Neue Metaanalyse

Keine valide Korrelation zwischen LDL-Senkung und Herz-Kreislauf-Risiko

Remagen - 12.08.2020, 11:40 Uhr

Die weit verbreitete Theorie, dass es eine lineare Beziehung zwischen dem Grad der LDL-Verringerung und dem Grad der kardiovaskulären Risikoreduktion gebe, stellt ein internationales Forscherteam massiv infrage. (m / Foto: Jamrooferpix / stock.adobe.com)

Die weit verbreitete Theorie, dass es eine lineare Beziehung zwischen dem Grad der LDL-Verringerung und dem Grad der kardiovaskulären Risikoreduktion gebe, stellt ein internationales Forscherteam massiv infrage. (m / Foto: Jamrooferpix / stock.adobe.com)


Es gilt fast als unumstößliches Dogma: Mit einer tatkräftigen Senkung des „bösen“ LDL-Cholesterins lässt sich das Herz-Kreislauf-Risiko senken. Drei Wissenschaftler aus den USA, Brasilien und Frankreich haben die Studienlage noch einmal gesichtet und kommen zu einem ernüchternden Ergebnis: Aus den vorhandenen Daten lässt sich dieser Schluss nicht ableiten.

Die Senkung eines erhöhten LDL-Cholesterins gilt als Hauptangriffspunkt, um das Risiko künftiger Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verringern. So steht es in den Richtlinien der American Heart Association (AHA) und des American College of Cardiology (ACC) 2018 und auch in deren europäischem Pendant der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) 2019 und der Europäische Atherosklerose-Gesellschaft (EAS). Konkret empfehlen die AHA/ACC-Richtlinien 2018 in der Regel eine LDL-Cholesterin-senkende medikamentöse Therapie für folgende Risiko-Patienten: 

  • mäßiges Risiko
    • Personen im Alter von 40-75 Jahren mit Diabetes mellitus und LDL-Cholesterin zwischen 70 und 189 mg/dl
    • Personen im Alter von 40-75 Jahren ohne atherosklerotische Herz-Kreislauf-Erkrankungen (ASCVD) oder Diabetes mellitus mit LDL-Cholesterin zwischen 70 und 189 mg/dl und einem Zehn-Jahres-ASCVD-Risiko ≥ 7,5 und < 20 Prozent.
  • hohes Risiko
    • Personen mit klinischer ASCVD
    • Personen mit LDL-Cholesterin ≥ 190 mg/dl
    • Personen im Alter von 40 bis 75 Jahren ohne ASCVD oder Diabetes mellitus mit LDL-Cholesterin zwischen 70 und 189 mg/dL und einem Zehn-Jahres-ASCVD-Risiko ≥ 20 Prozent.

LDL-Senkung um 30 bis 50 Prozent empfohlen

Nach der Leitlinie soll der ursprüngliche LDL-Wert bei Personen mit einem mittleren oder hohen Risiko um 30 bzw. 50 Prozent oder mehr gesenkt werden, wofür drei Klassen von Medikamenten empfohlen werden: die HMG-CoA-Reduktase-Hemmer (Statine), der Cholesterol-Absorptions-Inhibitor Ezetimib (Ezetrol®) und die Proprotein-Convertase-Subtilisin/Kexin-Typ-9-(PCSK9)-Inhibitoren Evolocumab (Repatha®) und Alirocumab (Praluent®).

Nicht richtig validiert

Ein Autorenteam – bestehend aus dem Internisten und Kardiologen Dr. Robert DuBroff von der „University of New Mexico School of Medicine in Albuquerque“, USA, dem Professor für evidenzbasierte Medizin an der „Bahiana School of Medicine Aseem Malhotra“ in Salvador in Brasilien, sowie dem Ernährungswissenschaftler Dr. Michel de Lorgeril von der „Universität Grenoble“ in Frankreich – glaubt, dass dieser Ansatz nie richtig validiert wurde, und hat die Datenlage dafür noch einmal in Augenschein genommen. Die Forscher sichteten alle randomisierten kontrollierten Studien mit einer der drei Medikamentenklassen und Probanden aus den Zielpopulationen der AHA/ACC-Leitlinien. Ihre Ergebnisse haben sie im BMJ Evidence-Based Medicine publiziert.

