Arzneimittel und Therapie

„Milliarden mit Kopien!“

Ein Gastkommentar von Volker Limmroth zur Kostendiskussion um Ocrelizumab (Ocrevus®)

Foto: Privat
Prof. Dr. Volker Limmroth, Chefarzt der Klinik für Neurologie und Palliativmedizin Köln Merheim, war über zehn Jahre als Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Kliniken der Stadt Köln tätig.

„Pharmakonzern macht Kasse: 3000-Euro-Medikament kostet jetzt 33.000 Euro – ganz legal“ so titelte Focus.online am 8. Februar 2018, das Fernsehmagazin Kontraste legte abends nach mit „Wie Pharmakonzerne mit ‚Kopien‘ Milliarden verdienen“. Die Titel klingen überzeugend, der berichtete Vorgang erscheint skandalös. Die Autoren der Berichte legen den Finger in eine teure Wunde des deutschen Gesundheitssystems, lassen aber auch wichtige Details unerwähnt und rechnen die Preisunterschiede künstlich groß.

Vergleich mit Rechenfehler

Fangen wir mit den Zahlen an: 33.000 versus 3000 Euro für Ocrelizumab versus Rituximab, ein Vergleich, der es in sich hat. Dazu muss man allerdings wissen, dass es sich bei der Berechnung des Rituximab-Preises nicht um das Original-Präparat (Mabthera®) handelt, sondern um ein gerade erstmalig zugelassenes Biosimilar von Rituximab (Rixathon®). Diese neue Klasse von Biosimilars sind etwa 20% billiger als das Original, sind aber bisher nie in einer neuroimmunologischen Indikation und damit auch nicht bei Multipler Sklerose (MS) getestet worden. Zwar ist eine ähnliche Wirksamkeit nicht unwahrscheinlich, aber es gibt – anders als für die Behandlung von Lymphomen – bisher nicht einen einzigen MS-Studienpatienten, der eines dieser Präparate jemals erhalten hat. Und zur Wahrheit gehört auch, dass diese Anti-CD20+-B-Zell-depletierende Therapie alle 6 Monate gegeben werden muss, d. h. – und hier unterläuft den recherchierenden Journalisten (möglicherweise ungewollt) ein kleiner Rechenfehler – es wären nicht 3000 Euro, sondern 6000 Euro für eine bisher klinisch nicht untersuchte Rituximab-Biosimilar-Therapie. Berechnet man die Jahrestherapiekosten aber mit dem Preis des Original-Präparates für einen 75 kg schweren Durchschnittspatienten, betragen die Jahrestherapie-Kosten ca. 7500 bis 8000 Euro. Der seriöse Vergleich wäre also 33.000 versus 8000 Euro. Zugegebenermaßen ist aber auch der 3- bis 4-fache Preis für ein Nachfolgepräparat noch recht ordentlich.

Rigorose Off-label-Vorschriften

Zur Wunde im deutschen Gesundheitssystem, die aus ärztlicher Sicht zwar unvollständig, dennoch dankenswerterweise am Beispiel der MS in die breite Öffentlichkeit getragen wird: In unserem Gesundheitssystem herrschen relativ rigorose Off-label-Vorschriften, die im Kern auch Sinn machen, damit unsinnige Therapien unterbleiben. Aber sie gelten eben auch dann noch, wenn bereits Dutzende von Studien die Wirksamkeit einer Off-label-Substanz belegt haben. Man könnte auch platt sagen: Eine Substanz, die in Deutschland nicht zugelassen ist, kann und soll auch nicht wirken.

„Man könnte auch platt sagen: Eine Substanz, die in Deutschland nicht zugelassen ist, kann und soll auch nicht wirken.“

