, dass ausgerechnet dieser Patient korrekt dosierte Zubereitungen erhalten hat. S. sei dem Insolvenzschuldner „umfassend zur Auskunft verpflichtet“, was die Dosierung der Mittel anbelangt.

 „Hochgradige Verwerflichkeit“ der Taten

Der Insolvenzverwalter hatte vorgebracht, eine derartige Argumentation sei „unbillig“, weil es S. „der Gefahr aussetze, dass eine Vielzahl weiterer Patienten Ansprüche gegen ihn geltend machen“. Derartige prozessuale Risiken erschienen als „das gerechte Ergebnis“ seiner planvollen und systematischen Fehldosierungen, urteilen die Richter.

S. sei durch die Unterdosierung dafür verantwortlich, dass der Patient ein Medikament erhalten habe, das nicht der Verordnung entsprach – dadurch sei die Behandlung illegal gewesen. „Bereits die Verabreichung des Arzneimittels über eine Spritze oder eine Infusion hat Schmerzen verursacht, und es sind Stoffe in den Körper eingebracht worden [sic], auf die sich die Einwilligung des Patienten nicht bezog und deren Wirkung ungewiss ist“, heißt es im Urteil. Der Arzt sei ebenfalls von S. hierüber getäuscht worden, sodass S. als mittelbarer Täter der Körperverletzung anzusehen ist. Hierfür wie auch für die psychische Belastung durch das Wissen über mögliche Fälschungen seiner Krebstherapie sehen die Richter eine Schadensersatzsumme von 10.000 Euro als angemessen an.

Auch eine Beweislastumkehr hilft laut den Richtern nicht

Einen weitergehenden Schaden in Form einer Verschlechterung des Gesundheitszustands oder der Prognose „konnte die Kammer dagegen nicht feststellen“, heißt es im Urteil. Hier sehen sie die Witwe in der Beweislast. Es brauche die Feststellung, dass mit „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ – von zumindest über 50 Prozent – die Unterdosierung zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen geführt hat. Ein eingeholtes Gutachten spreche eher dagegen, da laut diesem nur jeder fünfte mit Nivolumab therapierte Patient überhaupt hierauf anspreche. Daher sei unklar, ob der Patient hiervon profitiert hätte. Auch sei laut dem Gutachter unklar, wie bei der Immuntherapie der Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung aussehe – und ob es eine Mindestdosierung gebe.

Selbst wenn man Möglichkeiten zur Beweislastumkehr annehme, die bei schweren Behandlungsfehlern bestehen, ergebe sich kein anderes Bild, erklären die Richter. Denn dies beziehe sich nur auf die Kausalität des groben Fehlers für den unmittelbaren Gesundheitsschaden sowie auf sich hieraus ergebende typische Sekundärschäden – negative Folgen einer Unterdosierung gehören nach Ansicht der Richter jedoch nicht hierzu. Zwar könne ein schlechterer Heilungsverlauf hierzu zählen, wie andere Urteile ergeben hatten. Doch seien diese nicht mit dem Einzelfall vergleichbar, da es bei ihnen etwa aufgrund von Diagnosefehlern gar keine Therapie gegeben habe. Da Nivolumab eh nur bei jedem fünften Patienten anspreche, sei ein Nichtansprechen sowie das Fortschreiten der Krankheit nicht typische für die Gabe unterdosierter Medikamente: Der Grund für das Nichtansprechen habe nicht geklärt werden können.

Schmerzensgelderhöhend haben die Richter „das im Strafurteil festgestellte planvolle und rücksichtslose Verhalten“ von S., wie auch „die hochgradige Verwerflichkeit des schieren Ausmaßes seiner Taten, mit denen er sich gerade auf Kosten besonders Schutzwürdiger bereichert hat“. Die Witwe hat nach dem Urteil Anspruch, dass die Forderung von 10.000 Euro zur Insolvenztabelle angemeldet wird – unklar ist angesichts von erheblichen Forderungen in Millionenhöhe etwa von Krankenkassen, welchen Anteil sie hiervon am Ende des Insolvenzverfahrens noch erhalten wird. Angehörige hatten bei einem Verhandlungstermin im Dezember erklärt, dass sie voraussichtlich Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen wollen – wie womöglich auch der Insolvenzverwalter.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.