Arzneimittel und Therapie

Ocrelizumab erweitert MS-Therapie

Neuer CD20-Antikörper ist auch bei primär progredienter multipler Sklerose wirksam

Seit Anfang Januar 2018 steht mit Ocrelizumab (Ocrevus®; Roche) ein neues Therapeutikum gegen Multiple Sklerose zur Verfügung. Damit besteht nicht nur für Patienten mit schubförmigem Krankheitsverlauf eine weitere Therapieoption, erstmalig gibt es nun auch ein zugelassenes Arzneimittel zur Behandlung der frühen primär progredienten Form. In mehreren Studien wurde gezeigt, dass Ocrelizumab die Anzahl der Schübe wirksam reduziert und zudem bei bestimmten Patienten die Verschlechterung der Symptome verlangsamen kann.

In Deutschland sind mehr als 223.000 Patienten von Multipler Sklerose (MS) betroffen. Die Mehrheit der Patienten hat einen schubförmigen Krankheitsverlauf (RMS). Progrediente Verläufe sind weitaus seltener. Bei der Entstehung einer Multiplen Sklerose (MS) spielt unter anderem die Einwanderung autoreaktiver T- und B-Lymphozyten in das zentrale Nervensystem eine wichtige Rolle. Die fehlgeleitete Immunreaktion induziert eine Demyelinisierung von Nervenscheiden mit darauffolgender axonaler Schädigung.

Ein therapeutischer Ansatz ist daher die Eliminierung von B-Zellen durch eine CD20-Targetierung. CD20 ist ein Zelloberflächenantigen, welches sich auf Prä-B-Zellen, reifen B-Zellen und B-Gedächtniszellen befindet, jedoch nicht auf lymphoiden Stammzellen und Plasmazellen. Das Wirkprinzip ist von Rituximab bekannt: Der chimäre Antikörper ist jedoch nicht zur Behandlung der MS zugelassen. Eine Weiterentwicklung ist der rekombinante humanisierte monoklonale Antikörper Ocrelizumab. Dieser richtet sich gezielt gegen CD20-positive B-Zellen und markiert sie so für eine immunologische Eliminierung. Obwohl die genauen Mechanismen bei der MS noch unklar sind, vermutet man, dass eine Immunmodulation verbunden mit einer Verringerung der Anzahl und Funktion der B-Zellen entscheidend ist. Bindet Ocrelizumab an die Zelloberfläche, wird eine Reihe von zellschädigenden Reaktionen ausgelöst (s. Abbildung):

  • komplementabhängige Zytotoxizität (Complement-Dependent Cytotoxicity = CDC),
  • Antikörper-abhängige zelluläre Zytotoxizität (Antibody-Dependent Cellular Cytotoxicity = ADCC),
  • Antikörper-abhängige zelluläre Phagozytose (Antibody-Dependent Cellular Phagocytosis = ADCP),
  • Apoptose.

Dies führt zu einer selektiven Depletion CD20-positiver B-Zellen. Die Fähigkeit der B-Zellen-Rekonstitution und die vorbestehende humorale Immunität sowie die angeborene Immunität und die Anzahl der T-Zellen werden nicht beeinträchtigt.

Abb.: Wirkmechanismus von Ocrelizumab Der monoklonale Antikörper Ocrelizumab bindet wie Rituximab spezifisch an das Oberflächenantigen CD-20 auf B-Zellen. Die Ocrelizumab-markierten B-Zellen werden daraufhin durch verschiedene Mechanismen eliminiert: 1) Komplementabhängige Zytotoxizität (CDC): B-Zell-Lyse durch Aktivierung der Komplementkaskade und Bildung des Membranangriffskomplexes (MAK), 2) Antikörper-abhängige zelluläre Zytotoxizität (ADCC): Aktivierung natürlicher Killerzellen (NK-Zellen) über den Fc-Rezeptor; 3) Antikörper-abhängige zelluläre Phagozytose (ADCP): Makrophagen erkennen den Fc-Teil des monoklonalen Antikörpers und abgelagerte Komplementfragmente; 4) Direkte Apoptose: Aktivierung des Src-Kinase-Signalweges durch quervernetzte Ocrelizumab-CD-20-Komplexe im Lipid-Raft-Bereich der Zellmembran. [modifiziert nach Jaglowski SM et al. 2010]

Hoffnung bei früher primär progredienter MS

Mit Ocrelizumab gibt es nun erstmalig ein zugelassenes Arzneimittel für Patienten mit früher primär progredienter MS (PPMS), welche unter Berücksichtigung der Krankheitsdauer, des Grads der Behinderung und bildgebender, auf eine entzündliche Aktivität hinweisender Befunde charakterisiert wird. Des Weiteren stellt Ocrelizumab eine zusätzliche Behandlungsoption bei erwachsenen Patienten mit aktiver schubförmiger multipler Sklerose (RMS), die anhand bildgebender oder klinischer Befunde bestätigt wurde, dar.