Prof. Dr. Volker Limmroth

Die MS ist über Jahrzehnte als (rein) T-Zell-vermittelte Autoimmunerkrankung betrachtet worden. Eine Rolle der B-Zellen wurde zwar früh diskutiert, blieb aber unklar, bis das klassische Tiermodell der MS von der Maus auf Affen übertragen wurde. Hier zeigten sich – anders als im klassischen Mäuse- oder Rattenmodell – nun auch B-Zell-Infiltrationen in großen Läsionen, so dass die B-Zelle bzw. ihre Depletion in der MS-Therapie wieder in den Fokus der Forschung rückte. Bereits 2008 wurde eine doppelblinde, randomisierte Placebo-kontrollierte Studie zu Rituximab in der MS-Therapie mit über 100 Patienten (HERMES-Studie) im New England Journal of Medicine veröffentlicht (viel besser können klinische Studien nicht publiziert werden). Obwohl gegen Placebo und nicht gegen ein zugelassenes Präparat getestet, waren die Ergebnisse der Studie sehr überzeugend und ließen vermuten, dass eine B-Zell-Depletion mit hoher Wahrscheinlichkeit wirksamer sein würde als die meisten zugelassenen Präparate (und dabei deutlich billiger – Basistherapeutika kosteten damals auch schon ca. 20.000 – 25.000 Euro/Jahr). Einige große MS-Zentren (einschließlich das Zentrum des Autors) behandeln daher schwer betroffene Patienten bereits seit 10 bis 15 Jahren mit Rituximab. Die Beantragung dieser Off-label-Behandlung bei den Kostenträgern führte allerdings in 90% der Fälle meist zu den gleichen Bescheiden: abgelehnt weil nicht zugelassen. Umfangreiche Schriftwechsel mit einzelnen Kassen halfen manchmal, ebenso wie Schreiben an die Vorstandsvorsitzenden der Versicherungskonzerne mit Darlegung der offensichtlichen Kosteneinsparungen bei besserer Wirkung. Der Autor konnte in 10 Jahren zwar für etwa 50 Patienten die Erstattung einer Rituximab-Therapie erreichen, scheiterte aber u. a. vor dem Sozialgericht Köln mit der Durchsetzung einer Rituximab-Erstattung. Die Rechtslage ist relativ eindeutig: Eine Substanz kann noch so wirksam sein, wenn es nicht gerade um Leben und Tod geht, kann die Erstattung bei fehlender Zulassung versagt werden.

Entscheider ohne Sachkenntnis

Die Kostenträger machen es sich hier verständlicherweise einfach, weil juristisch auf der sicheren Seite, haben oft aber auch das Problem der fehlenden Sachkenntnis. Sachbearbeiter entscheiden daher nach Akten- und Zulassungslage. Bei Widerspruch wird der Fall durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) entschieden. Hier sitzen zwar Ärzte, es fehlen aber meist die Fachärzte, so dass ein ehemaliger Unfallchirurg über eine komplexe neuroimmunologische Behandlung entscheiden muss, und es dann wiederum einzig nach Zulassungslage geht. Dass durch diesen Mechanismus sehr wahrscheinlich dreistellige Millionenbeträge oder auch mehr unnötigerweise ausgegeben werden, obwohl günstigere oft sogar wirksamere Mittel zur Verfügung stehen, ist für Ärzte schwer verständlich. Offensichtlich geht es den deutschen Kostenträgern doch noch zu gut.

Dass Patienten aber aus Unkenntnis und Trägheit wirksame Medikamente vorenthalten werden, ist der eigentliche Skandal, der uns Ärzte oft fassungslos macht, aber der Öffentlichkeit (incl. den Journalisten von Kon­traste und Focus) leider entgeht.

„Dass Patienten aber aus Unkenntnis und Trägheit wirksame Medikamente vorenthalten werden, ist der eigentliche Skandal ...“

Prof. Dr. Volker Limmroth

Schweden ist schlauer

Richtigerweise wird in den Berichten auf Schweden verwiesen. Das schwedische Gesundheitssystem ist hier wesentlich schlauer. Es hat bereits vor vielen Jahren ein Bewertungssystem etabliert, nachdem auch nicht zugelassene Substanzen, sofern der eindeutige wissenschaftliche Nachweis einer Wirksamkeit besteht, erstattungsfähig sind. Schweden sorgt so für die stets optimale wissenschaftlich fundierte Versorgung seiner Bürger und spart auf diese Weise auch noch Millionenbeträge. Im Fall von Rituximab erklärten schwedische Gesundheitsbehörden bereits vor zwei Jahren die Substanz in der Behandlung der MS für erstattungsfähig. Sie gingen sogar so weit und empfahlen die Verwendung aufgrund der überzeugenden Wirksamkeit anstatt der herkömmlichen Basistherapie (Interferone und Glatirameracetat). Die Folge: In keinem anderen Land der Welt wurden so viele MS-Patienten mit Rituximab behandelt.