Erreichen der LDL-Cholesterin-Zielwerte ohne Zusatznutzen

Nach einer systematischen Überprüfung von 35 Studien bringt das Erreichen der LDL-Cholesterin-Zielwerte keinen Zusatznutzen, stellen sie abschließend fest. Es zeigte sich auch keine klare Beziehung zwischen dem Ausmaß der LDL-Senkung und dem klinischen Effekt. In 13 RCTs wurde das LDL-Reduktionsziel erreicht, aber nur eine davon berichtet von einem Mortalitätsvorteil und fünf von einer Verringerung kardiovaskulärer Ereignisse. In 22 RCTs wurde das LDL-Reduktionsziel nicht erreicht. Trotzdem berichten vier einen Nutzen bezüglich der Sterblichkeit und 14 hinsichtlich kardiovaskulärer Ereignisse. Für keine der drei Medikamentenklassen konnte ein konsistenter positiver Einfluss auf die beiden Parameter gezeigt werden. Obwohl PCSK9-Hemmer derzeit die wirksamsten Medikamente zur Reduzierung von LDL sind, konnten die Autoren nicht ableiten, ob diese Statinen oder Ezetimib hinsichtlich des klinischen Nutzens überlegen sind.

Bessere Ergebnisse ohne adäquate LDL-Reduktion

Als bemerkenswert stellen sie heraus, dass ein Nutzen häufiger berichtet wurde, wenn die LDL-Ziele nicht erreicht wurden. So beobachteten die Studien ALLIANCE und MEGA bei einer LDL-Senkung um lediglich 11 bis 15 Prozent eine Verminderung kardiovaskulärer Ereignisse. Demgegenüber zeigte sich bei einer LDL-Reduktion von 50 Prozent oder mehr in den Studien zur Bewertung von kardiovaskulären Ergebnissen nach einem akuten koronaren Syndrom mit Alirocumab (ODYSSEY FH 1 und 2) sowie mit Simvastatin und Ezetimib bei Aortenstenose (SEAS) und zur Hemmung und Reduktion von vaskulären Ereignissen durch den PCSK9-Hemmer Bococizumab (SPIRE 1 und 2) kein kardiovaskulärer Nutzen. 

Keine Korrelation zwischen Grad der LDL-Senkung und Nutzen

Auch bei der Berechnung der Number Needed to Treat (NNT) fanden die Forscher eine Diskrepanz zwischen dem Grad der LDL-Reduktion und der Größe des Nutzens. So mussten beispielsweise in der Skandinavischen Simvastatin-Survival-Studie (4S) nur 30 Patienten 5,4 Jahre lang mit Simvastatin behandelt werden, um einen Tod zu verhindern, während in der ODYSSEY OUTCOMES-Studie 250 Patienten 2,8 Jahre lang mit dem PCSK9-Hemmer Alirocumab behandelt wurden, um dasselbe Ziel zu erreichen. In der 4S-Studie wurde LDL-Cholesterin um durchschnittlich 35 Prozent reduziert, verglichen mit einer durchschnittlichen LDL-Reduktion von 55 Prozent in ODYSSEY OUTCOMES. 

„Widersprüchliche Beweise weitgehend ignoriert“

Als Einschränkungen ihrer Analyse führen die Autoren an, dass es in den Studien enorme Variabilitäten bei den Patientenpopulationen, der Studiendauer, dem Grad der LDL-Reduktion und der Definition kardiovaskulärer Endpunkte gab. Außerdem hätten sie bedingt durch ihre Auswahlkriterien einige wichtige Studien nicht mit in die Bewertung einbeziehen können. So blieb die PROspektive Studie von Pravastatin bei älteren Menschen (PROSPER) wegen des Durchschnittsalters von > 75 Jahren außen vor, die Heart Protection Study (HPS) wegen der fehlenden Angaben zur prozentualen LDL-Veränderung und die GISSI-HF-Studie, weil hier das Zehn-Jahres-Risiko von ASCVD nicht berechnet werden konnte.

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Angesichts der Ergebnisse stellen die Autoren die weit verbreitete Theorie, dass es eine lineare Beziehung zwischen dem Grad der LDL-Verringerung und dem Grad der kardiovaskulären Risikoreduktion gebe, massiv infrage. Was ist nun die Konsequenz? „In den meisten Bereichen der Wissenschaft führt die Existenz widersprüchlicher Beweise in der Regel zu einem Paradigmenwechsel oder einer Änderung der betreffenden Theorie, aber in diesem Fall wurden die widersprüchlichen Beweise weitgehend ignoriert, nur weil sie nicht zum vorherrschenden Paradigma passen“, schreiben die Wissenschaftler. Sie fordern angesichts der Unklarheit eine fundierte Entscheidungsfindung.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

faszinierend unlogisch

von Olaf Rose am 13.08.2020 um 9:09 Uhr

Wenn in einer Studie mit Statinen nicht der LDL-Cholesterin Zielwert erreicht wurde (z.B. <70 mg/dl) sondern z.B. nur auf ca. 80 mg/dl gesenkt wurde und TROTZDEM eine Verbesserung festgestellt wurde, dann spricht das nicht GEGEN sondern FÜR die Therapie. Dieser Review ist komplett falsch interpretiert worden und ändert sicher nicht das Fazit der zahlreichen Studien und Reviewergebnisse der letzten 20 Jahre, siehe z.B. Armitage et al. DOI:https://doi.org/10.1016/S0140-6736(18)31942-1

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