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Hintergrund

Jenseits der Zulassung

Wenn nicht ausreichend erprobte Arzneimittel die letzte Hoffnung sind

 Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen klammern sich an jeden Strohhalm. Bei Internet-Recherchen stoßen sie oft auf Wirkstoffe, die sich noch in der klinischen Erprobung befinden. Je nach Status eines Wirkstoffs greifen haftungsrechtlich und sozialrechtlich unterschiedliche Regelungen. Ein Überblick.  | Von Michael van den Heuvel

Die zehnjährige Hannah leidet an Kinderdemenz. Ärzte diagnostizierten bei ihr eine neuronale Ceroid-Lipofuszinose (NCL) vom Typ 2. Auslöser dieser lysosomalen Speicherkrankheit sind Mutationen im TPP1-Gen an der Lokation 11p15.4. Das hat fatale Folgen: Ceroid-Lipofuszine, sprich wachsartige Abbauprodukte, werden nicht mehr abtransportiert, und Nervenzellen gehen zugrunde. NCL2 führt ­früher oder später zum Tod.

Jetzt setzen Hannahs Eltern ihre gesamte Hoffnung in den Wirkstoff BMN 190 von BioMarin. Das Enzym Cerliponase Alfa soll zelluläre Stoffwechselendprodukte entfernen, befindet sich aber noch in der Entwicklung. Nach Abschluss einer nicht verblindeten Phase-1/2-Dosis-Eskalationsstudie (clinicaltrials.gov: NCT01907087) folgt jetzt eine Phase-2-Studie (NCT02678689). Für Hannah wird die Zeit langsam knapp – bis BioMarin im besten Fall eine Zulassung der Europäischen Arzneimittelagentur EMA erhält, könnten noch mehrere Jahre vergehen. Deshalb machen ihre Eltern über Medien massiv Druck. Per Online-Petition versuchen sie, das vermeintlich segensreiche Molekül BMN 190 außerhalb des Studienprogramms zu bekommen. Ein Streifzug durch das Arzneimittelrecht zeigt, welche Möglichkeiten es in Deutschland gibt, sollte der Hersteller zustimmen.

Teilnahme an klinischen Studien

Der einfachste Weg für Patienten wie Hannah wäre, an klinischen Studien der Phase II oder III teilzunehmen. Für jeden Schritt ist die Zustimmung nationaler Behörden und Ethikkommissionen erforderlich. Probanden müssen schriftlich einwilligen – sie werden über etwaige Gefahren aufgeklärt. Handelt es sich wie bei der kleinen NCL2-Patientin um Kinder oder Jugendliche, greift die seit Mitte 2008 gültige EG-Verordnung für Kinderarzneimittel. Das hat mehrere Konsequenzen: Beantragen pharmazeutische Hersteller die Zulassung neuer Medikamente, wird der EMA-Ausschuss für Kinderarzneimittel (Paediatric Committee, PDCO) aktiv. Je nach Situation können PDCO-Experten zum Schutz von Minderjährigen fordern, dass zunächst alle zulassungsrelevanten Studien mit Erwachsenen abgeschlossen werden. Erst nach erfolgreicher Auswertung aller Daten darf der Hersteller pädiatrische Studien durchführen, was zu großen zeitlichen Verzögerungen führt. Handelt es sich um lebensbedrohliche Krankheiten ohne therapeutische Alternative, veranlasst das PDCO alternativ, dass gleichzeitig Studien mit verschiedenen Altersgruppen stattfinden. Als Basis ziehen Behördenvertreter die Leitlinie „E11 – Clinical Investigation of Medicinal Products in the Pediatric Population“ der International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for the Registration of Pharmaceuticals for Human Use (ICH) heran. Gefahren für Leib und Leben durch Krankheiten zählen laut ICH mehr als mögliche Risiken im Rahmen von Studien.

Compassionate Use: Hilfe im Härtefall

Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen, die als „austherapiert“ gelten oder für deren Leiden es keine etablierte Behandlung gibt, müssen nicht zwangsläufig auf Studien oder auf die Zulassung innovativer Pharmaka warten. Nach deutschem Recht sind Härtefall-Programme (Compassionate Use) möglich.