Zurück zu Ocrelizumab in den Berichten in den Medien: Die Entwicklung einer B-Zell-depletierenden Therapie für neuroimmunologische Erkrankungen lag zunächst nicht im Fokus der Herstellerfirma. Es waren Wissenschaftler und Klinische Forscher, die immer wieder auf die Herstellerfirma und andere Firmen zugingen und auf die vermeintliche Wirksamkeit einer B-Zell-depletierenden Therapie in der MS hinwiesen. Als schließlich die Entscheidung zur Entwicklung einer Anti-CD20+-Therapie zur Behandlung der MS fiel, war Rituximab bereits ca. 12 Jahre auf dem Markt, das Auslaufen des Patents absehbar und die nächste Generation von monoklonalen Antikörpern bereits entwickelt (von ‚ximab‘ zu ‚zumab‘ = humanisiert). Es sprachen daher viele nachvollziehbare Gründe dafür, mit einem monoklonalen Antikörper der nächsten Generation in die klinischen Zulassungsstudien zu gehen. Weltweit sah die Gemeinde der MS-Zentren die Entwicklung von Anti-CD20+-Therapien als absolut sinnvollen und wichtigen Schritt zur Behandlung der MS im Sinne ihrer Patienten.

Abschließend zur emotionalsten Frage aller Fragen: Ist ein drei- bis vierfacher Preisunterschied gerechtfertigt? Die Preisbildung bei hochwirksamen Präparaten ist schwierig, emotional und nicht immer transparent. Besonders eindrücklich ist dies derzeit bei den jüngst zugelassenen T-CAR-Therapien in der Onkologie, die inzwischen einen mittleren sechsstelligen Betrag kosten, aber dauerhaft lebensrettend sein können und nicht nur ein progressions­freies Überleben für wenige Monate sichern. Klar ist aber auch: Weder Pharmakonzerne noch BioTech-Unternehmen handeln aus altruistischen Beweggründen. Moderne, innovative Therapien sind ohne Biotechnologische Unternehmen undenkbar. Zweifellos sind auch die Umsatzrenditen bei erfolgreichen Präparaten vergleichsweise gut. Allerdings heißt Misserfolg auch, schnell zum Übernahmekandidaten zu werden oder wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Deutsche Pharma-Unternehmen können davon ein Lied singen: Mitte der Achtziger Jahre noch Apotheke der Welt, heute gerade noch 2. Bundesliga. Die Frage, ob ein 3- bis 4-facher Preis für bessere Verträglichkeit bei möglicherweise gleicher Wirksamkeit gerechtfertigt ist, müsste auf den ersten Blick mit ‚Nein‘ beantwortet werden. Aber der heutige Rituximab-Preis ist vor über 20 Jahren entstanden, der Ocrelizumab–Preis 2018 wiederum orientiert sich am historisch gewachsenen Preis seiner derzeitigen Konkurrenz-Produkte zur Behandlung der MS. Und hier entspricht der Preis in etwa dem anderer hochwirksamer Präparate in der Behandlung der MS (Natalizumab, Alemtuzumab). Und damit kommt unweigerlich die Frage auf: Sind diese Preise in dieser Indikation gerechtfertigt? Der Autor würde sich auf gefährliches Eis begeben, wenn er die Frage mit einem Ja oder Nein beantworten wollte. Bestätigen kann er aber, dass die meisten MS-Patienten heute Dank innovativer Therapien, anders als vor 25 Jahren, ein im Wesentlichen normales Leben führen können.

Fazit

Man hätte sich gewünscht, dass die journalistischen Kollegen alle Aspekte besser herausgearbeitet hätten, anstatt alte Klischees der bösen ausschließlich gewinnorientierten Pharmabranche zu bedienen. Die Berichte bringen aber ein wichtiges Problem zum Vorschein: Unser Gesundheitssystem benötigt dringend ein Bewertungssystem, das die Evaluation von Substanzen zur legalen und erstattungsfähigen Off-label-Behandlung ermöglicht. Unabhängig von allen politischen Diskussionen: Die Entwicklung von Anti-CD20+-Therapien zur Behandlung der MS ist einer der wichtigsten Fortschritte in der Behandlung unserer MS-Patienten in den letzten 20 Jahren. |

Prof. Dr. Volker Limmroth, Chefarzt der Klinik für Neurologie und Palliativmedizin Köln Merheim, Ostmerheimer Str. 200, 51109 Köln

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