Wirksamkeit in Phase-III-­Studien bestätigt

Die Wirksamkeit und Sicherheit von Ocrelizumab wurden in mehreren randomisierten doppelblinden Phase-III-Studien nachgewiesen, so in OPERA I und II bei RMS-Patienten und ORATORIO bei PPMS-Patienten. Der primäre Studienendpunkt in OPERA I und II war die jährliche Schubrate. Diese konnte im Vergleich mit dem Therapiestandard Interferon beta-1a beinahe halbiert werden. So traten während der zweijährigen Beobachtungsdauer in beiden OPERA-Studien unter Ocrelizumab jeweils 0,16 Schübe pro Jahr auf und unter Interferon 0,29 Schübe, was einer Verringerung der jährlichen Schubrate um 46% (p < 0,001) bzw. 47% entspricht.

In der ORATORIO-Studie konnte gezeigt werden, dass der Anteil der PPMS-Patienten mit zwölfwöchiger bestätigter Behinderungsprogression über den gesamten Beobachtungszeitraum betrachtet unter Ocrelizumab geringer war als unter Placebo (32,9% vs. 39,3%; p = 0,032); das entspricht einer relativen Risikoreduktion um 24%. Zudem reduzierte Ocrelizumab das Hirnvolumen hyperintenser T2-Läsionen im bildgebenden Verfahren um 3,4% (gegenüber einem Anstieg unter Placebo von plus 7,4%; p < 0,001).

Infusionsbedingte Reaktionen sind häufig

Gemäß der Fachinformation treten als häufigste unerwünschte Wirkungen infusionsbedingte Reaktionen sowie Infektionen des oberen Respirationstrakts auf. Des Weiteren kann das Risiko einer progressiven multifokalen Leukoenzephalopathie nicht ausgeschlossen werden. Dasselbe gilt für eine Reaktivierung des Hepatitis-B-Virus, daher ist bei Beginn der Behandlung eine Hepatitis-B-Virus-Serologie durchzuführen. In klinischen Studien wurde eine erhöhte Anzahl maligner Erkrankungen beobachtet. Die Inzidenz lag jedoch innerhalb der für eine MS-Population erwarteten Hintergrundrate. Stark immunsupprimierte Patienten dürfen erst behandelt werden, wenn die Immunsuppression behoben ist. Eine Impfung mit attenuierten Lebendimpfstoffen oder Lebendimpfstoffen wird während einer Behandlung mit Ocrelizumab und bis zur B-Zell-Repletion nicht empfohlen. Frauen im gebärfähigen Alter müssen während der Behandlung mit Ocrelizumab und noch zwölf Monate lang nach der letzten Infusion eine sichere Empfängnisverhütung anwenden.

Prämedikation erforderlich

Die Initialdosis von Ocrelizumab 600 mg wird in Form von zwei getrennten intravenösen Infusionen gegeben; eine erste Infusion zu 300 mg, gefolgt von einer zweiten Infusion zu 300 mg zwei Wochen später. Folgedosen von Ocrelizumab werden als intravenöse Einmalinfusionen zu 600 mg nur alle sechs Monate verabreicht. Zur Verhinderung infusionsbedingter Reaktionen ist die Gabe von Methylprednisolon und einem Antihistaminikum erforderlich. |

Quellen

Holstiege J et al. Epidemiologie der Multiplen Sklerose - eine populationsbasierte deutschlandweite Studie. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi). Versorgungsatlas-Bericht Nr. 17/09. Berlin 2017;doi: 10.20364/VA-17.09

Prof. Dr. Ralf Gold, Bochum, Dr. Colin Wernsdörfer, Grenzach-Wyhlen, Prof. Dr. Volker Limmroth, Köln; Launch-Pressekonferenz „Ocrevus®- Durchbruch in der Multiple-Sklerose-Behandlung“; Frankfurt 24. Januar 2018; veranstaltet von Roche Pharma AG

Hauser S et al. Ocrelizumab versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2017;376:221-34

Montalban X et al. Ocrelizumab versus placebo in primary progressive multiple sclerosis. N Engl J Med 2017;376:209-20

Fachinformation Ocrevus® (Stand Januar 2018)www.ema.europa.eu/docs/de_DE/document_library/EPAR_-_Product_Information/human/004043/WC500241124.pdf

Jaglowski SM et al. The clinical application of monoclonal antibodies in chronic lymphocytic leukemia. Blood 2010;116:3705-14

Apothekerin Dr. Petra Jungmayr

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