Konnten sich Heilberufler jahrzehntelang allenfalls auf den Paragrafen 34 des Strafgesetzbuchs berufen („rechtfertigender Notstand“), gelten heute etwas klarere Regeln. Im Arzneimittelgesetz, Paragraf 21, Absatz 2, heißt es: „Einer Zulassung bedarf es nicht für Arzneimittel, die (...) unter den in Artikel 83 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 genannten Voraussetzungen kostenlos für eine Anwendung bei Patienten zur Verfügung gestellt werden, die an einer zu einer schweren Behinderung führenden Erkrankung leiden oder deren Krankheit lebensbedrohend ist, und die mit einem zugelassenen Arzneimittel nicht zufriedenstellend behandelt werden können.“ Weiter geht es mit Paragraf 80 AMG. Hier werden Bundesministerien ermächtigt, ohne Zustimmung des Bundesrates entsprechende Verordnungen zu erlassen. Auf dieser Basis entstand die Arzneimittel-Härtefall-Verordnung (AMHV). Paragraf 2 AMHV definiert einen Härtefall als Erkrankung, die „zu einer schweren Behinderung führen würde oder lebensbedrohend ist, nicht mit einem Arzneimittel zufriedenstellend behandelt werden kann, das zum Inverkehrbringen im Geltungsbereich des Arzneimittelgesetzes genehmigt oder zugelassen ist“. Betroffene kommen deutlich leichter an innovative Arzneistoffe: „Im Rahmen eines Härtefallprogramms können Arzneimittel ohne Genehmigung oder ohne Zulassung einer bestimmten Patientengruppe zur Verfügung gestellt werden, wenn ausreichende Hinweise auf die Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels vorliegen und für dieses eine klinische Prüfung durchgeführt wird oder ein Zulassungsantrag bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur, der zuständigen Bundesoberbehörde oder einer für die Zulassung zuständigen Behörde eines Mitgliedstaates gestellt worden ist.“ Für Deutschland nennt Paragraf 77 AMG das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) oder das Paul-Ehrlich-Institut.

Die Arzneimittel-Härtefall-Verordnung gilt nur für Arzneimittel-Härtefallprogramme, also Programme, die zur Behandlung von Patientengruppen dienen, aber nicht für einzelne Personen.

Nehmen Konzerne Patienten in laufende Härtefallprogramme gemäß Paragraf 3 AMHV auf (siehe Übersicht des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte), sind Mediziner verpflichtet, ihre Behandlung umfangreich zu dokumentieren. Die Daten kommen in anonymisierter Form forschenden Herstellern zugute. Sie müssen „jeden Verdachtsfall einer schwerwiegenden Nebenwirkung, der ihnen von den teilnehmenden Ärztinnen und Ärzten mitgeteilt oder ihnen auf anderem Weg zur Kenntnis gebracht worden ist“, dokumentieren und der zuständigen Bundesoberbehörde „unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von 15 Tagen nach Bekanntwerden“ elektronisch mitteilen (AMHV, Paragraf 6). Patienten erhalten alle genannten Wirkstoffe ohne Entgelt. Gesetzliche Krankenkassen übernehmen lediglich weitere Kosten wie ärztliche Honorare oder zusätzlich erforderliches Material. Arzneistoffe, die im Rahmen von Härtefallprogrammen in Deutschland eingesetzt wurden und werden, listet die Tabelle.

Tab.: Beispiele für Härtefallprogramme in Deutschland [www.bfarm.de]
Wirkstoff
medizinische Indikation
Alectinib
bestimmte Formen des nicht-kleinzelligen Lungenkrebses (NSCLC)
Amikacinsulfat
erwachsene Patienten mit nicht tuberkulösen mykobakteriellen Lungeninfektionen durch den Mycobacterium-avium-Komplex (MAC) und mit anhaltend positiven Sputumkulturen trotz Initialbehandlung
Asfotase alfa
Erwachsene mit sehr schwerer Hypophosphatasie
AZD9291
therapieresistente Formen des nicht-kleinzelligen Lungenkrebses (NSCLC)
Brivaracetam
Behandlung Jugendlicher sowie Erwachsener mit Epilepsie ohne zufriedenstellendes Ergebnis der Therapie
Ceftazidim /  Avibactam
Behandlung komplizierter Infektionen mit Gram-negativen Erregern
Cobimetinib
metastasierende Melanome
Emtricitabin/Tenofoviralafenamid
HIV-1-infizierte Erwachsene mit Nierenfunktionsstörung ohne therapeutische Alternative
Midostaurin
bestimmte Formen einer Mastozytose
Pitolisant
Narkolepsie
Rekombinante, humane alpha-Mannosidase (rhLAMAN)
alpha-Mannosidose
Trifluridin / Tipiracil
metastasierende, therapieresistente kolorektale Karzinome
Zanamivir
lebensbedrohliche Influenza-Infektion

Wenn alle Stricke reißen: Individuelle Heilversuche

Existieren bei einem bestimmten Wirkstoff weder Härtefallprogramme noch klinische Studien, bleibt Ärzten die Option, einen individuellen Heilversuch zu unternehmen. Als juristische Rückendeckung haben sie vor allem den Paragrafen 34 StGB („rechtfertigender Notstand“) zur Verfügung. Von der rechtlichen zur wissenschaftlichen Seite: Das aufwendige Procedere beginnt mit Recherchen in der Fachliteratur, um geeignete Studien zu identifizieren. Danach nehmen Mediziner Kontakt mit Herstellern auf. Firmen sind jedoch nicht verpflichtet, Pharmaka abzugeben, die sich noch in der Testphase befinden. Im besten Falle wägen beide Seiten Chancen und Risiken ab. Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Ebola kamen sogar Wirkstoffe zum Einsatz, von denen nur Daten aus tierexperimentellen Studien vorlagen. In anderen Fällen werden Heilberufler deutlich vorsichtiger sein, sollten keine relevanten Daten aus frühen klinischen Studien vorliegen. Feste Regelungen zur Kostenübernahme gibt es nicht.

Off label verordnet: Die Zulassung überschritten

Anders ist die Sachlage bei der Off-label-Anwendung zu bewerten, die besonders in der Onkologie recht häufig ist. Zum Hintergrund: Personalisierte Therapien orientieren sich nicht mehr – wie klassische Chemotherapien – am betroffenen Organsystem. Vielmehr entscheiden Ärzte anhand biologischer Marker, ob sie beispielsweise einen speziellen Inhibitor verwenden. Hersteller sind verpflichtet, Anwendungen jenseits der Zulassung zu dokumentieren und falls erforderlich Behörden gegenüber zu melden. Sie verpflichten sich im Rahmen der Paragrafen 84 ff AMG („bestimmungsgemäßer Gebrauch“) zur arzneimittelrechtlichen Haftung.

Ärzte werden in ihrer Therapiefreiheit prinzipiell nicht eingeschränkt. Um später den Vorwurf eines Behandlungsfehlers zu vermeiden, sollten sie zu Beginn die medizinische Begründung und das Einverständnis ihrer Patienten dokumentieren. Weitere gesetzliche Grundlagen, die Off-label-Anwendungen legitimieren oder unterbinden, existieren ansonsten weder im AMG noch im V. Sozialgesetzbuch. „Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen“, heißt es in Paragraf 2 Absatz 1 SGB V. Gesetzliche Krankenkassen argumentieren, Arzneimittel würden erst durch ihre Zulassung erstattungsfähig. Höchstrichterliche Urteile relativieren diese Einschätzung zumindest teilweise.

Der ökonomische Aspekt: Kassen zur Kasse gebeten

Übernehmen pharmazeutische Hersteller die Kosten nicht, müssen Patienten mit hohen Summen rechnen. Sie fragen sich, in welchen Fällen Krankenversicherungen zur Erstattung verpflichtet sind. Hier greifen mehrere Grundsatzentscheidungen.

Laut Bundessozialgericht (B 1 KR 37/00 R) sind GKVen nicht verpflichtet, Verordnungen außerhalb der Indikation zu erstatten. Als Ausnahmen nennt das Urteil schwerwiegende Erkrankungen, bei denen keine andere Therapie verfügbar ist. Gleichzeitig muss begründete Aussicht auf kurativen oder palliativen Erfolg bestehen. Der Nachweis geschieht über Anträge auf Zulassungserweiterung, Ergebnisse aus Phase-III-Studien, anderweitige wissenschaftliche Daten oder über sonstige Veröffentlichungen. „Es genügt nicht, dass der Einsatz des Arzneimittels (nur) darauf gerichtet ist, die weiteren Auswirkungen der Erkrankung beziehungsweise ihrer Behandlung abzumildern“, präzisierte das BSG (Az.: B 6 KA 48/09 R).

Auch das Bundesverfassungsgericht hat richtungsweisende Urteile gesprochen (1 BvR 347/98). Im Mittelpunkt des sogenannten „Nikolaus-Beschlusses“ vom 6. Dezember 2005 stand ein Patient mit Muskeldystrophie des Typs Duchenne. Er wollte erreichen, dass seine Krankenversicherung Bioresonanztherapien erstattet, was diese abgelehnt hatte. Das BVerfG erkannte in der Verweigerung einen Verstoß gegen Grundrechte und gegen das Sozialstaatsprinzip. Ausschlaggebend war Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz (allgemeine Handlungsfreiheit) in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 (Sozialstaatsprinzip) und Artikel 2 Absatz 2 (Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit).

Von einem Freifahrtschein ist das Urteil aber weit entfernt. Laut BVerfG gelten drei Voraussetzungen:

  • Die Erkrankung muss lebensbedrohlich sein beziehungsweise regelmäßig tödlich verlaufen.
  • Allgemein anerkannte medizinische Standards zur Behandlung gibt es nicht. Und:
  • Die vom Versicherten gewählte Therapie muss zumindest eine vage Aussicht auf Heilung oder Linderung bieten.

Anfang 2012 versuchte die Regierung mit ihrem GKV-Versorgungsgesetz Argumente des Urteils aufzugreifen. Im neuen Paragrafen 2 Absatz 1a SGB V heißt es dazu: „Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder in der Regel tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, können auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.“

Richtern geht die Arbeit trotzdem nicht aus. An Kriterien des SGB V scheiterten 82,2 Prozent aller Hauptsacheverfahren, berichtet die Ruhr-Universität Bochum. Bei 34,7 Prozent wurde der einstweilige Rechtsschutz abgelehnt. In den letzten Monaten gaben Richter grünes Licht zum Einsatz allogener Blutstammzellen bei akuter myeloischer Leukämie (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Az.: L 4 KR 3748/13), zur Behandlung chronischer Schmerzen durch Morbus Bechterew mit Dronabinol (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Az.: L 4 KR 276/15 B ER) oder zum Einsatz von Avastin bei rezidiviertem Glioblastoma multiforme (Sozialgericht Nürnberg, Az.: L 5 KR 343/13).

Kein Anspruch, aber viele Möglichkeiten

Bleibt als Fazit für die kleine Hannah: BioMarin ist keineswegs verpflichtet, seinen innovativen Arzneistoff BMN 190 vor der Zulassung abzugeben. Hätte der Konzern aber den Wunsch, stünden viele Wege offen: über Studien, Härtefallprogramme oder über individuelle Heilversuche. |

Autor

Michael van den Heuvel studierte von 1993 bis 1999 Chemie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und hat anschließend ein journalistisches Aufbaustudium absolviert. Neben wissenschaftlichen Themen schreibt er auch zu gesundheitspolitischen, rechtlichen und technischen Fragestellungen. Michael van den Heuvel ist seit 2015 als freier Autor für die DAZ und für DAZ.online tätig.

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